Rudolf steiner



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Fassung der Begriffe, präzise Stellung der Probleme und klare An-


gabe der Tendenzen, welche die Bestrebungen zur Lösung zu
nehmen haben. Von hohem Interesse ist ein Aufsatz von Eduard
von Hartmann: «Unterhalb und oberhalb von Gut und Böse». In
bezug auf diese beiden Begriffe unterscheidet Hartmann drei ex-
klusive Standpunkte: 1. Den naturalistischen, der einzig und allein
das individuell-egoistische Bedürfnis- und Triebleben zum Aus-
gangspunkte des Handelns macht, die Tendenzen desselben zum
einzigen Moralprinzipe stempelt und jede Regelung desselben
durch die Gesetze der praktischen Vernunft ablehnt. 2. Den mora-
listischen, der die abstrakten Imperative der Vernunft als oberste
praktische Maximen statuiert und jede Art des Handelns, auch
das göttliche, für durch sie gebunden erklärt. 3. Den supranatura-
listischen, der den Willen des gottbeseelten Menschen über die
Vernunftgesetze stellt und behauptet, wenn ein Mensch von den
ewigen Ratschlüssen Gottes so durchdrungen ist, daß er sie zu
seiner eigenen ethischen Triebkraft gemacht hat, dann sei er an
keine Vernunftgesetze mehr gebunden. Diese Ratschlüsse stünden
höher als alle Vernunft. Nur der mittlere Standpunkt kann eine
eigentliche Moral begründen. Der erste und der letzte sind, weil
sie Prinzipien des Handelns aufstellen, die von den Regeln der
praktischen Vernunft verschieden sind, «jenseits von Gut und
Böse», und zwar der erstere «unterhalb», der zweite «oberhalb».
Hartmann charakterisiert nun das Einseitige der drei Standpunkte
und findet, daß sich die beiden wichtigsten Fragen der Ethik, die
der Verantwortung und der Entstehung des Bösen, nur durch eine
Durchdringung der drei Sphären lösen lassen. Der beschränkte
Raum macht es uns unmöglich, in eine kritische Auseinander-
setzung über dieses die wichtigsten Probleme der praktischen
Philosophie behandelnde Thema einzugehen.

Wertvoll an diesem Hefte ist auch der «Jahresbericht über Er-


scheinungen der anglo-amerikanischen Literatur aus der Zeit von
1890 bis 1891» von Friedrich Jodl. Noch haben wir auf den Um-
stand aufmerksam zu machen, daß eine Reihe von philosophi-
schen Erscheinungen der Gegenwart bemerkenswerte Besprechun-
gen erfahren und daß eine Bibliographie philosophischer Schrif-

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ten und eine Inhaltsangabe aus philosophischen Zeitschriften des
In- und Auslandes die einzelnen Hefte dieses Werkes schließen,
das keiner entbehren kann, der sich für die Philosophie der Gegen-
wart interessiert.

Dr. LEOPOLD DRUCKER • DIE SUGGESTION


UND IHRE FORENSISCHE BEDEUTUNG

Vortrag, gehalten in der Wiener juristischen Gesellschaft


am 14. Dezember 1892. Wien 1893

Die Frage nach der forensischen Bedeutung der Suggestions-


phänomene gewinnt mit jedem Tage an Wichtigkeit. Daß Men-
schen mit Hilfe der Suggestion zu Verbrechen verleitet werden
können, zwingt zu einer Berücksichtigung des Hypnotismus in
der Rechtspflege. Auch schon der Umstand darf von der Gesetz-
gebung nicht übersehen werden, daß Handlungen, die dem Zivil-
recht unterstehen, unter einem Einfluß vollzogen werden kön-
nen, der die Verantwortlichkeit und den freien Willensentschluß
bis auf den Nullpunkt herabzusetzen vermag. Mit Recht sagt
Dr. Drucker: «Wie es die Verbreitung der Chemie mit sich ge-
bracht hat, daß heute jeder ohne besondere Schwierigkeiten
Sprengmittel der gefährlichsten Art erzeugen kann, so daß sich
der Gesetzgeber bewogen gefunden hat, ein eigenes Gesetz über
die Erzeugung und den Verkehr mit Sprengmitteln zu schaffen,
so wird die Verbreitung der Lehren über die Suggestion und den
Hypnotismus in einigen Jahren es dahin bringen, daß jedermann
die nicht schwere Kunst des Hypnotisierens erlernt; wird ja heute
bereits in breiten Bevölkerungsschichten das Hypnotisieren als
Sport betrieben, wird ja heute bereits von der Bühne gezeigt, wie
man zu hypnotisieren habe. Ist aber einmal dieses Übel ein-
gebürgert, dann ist die Ausrottung desselben sehr schwer, fast
unmöglich. Es gehört daher zu den Pflichten des Gesetzgebers,
solchen Zuständen vorzubeugen.» In welchem Grade verschie-
dene Länder schon heute nach den bestehenden Gesetzgebungen

