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anderen Kontexten zudem darauf verwiesen, dass die Institution der Fehde nicht nur
zerstörerisch gewesen sei. Sie habe im Gegenteil die gesellschaftliche Funktion ge-
habt, den Frieden aufrechtzuerhalten. Außerdem hat Burke Elias‘ lineare Sichtweise
auf die Geschichte kritisiert: Er habe die gegen den allgemeinen Trend zu strengerer
Selbstbeherrschung gerichteten Reaktionen nicht erwähnt.
23
Noch schwerer wiegen
die Einwände, die man gegen den konzeptionellen Rahmen von Elias‘ Buch vorbrin-
gen muss, vor allem gegen seine offensichtliche Gleichsetzung der Zivilisation mit
der westlichen Zivilisation. Um zu zeigen, wie relativ bestimmte Konzepte der „Zivi-
lisation“ sind, kann man Elias‘ Lieblingsbeispiel, das Taschentuch, verwenden: Die
kanadischen Indianer waren entsetzt darüber, dass die französischen Jesuiten-Missi-
onare Taschentücher benutzten, um sich die Nase zu putzen. Ihrer Ansicht war diese
Sitte unrein. Hans Peter Duerr geht sogar noch weiter und behauptet, dass jede Kultur
in dem Sinne zivilisiert ist, dass sie ihre eigenen Verhaltensregeln hat, ihre eigenen
Formen der Selbstbeherrschung. Man kann sich kaum eine radikalere Kritik am
„Mythos vom Zivilisationsprozeß“ vorstellen, obwohl Duerrs
24
Ausführungen letzt-
endlich nicht so vernichtend sind, wie sie aussehen – Elias beschrieb nicht die Er-
setzung der Anarchie durch Ordnung, ob nun am Esstisch oder anderswo, sondern die
Entwicklung strengerer Verhaltensregeln in bestimmten Bereichen.
Noch ein paar Anmerkungen zum Fall Höffgen
von Ralf-Peter Fuchs
Die intensive Arbeit mit Quellen führt direkt in die Forschung. Natürlich gilt dies
auch im Hinblick auf die Akten des Reichskammergerichts, zu deren Erschließung
die Deutsche Forschungsgemeinschaft in den letzten Jahrzehnten erheblich beigetra-
gen hat. Diese Initiative hat uns einen wertvollen Überblick und zahlreiche Informa-
tionen über die Nutzung der Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit verschafft.
Der direkte Blick in das handschriftliche Material bringt jedoch immer noch zahl-
reiche Details hervor, die unsere Kenntnisse über diese Epoche erweitern. Zeitgenös-
sische Praktiken des „Erzählens vor Gericht“ lassen handelnde Menschen vor unse-
rem inneren Auge auftauchen. Gleichzeitig werden narrative Strategien erkennbar,
die uns zu quellenkritischen Überlegungen führen.
23
Burke, Peter: S. 64.
24
Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß in 4 Bänden. Frankfurt a. Main, S. 188.
47
Die hier veröffentlichten Beiträge sind aus zwei Hauptseminaren an der Universität
Duisburg-Essen hervorgegangen, in denen Studierende in die Techniken des Lesens
des handschriftlichen Materials und des Interpretierens derartiger Gerichtsquellen
eingeführt wurden. Dabei wurde deutlich, dass sich der Fall Höffgen in einer Welt er-
eignet hat, die für uns in vielfacher Hinsicht fremd ist. Andererseits ist der Raum
Monheim-Hitdorf, in dem sich seit 1609 überaus viel verändert hat, nicht weit von
uns entfernt. Die Verfasser der vorliegenden Beiträge haben sich „vor Ort“ umge-
sehen und mit einem kundigen Historiker aus der Region darüber ausgetauscht. Das
Studium alter Karten und der Angaben in den Gerichtsprotokollen haben das Terrain
bei der Suche nach dem „Tatort“ eingrenzen lassen. So sind zu den Textbeiträgen,
die exemplarisch den Wert des Materials offen legen und einige Forschungs-
perspektiven aufzeigen, noch einige Fotos hinzugekommen, die dazu beitragen, den
Fall zu dokumentieren.
Die Akten der Vorinstanzen im Fall
Höffgen waren zum Zeitpunkt, als wir
begannen, uns einzuarbeiten, noch im
Original versiegelt, so dass wir die
Ersten waren, die nach Jahrhunderten
die Texte, zum großen Teil Zeugen-
verhöre, zu Gesicht bekamen. Wir
werden voraussichtlich im Rahmen
einer neu gegründeten Reichskam-
mergerichts-AG noch einige Trans-
kriptionen herstellen und diese über
die Webpage des Lehrstuhls für
Landesgeschichte der Rhein-Maas-
Region der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. In diesem Zusammenhang sei Frau
Dr. Martina Wiech und den Mitarbeitern des Landesarchivs NRW (Abt. Rheinland),
für die unbürokratische Hilfe bei der Bereitstellung des Materials und die Führung im
Archiv gedankt. Ebenso danken wir Herrn Michael Hohmeier, Stadtarchivar in
Monheim, für den fruchtbaren Gedankenaustausch, darüber hinaus allen an der
Erschließung der Quellentexte beteiligten Studierenden im Wintersemester 2014/15
und im Sommersemester 2015, die zur Entzifferung zum Teil schwer lesbarer Texte
aus dem 17. Jahrhundert beigetragen haben.
Abb. 1: Arbeitsgruppe Reichskammergericht. Von links
nach rechts: Romina Leiding, Sarah Gharib, Sebastian
Somfleth, Anna Krakowski, Prof. Dr. Ralf-Peter Fuchs.
48
Exemplarische Forschungen zur Handlungsinfrastruktur in zwei
unterschiedlichen Epochen
von Lina Schröder
„Einführung in die Infrastruktur-Geschichte im Rahmen kleiner Forschungen im Ar-
chiv“, so lautete der Titel einer Übung des Fachbereichs Landesgeschichte Rhein-
Maas des Historischen Instituts der Universität Duisburg-Essen, in deren Rahmen
Studierende nicht nur die Möglichkeit erhielten, sich mit den aktuellen Forschungs-
ansätzen der Infrastruktur-Geschichte (ISG) auseinanderzusetzen, sondern zugleich
auch die praktische Arbeitsweise des Historikers im Archiv einzuüben. Im Landes-
archiv NRW, Abteilung Rheinland in Duisburg, wurden nach einer theoretischen
Einführung in die Grundlagen der ISG sowie in die Thematik der beiden von den
Studierenden ausgewählten Beispiele an drei Vormittagen exemplarisch die Bestände
zu zwei Außenseitergruppen durchforstet: Zum einen standen Räuber- und Diebes-
banden im Großherzogtum Berg aus Sicht der Polizeibehörden im 18. Jahrhundert,
zum anderen die Zeugen Jehovas aus der Perspektive der Gestapoleitstelle Düssel-
dorf für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im Fokus der Untersuchung. Die
Dozentin stellte dabei ihre eigene These in den Fokus, dass sich Infrastrukturen prin-
zipiell in Versorgungs- und Handlungsinfrastrukturen unterscheiden lassen. Die Stu-
dierenden gingen infolge davon aus, dass beide besagten Außenseitergruppen von
den jeweiligen Obrigkeiten durch ihr Bestehen und ihre Aktivitäten als eine Art Be-
drohung des eigenen Herrschaftssystems wahrgenommen wurden, welche es mittels
einer entsprechenden Handlungsinfrastruktur zu eliminieren galt. Die Darstellung
und Beschreibung dieser ist das Ziel der nachfolgenden, abgedruckten beiden Bei-
träge.
Der theoretische Überbau
Neben der praktischen Archivarbeit waren die übrigen Seminarsitzungen den theore-
tischen Grundlagen gewidmet, welche in der Forschung und Dokumentation dieser
Anwendung fanden. Basis hierfür waren die im Rahmen der Übung gelesenen Tex-
te,
1
die dort stattgehabten Diskussionen sowie die in der Dissertation der Dozentin
1
Laak, van Dirk: Infra-Strukturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für Historische
Sozialwissenschaft. Bd. 27, H. 3, (2001), S. 367-393; Engels, Jens Ivo/Schenk, Gerrit Jasper: Infra-
strukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld, in: Förster,
Birte/Bauch, Martin: Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart. München 2015,
S. 22-60; Schröder, Lina: Infrastruktur-Geschichte und Landesgeschichte. In: Niederrhein-Magazin, H. 18
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