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in der Lage sind, die nachteiligen Folgen von Handlungen, die
unter suggestivem Einfluß geschehen sind, als strafbar beziehungs-
weise als ungültig zu betrachten, das stellt Dr. Drucker in sehr
dankenswerter Weise zusammen. Ich habe übrigens die Überzeu-
gung, daß dies noch in weit höherem Maße der Fall sein könnte,
wenn bei Rechtssprechungen mehr der Geist der Gesetze und
weniger der Buchstabe derselben ausschlaggebend wäre, oder bes-
ser gesagt: wenn der letztere dazu benützt würde, besser in den
ersteren einzudringen. Man kann Prozesse erleben, deren Gang
dem Laien ein Schaudern erregt über die Fülle der aufgewendeten
juristischen Sophisterei und den doch der gelehrte Jurist als
schlechtweg naturgemäß erklärt. Fachmännische Bildung erwei-
tert manchmal den Horizont; oft aber engt sie ihn so ein, daß
der Weg von Hamburg nach Altona über Verona genommen wird.

JULIUS DUBOC • GRUNDRISS EINER

EINHEITLICHEN TRIEBLEHRE VOM STANDPUNKTE

DES DETERMINISMUS

Leipzig 1892

Wie in Dubocs übrigen Schriften, so findet man auch in dieser


eine große Zahl trefflicher Ansichten über einzelne Gebiete des
Lebens und der Wissenschaft. Wer Ansprüche stellt, die in die
Tiefen der Wissenschaft gehen und die über den Standpunkt der
modernen rationalistischen Aufklärung hinausgehen, wird aus die-
sem Buche wenig Befriedigung schöpfen. Was ein gebildeter
Mann, ohne Philosoph zu sein, über philosophische Probleme
denkt, ist interessant hie und da im Gespräche zu hören; syste-
matisch zu einem Buche verarbeitet, trägt es den Charakter der
Plattheit und Trivialität. Willkürliches Raisonnement ist eben
durchaus keine Philosophie. Sätze wie dieser: «Wenn man im
Sinne einer ethischen Mechanik lediglich den seelischen Bewe-
gungsapparat ins Auge faßt, so fällt jedes Moment, welches im

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Menschen wirkend ihn in seinem Tun und Verhalten antreibt
und bestimmt, unter die Gesamtrubrik der Antriebe oder Triebe»
(S. 49) besagen über das Wesen der ins Auge gefaßten Sache gar
nichts. Weil aber der Verfasser eine gesunde Beobachtungsgabe
hat, kommt er selbst von unzulänglichen Prinzipien aus zu Er-
kenntnissen, die bemerkenswert sind. Dazu gehören seine Ansich-
ten über den Charakter der Lust- und Unlustempfindungen und
deren Bezug zum sittlichen Handeln. Der Trieb geht als solcher
ursprünglich nicht auf die Herbeiführung einer Lustempfindung,
sondern auf Herstellung des auf einem gewissen Gebiete ver-
lorengegangenen inneren Gleichgewichts des Menschen (S. 55).
«Indem aus der Betätigung des Triebes eine Empfindung der Lust
quillt, die dann als solche vorgestellt werden kann, zur Vorstel-
lung (zur Lustempfindung) wird, beruht diese Vorstellung auf
dem ihr vorangehenden Trieb resp. dessen Betätigung. Insofern
, wenn man
unter wecken soviel wie ins Leben rufen versteht. Dagegen kann
im weiteren Verlaufe die einmal selbständig gewordene Vorstel-
lung der Lust sehr wohl den Trieb wecken, resp. ihn stimulieren,
anspornen, wachrufen» (S. 109 f.). Der Trieb, der auf seine Be-
tätigung geht, ist also das erste; daß er Lust im Gefolge hat, das
zweite. Diese Erkenntnis ist von der allergrößten Wichtigkeit,
denn sie zeigt, daß das Leben zunächst nicht auf die Lust ausgeht,
sondern auf die Herstellung seines gestörten Gleichgewichtes. Erst
die Erfahrung, daß mit der Betätigung eines bestimmten Triebes
eine bestimmte Lust verbunden ist, führt dann dazu, diese Lust
selbst zu suchen und sich dazu der Befriedigung des Triebes zu
bedienen. Dehnt man dieses Gesetz auch auf die sittlichen Triebe
aus, so richtet es sich gegen die eudämonistische Ethik, welche be-
hauptet, daß das Ziel des menschlichen Wollens die Lust sei. Die
Wahrheit ist, daß die Lust sich nur als notwendige Folge an die
Erfüllung unseres Wollens knüpft. Die in dem Kapitel «Trieb
und Lust» (S. 102-163) genommenen Anläufe zu einer Klarstel-
lung dieser Begriffe sind sehr interessant, und es ist nur schade,
daß der Verfasser sie über das Niveau subjektiver Einfalle nicht
zu erheben vermag.

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GOETHES BEZIEHUNGEN

ZUR VERSAMMLUNG DEUTSCHER NATURFORSCHER


UND ÄRZTE IN BERLIN 1828

Nach einem Aktenstück seines Archivs

Seit 1822 halten die deutschen Naturforscher und Ärzte alljähr-
lich eine Versammlung ab, an der die Fachgenossen des In- und
Auslandes teilnehmen. Die Anregung zu dieser Institution ging
von Oken aus. Der Zweck der Versammlungen ist: Austausch von
Meinungen, persönliches Bekanntwerden der Naturforscher mit-
einander und Kenntnisnahme der Versammelten von den Samm-
lungen und wissenschaftlichen Anstalten des Versammlungsortes,
zu dem jedes Jahr eine andere größere deutsche oder österreichi-
sche Stadt auserwählt wird. Goethe mußte diese Einrichtung mit
Freuden begrüßen. Seine Teilnahme war eine besonders rege an
den Versammlungen in München 1827 und in Berlin 1828. Im
ersten Jahre hat Goethes Interesse noch besondere Erhöhung er-
fahren durch den Aufenthalt Zelters in München, der mit dem
der Naturforscher zusammenfiel. (Vgl. Goethes Briefwechsel mit
Zelter, IV, S. 381 ff.) Die Bedeutung der Zusammenkünfte der
Forscher trat Goethe besonders lebhaft vor Augen, als er am
30. Oktober 1827 von seinem Freunde Kaspar Sternberg eine Be-
schreibung der Münchener Veranstaltungen erhielt. «Den Be-
schluß des heurigen Reisezyklus» — schreibt Sternberg — «machte
die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München;
ein bewährter Freund, welchen der König nach seinem Porträt,
das er in Weimar gesehen, sogleich erkannte, wird bei seiner
Rückreise über diesen Verein Nachricht erteilt haben.» Mit dem
«bewährten Freund» ist eben Zelter gemeint. Die Ausführungen
des Briefes machten auf Goethe einen solchen Eindruck, daß er
eine Stelle daraus entnahm, überarbeitete, mit einigen Sätzen ein-
leitete und auf diese Weise folgenden kleinen Aufsatz über die
Bedeutung der Versammlungen deutscher Naturforscher und
Ärzte verfertigte:

«Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur

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zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die ver-


schiedenen Nationen voneinander und ihren Erzeugnissen Kennt-
nis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt
sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist viel-
mehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literato-
ren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn
sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Dieses wird aber
mehr durch Reisende als durch Korrespondenz bewirkt, indem ja
persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt, das wahre Verhältnis
unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.

Schaue man also nicht zu weit umher, sondern erfreue sich


zuerst, wenn im Vaterland sich Gesellschaften, und zwar wan-
dernde, von Ort zu Ort sich bewegende Gesellschaften hervortun;
weshalb denn uns die Nachricht eines würdigen Freundes von
dem letzten in München versammelten Verein der Naturforscher
höchst erwünscht gewesen, welche folgendermaßen lautet:

Deutschen den Mangel einer Hauptstadt, in welcher von Zeit zu
Zeit die Naturforscher zusammentreffen könnten, um sich über
alles, was dem Fortschreiten der Wissenschaften frommt oder als
Hindernis im Wege steht, zu besprechen. Ja, es gewähren diese
gesellschaftlichen Wanderungen aus einem deutschen Hauptort in
den ändern noch den größeren Vorteil, daß man in den Sammlun-
gen eines jeden Neues vorfindet und durch Vergleichung des
schon Gesehenen von der Richtigkeit der gefaßten wissenschaft-
lichen Bestimmung überzeugt wird. Größer ist vielleicht noch
der Vorteil, daß Menschen, die sonst unerkannt oder wohl gar
verkannt durch ihr ganzes Leben nebeneinander einhergegangen
wären, sich nun als Wissenschaftsverwandte aufsuchen und ein
Verhältnis zueinander gewinnen, statt einander zu bekritteln und
schmählustig zu rezensieren. Das Wichtigste endlich ist wohl dies,
daß die Staatsmänner, welche durch andre oder persönlich an die-
sen Versammlungen teilnehmen, zu der Überzeugung gelangen,
daß es mit dem redlichen Forschen auch wirklich ehrlich gemeint
sei. Die im künftigen Jahre zu Berlin abzuhaltende Versammlung
wird wahrscheinlich die Brücke bilden, um aus nördlichen und

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östlichen Staaten verwandte Naturforscher heranzuziehen. So hätte
dann das Wandern abermals einen schönen, heilsamen Zweck
erreicht. Der Himmel gönne dem wissenschaftlichen Streben in
unserm deutschen Vaterland noch lange Friede und Ruhe, so wird
sich eine Tätigkeit entfalten, wie sie die Welt nur in einem Jahr-
hundert nach Erfindung des Druckes bei weit geringeren Hilfs-
mitteln erlebt hat.>»

Die Stelle: «Am erfreulichsten erscheint — Hilfsmitteln erlebt


hat» ist mit Ausnahme einiger Goethescher Abänderungen gleich-
lautend mit einem Teile des Sternbergschen Briefes (Vgl. Brief-
wechsel zwischen Goethe und Sternberg, S. 178 f.). In seinem Ant-
wortbriefe vom 27. November 1827 an Sternberg schreibt Goethe:
«Wenn ich schon von manchen Seiten her verschiedentliche
Kenntnisse erlangte von dem, was in München vorgefallen, so
betraf doch solches mehr das Äußere, welches denn ganz stattlich
und ehrenvoll anzusehen war, als das Innere, die Mitteilungen
nämlich selbst... Um so erwünschter eben ist es mir, aus zuver-
sichtlicher Quelle zu vernehmen: daß wenigstens der Hauptzweck
des näheren Bekanntwerdens und zu hoffenden wahrhaften Ver-
einigens unserer Naturforscher nicht verrückt worden. Schon daß
man sich über den Ort vereinigt, wo man das nächste Jahr zu-
sammenzukommen gedenkt, gibt die besten Hoffnungen, und ge-
wiß ist die Versammlung in Berlin unter den Auspizien des all-
gemein anerkannten Alexander von Humboldt geeignet, uns die
besten Hoffnungen einzuflößen» (Briefwechsel mit Sternberg,
S. 180 f.). Diese Versammlung in Berlin brachte zwei für Goethe
wichtige Tatsachen. Von zwei bedeutenden Naturforschern wur-
den in öffentlichen Reden Goethes Verdienste um die Naturwis-
senschaft in warmen Worten anerkannt. Alexander von Humboldt
hielt die Eröffnungsrede. Er gedachte auch der abwesenden Natur-
forscher und darunter Goethes mit den Worten: «Wenn ich aber,
im Angesichte dieser Versammlung, den Ausdruck meiner per-
sönlichen Gefühle zurückhalten muß, so sei es mir wenigstens
gestattet, die Patriarchen vaterländischen Ruhmes zu nennen,
welche die Sorge für ihr der Nation teures Leben von uns ent-
fernt hält: Goethe, den die großen Schöpfungen dichterischer

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Phantasie nicht abgehalten haben, den Forscherblick in alle Tie-
fen des Naturlebens zu tauchen, und der jetzt in ländlicher Ab-
geschiedenheit um seinen fürstlichen Freund wie Deutschland um
eine seiner herrlichsten Zierden trauert» (Isis, Bd. XXII, S. 254).
Und Martius, der Münchener Botaniker, sagte an einer Stelle seines
Vortrages «Über die Architektonik der Blumen» im Hinblick auf
Goethes «Metamorphose der Pflanzen»: «Vor allem bemerke ich,
daß die Grundansicht, welche ich hier vorzulegen mir die Ehre
gebe, nicht etwa bloß das Resultat meiner Forschungen ist, son-
dern daß sie teilweise wenigstens von vielen bereits angenommen
worden und überhaupt das Resultat jener morphologischen An-
sicht von der Blume ist, die wir unserem großen Dichter Goethe
danken. Alles ruht nämlich auf der Annahme, daß in der Blume
nur Blätter seien (daß Kelch, Staubfäden, Krone, Pistill nur Mo-
difikationen der pflanzlichen Einheit darstellen) oder daß das
Blatt diejenige Einheit sei, mit der wir rechnen können» (Isis,
Bd. XXII, S. 334). Goethe schenkte denn auch den Vorgängen in
Berlin eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Ein im Goethe-
Archiv noch vorhandenes Heft ist ein Beweis davon. Wir finden
in demselben einen Teil der auf die Versammlung bezüglichen
gedruckten Aktenstücke zusammengeheftet. Es sind folgende:
«Übersichtskarte der Länder und Städte», welche Abgeordnete zu
der Versammlung gesendet haben; eine «Benachrichtigung an die
Mitglieder» über die einzelnen Veranstaltungen bei der Versamm-
lung*; das «gedruckte Verzeichnis der Teilnehmer mit deren
Wohnungsnachweis»; das Programm der Eröffnungsfeier im Kon-
zertsaale, die Zelter leitete und bei der Kompositionen von
Mendelssohn, Zelter, Flemming, Rungenhagen und Wollank zum
Vortrag kamen; die Eröffnungsrede von Humboldts mit dessen
eigenhändiger Widmung an Goethe: «Herrn Geh. Rat von Goethe

* Einer praktischen Maßregel der Veranstalter sei hier gedacht. Es steht


in der «Benachrichtigung an die Mitglieder»: «Damit von den kostbaren
Stunden des Beisammenseins keine der Erfüllung polizeilicher Vorschrif-
ten geopfert zu werden brauche, hat die wohlwollende Behörde angeordnet,
daß für diesen Fall ausnahmsweise die Meldung durch die Geschäftsführer
genüge. Jedes der Mitglieder ist daher von der Gestellung auf dem Frem-
den-Bureau und der Lösung einer Aufenthaltskarte befreit.»

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unter innigster dankbarster Verehrung A. v. Humboldt»; der Vor-
trag «Über den Charakter der Vegetation auf den Inseln des Indi-
schen Archipels» von C. G. C. Reinwardt, dem Leydener Botani-
ker, ebenfalls mit dessen eigenhändiger Widmung: «Sr. Excellenz
dem Minister v. Goethe aus innigster Verehrung vom Verfasser»;
ein «Verzeichnis eines Systems von Versuchen über die Bestäu-
bung der Pflanzen, angestellt in den Jahren 1821—1828 von
Dr. A. W. Henschel», das der Versammlung vorgelegt worden war;
endlich eine Zuschrift «an die Herren Naturforscher und Ärzte»
von der «Berliner Medaillen-Münze», die Herstellung von Denk-
münzen mit den Bildnissen berühmter Naturforscher betreffend.
Im Anschlüsse hieran befindet sich noch in dem Hefte der er-
wähnte kleine Aufsatz Goethes in Johns Handschrift mit Kor-
rekturen zum Teil von Goethes eigener, zum Teil von Riemers
Hand. Er liegt in einem besonderen Umschlage, der (von Ecker-
manns Hand) die Aufschrift trägt: «Naturforscher in Berlin». Als
letztes Stück des Heftes ist eine Nummer: «Notizen aus dem Ge-
biete der Natur- und Heilkunde» vom Oktober 1829 zu verzeich-
nen, mit Nachrichten über die Heidelberger Naturforscherver-
sammlung vom Jahre 1829, als Beweis, daß Goethes Interesse für
diese Zusammenkünfte auch in der Folgezeit ein reges war. Der
Umschlag des Heftes trägt (von Johns Hand) die Worte: «Acta
die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin 1828» und in
der linken Ecke (von Krauters Hand): «Auswärtige Angelegen-
heiten». Erwähnenswert erscheint noch die Mitteilung in dem
Programm der Eröffnungsfeier, daß an den oberen Seiten des
Saales, in dem dieses Fest stattfand, zu lesen ist:

«Es entbrennen im feurigen Kampf die eifernden Kräfte,


Großes wirket ihr Streit, Größeres wirket ihr Bund» Schiller

und «Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln,
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ew'ge regt sich fort in allen:
Denn Alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Seyn beharren will.» Goethe

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Das hier Mitgeteilte ist ein Beleg dafür, daß die Naturforscher-
versammlung vom Jahre 1828 Goethe einen erfreulichen Einblick
gewähren konnte, wie sehr auch seine naturwissenschaftlichen
Bestrebungen auf das deutsche Geistesleben gewirkt hatten.

MODERNE KRITIK

Wie so viele andere habe auch ich während meiner Studienzeit
in Lessings «Hamburgischer Dramaturgie» das Vorbild aller kri-
tischen Kunst gesucht. Im einzelnen, sagte ich mir, haben wir ja
seit Lessing unendlich viel über das Wesen der Künste gelernt;
aber seine Auffassung von dem Berufe des Kritikers hielt ich für
die einzig wahre und echte. Der Geist, von dem seine kritischen
Leistungen durchdrungen sind, schien mir maßgebend für alle Zei-
ten zu sein. Die Tradition der Schule sorgt dafür, daß wir von
solchen Ansichten während unserer Bildungszeit uns gefangen-
nehmen lassen. Als ich mich aber in die modernen psycholo-
gischen Einsichten vertiefte, als ich zu eigenen Anschauungen
über die Natur des menschlichen Geistes mich durchgearbeitet
hatte — da stellte sich mir die Überzeugung meiner Jugend als
Illusion dar. Lessing hat den Sinn, in dem die Poetik des Aristoteles
geschrieben ist, gläubig hingenommen. Wie der Christ der Bibel,
so steht Lessing der Ästhetik des griechischen Denkers gegenüber.
Wenn man die «Hamburgische Dramaturgie» liest, hat man die
Empfindung, daß durch den Reformator der deutschen Kritik
Aristoteles in der Ästhetik zu der Höhe emporgehoben werden
sollte, von der er in der Naturwissenschaft durch Bacon und
Descartes längst herabgestürzt worden war. Je öfter ich diese
Dramaturgie in die Hand nahm, desto stärker wurde in mir das
Gefühl, daß der Geist der Scholastik in ihr wieder auflebte. Die
Scholastiker hatten keinen Blick für die Wirklichkeit, die wahre
unbefangene Betrachtung der Welt ist bei ihnen nicht zu finden.
Dafür vertieften sie sich in die Schriften des Stagiriten und glaub-
ten, alle Weisheit sei bereits in diesen enthalten. Nichts galt

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ihnen die Autorität der Erfahrung, der Beobachtung; desto mehr
aber die des Aristoteles. In Lessings Kunstwissenschaft schien
mir dieser scholastische Geist wieder erstanden zu sein. Durch die
Brille einer alten Überlieferung, nicht mit freiem, naivem Blick
betrachtet er das Wesen des künstlerischen Schaffens. Wer die
moderne naturwissenschaftliche Anschauungsweise in sich aus-
gebildet hat, muß sich von der «Hamburgischen Dramaturgie»
ebenso abwenden, wie er sich von der Philosophie des Thomas
von Aquino abwendet. Von ewigen Kunstregeln, die dem mensch-
lichen Geiste — ich weiß nicht woher — sich offenbaren, spricht
Aristoteles, spricht auch Lessing. Und von solchen Regeln spricht
im Grunde der ganze Chor der Ästhetiker des eben ablaufenden
Jahrhunderts. Sie alle, von Kant bis zu Carriere, Vischer und Lotze
lehren, wie eine Tragödie, wie eine Komödie, wie eine Ballade
beschaffen sein muß. Nicht wie der Botaniker, der das Leben der
Pflanze studiert, beobachten sie das wirkliche Leben der Kunst;
sondern wie ein Gesetzgeber verhalten sie sich, der aus der rei-
nen Vernunft die Gesetze hervorgehen läßt, nach denen sich die
Wirklichkeit richten soll. Das abschreckende Beispiel Vischers
taucht da in meiner Seele auf, der aus der ästhetischen Wissen-
schaft herleitete, wie Goethe seinen Faust hätte dichten sollen.
In solcher ästhetischen Betrachtungsweise lebt nicht eine Spur
echter Psychologie. Diese führt zu der Ansicht, daß eine Ästhetik
wie die des neunzehnten Jahrhunderts ein — Unding ist. In dem
Sinne, in dem es eine Botanik, eine Zoologie gibt, kann es keine
Ästhetik geben. Denn die Pflanzen, die Tiere haben ein Gemein-
sames, das in ihnen allen lebt. Und der Ausdruck dieses Gemein-
samen sind die Naturgesetze. Eine Pflanze ist dadurch eine Pflanze,
daß sie das Allgemeine der Pflanzennatur in sich trägt. Das Kunst-
werk aber entspringt aus der menschlichen Individualität. Und
das Wertvollste an einem Kunstwerk, dasjenige, wodurch es seine
höchste Vollendung erhält, entspringt aus der Eigenart des Künst-
lers, die nur einmal in der Welt vorhanden ist. Ein Kunstwerk ist
um so bedeutender, je mehr es von dem an sich trägt, was sich
nicht wiederholt, was nur in einem einzigen Menschen vorhan-
den ist. Ein Pflanzenindividuum kann nicht originell sein, denn

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es liegt in seinem Wesen, daß sich in ihm die Gattung auslebt.
Ein Kunstwerk von höchstem Range ist immer originell, denn der
Geist, aus dem es entsprungen ist, findet sich nicht ein zweites
Mal in der Welt. Ein Maikäfer ist organisiert wie der andere;
eine genialische Individualität ist nur in einem Exemplar vor-
handen. Es kann keine allgemeinen Kunstgesetze, keine allgemeine
Ästhetik geben. Jedes Kunstwerk fordert eine eigene Ästhetik.
Und jede Kritik, die auf dem Aberglauben aufgebaut ist, daß es
eine Ästhetik gibt, gehört für den naturwissenschaftlich Denken-
den zum alten Eisen. Leider ist fast unsere gesamte Kritik mehr
oder weniger von diesem Aberglauben noch beherrscht. Selbst
diejenigen jüngeren Kritiker, die theoretisch die Ästhetik über-
wunden haben, schreiben meist so, daß man jeder ihrer Zeilen
ansieht: in ihnen schlummert unbewußt doch der Glaube an all-
gemeingültige Kunstregeln.

Nein, so wie jedes wahre Kunstwerk ein individueller, persön-


licher Ausfluß eines einzelnen Menschen ist, so kann jede Kritik
auch nur die ganz individuelle Wiedergabe der Empfindungen
und Vorstellungen sein, die in der Seele der betrachtenden Einzel-
persönlichkeit aufsteigen, während sie sich dem Genüsse des
Kunstwerkes hingibt. Ich kann niemals sagen, ob ein Gedicht
objektiv gut oder schlecht ist, denn es gibt keine Norm des Guten
oder Schlechten. Ich kann nur den persönlichen Eindruck schil-
dern, den das Kunstwerk auf mich macht. Und ich kann als Kri-
tiker von dem Leser nie verlangen, daß er durch meine Kritik
etwas über den «objektiven Wert» des Kunstwerkes erfahre; son-
dern nur daß er sich für die Art, wie es auf mich wirkt, und für
den Ausdruck, den ich dieser Wirkung zu geben vermag, inter-
essiere. Ich erzähle einfach: dies ist in mir vorgegangen, während
ich das Werk betrachtet habe. Ich schildere einen Vorgang mei-
nes inneren Lebens. Wer sich dafür interessiert, was in mir vor-
geht, während ich eine Tragödie anhöre oder eine Landschaft
betrachte, der wird meine Kritik lesen. Wem meine Empfindun-
gen und Vorstellungen einem Drama, einem Gemälde gegenüber
gleichgültig sind, dem mag ich auch nicht einreden, er erfahre
durch meine Kritik etwas über die Bedeutung des Kunstwerkes.

Alle diejenigen, die ihre Urteile in allgemeinen Ästhetiken nieder-


gelegt haben, konnten auch nichts anderes bieten als ihre indi-
viduellen, persönlichen Meinungen über die Kunst. Aus Vischers
Ästhetik kann niemand erfahren, wie ein Lustspiel beschaffen
sein soll, sondern nur was in Vischers Seele vorgegangen ist,
wenn er ein Lustspiel gesehen oder gelesen hat. Deshalb ist eine
Kritik um so mehr wert, je bedeutender die Persönlichkeit ist,
von der sie ausgeht. So individuell die Empfindungen sind, die
der Lyriker in einem Gedichte zum Ausdruck bringt, so indi-
viduell sind die Urteile, die der Kritiker vorbringt. Nicht weil wir
erfahren wollen, ob ein Kunstwerk so ist, wie es sein soll, lesen
wir eine Kritik, sondern weil es uns interessiert, was die kritisie-
rende Persönlichkeit innerlich durchlebt, wenn sie sich dem Ge-
nüsse des Werkes hingibt. Die wahrhaft moderne Kritik kann
keine Ästhetik anerkennen; ihr ist jedes Kunstwerk eine neue
Offenbarung; sie urteilt in jeder Kritik nach neuen Regeln, wie
das wahre Genie bei jedem Werke nach neuen Regeln schafft.
Deshalb macht diese Kritik auch keinen Anspruch darauf, etwas
Abschließendes, Allgemeinrichtiges über ein künstlerisches Werk
zu sagen, sondern nur darauf, eine persönliche Meinung auszu-
sprechen.

ANTON VON WERNER


(betr. einen Ausspruch desselben gegen die moderne Malerei)

Anton von Werner, der Leiter der Berliner Hochschule für bil-


dende Künste, hat in einer Rede, die er vor kurzem bei der Preis-
verteilung in seiner Anstalt gehalten hat, über die moderne Rich-
tung in der Malerei ein unbarmherziges Verdammungsurteil ge-
fällt. Seine Sätze klingen so, als wenn er künstlich die Augen
geschlossen hätte vor all dem Bedeutenden, das diese Richtung
schon hervorgebracht hat, und vor all den Keimen, die für die
Zukunft noch manches Große versprechen. Von Werner vertei-

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digt die Tradition, das Bewährte gegenüber dem Suchen nach
neuen Schaffensweisen. Es scheint, wie wenn er das Alte, das Her-
gebrachte auch da verteidigen wollte, wo es in absteigender Ent-
wickelung zur Schablone, zum seelenlos Formellen geführt hat.
Er blickt auf den Zeitraum des letzten Vierteljahrhunderts zu-
rück und findet, daß in dieser Zeit überhaupt entweder nichts
Neues geschaffen worden ist, oder daß das Neue nicht gut ist.
Von Werner macht sich die Sache leicht. Er rechnet bloß das
Schlechte zu dem Neuen, das Gute dagegen zu dem Alten. Das
trifft zwar die Sache nicht, denn wer solches behauptet, dem müs-
sen die Organe fehlen für den frischen, freien, von der Tradition
unabhängigen Zug der modernen Malerei. Aber es ermöglicht,
über die Abgeschmacktheit, Häßlichkeit und den Dilettantismus
der neuen Richtung kräftige, volltönende Zornesworte zu sprechen.

JACOB BURCKHARDT


Gestorben am 8. August 1897

Ein Mann mit den seltensten Geistesgaben ist in diesen Tagen


aus dem Leben geschieden. Jacob Burckhardt, der unvergleich-
liche Darsteller der Renaissance, ist am 8. August gestorben. Er ist
uns gewesen, was wenige Schriftsteller uns sein können. Denn
wenige besitzen die Kraft, mit solcher Größe ein Zeitalter vor
unserer Seele auferstehen zu lassen, wie dies Burckhardt in seinem
Werke «Die Kultur der Renaissance in Italien» (1860) vermocht
hat. Wer dies Buch in der Weise in sich aufgenommen hat, wie
es dies nach seinem Werte verdient, der muß es zu den wichtig-
sten Mitteln seiner Bildung rechnen. In einfachen großen Linien
werden die geistigen Kräfte der Renaissance gezeichnet, plastisch,
mit tiefdringendem Einblick die großen Gestalten geschildert.
Man lebt in den Ideen, in den Empfindungen der gewaltigen
Zeit, wenn man sich in Burckhardts Buch vertieft. Kein Gefühl,
kein Gedanke, keine Ausschreitung erscheint unbegreiflich, wenn

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man den Ausführungen des genialen Mannes gefolgt ist. Er schafft
im besten Sinne des Wortes nach, was die Renaissance erregt, was
sie in Taten ausgelebt hat. Er schildert mit dramatischer Kraft.
Er kennt, was die Zeit, was die Personen der Zeit im Innersten
bewegt. Leute, die Burckhardt als Lehrer kennen, versichern, daß
er im mündlichen Vortrage hinreißend war, daß er vergangene
Zeiten in herrlicher Weise vor den Zuhörern lebendig zu machen
wußte. Wer sich in seine Schriften vertieft, wird das ohne weite-
res glauben und verstehen. Was man von so vielen Historikern
sagen kann, es ist im Grunde der Herren eigner Geist, in dem die
Zeiten sich bespiegeln: auf Burckhardt hat es keine Anwendung.
Er weiß den Geist der Zeiten zu erwecken in seiner ureigenen
Gestalt.

Welch gewaltige Wirkungen Burckhardt auf empfängliche Gei-


ster auszuüben vermochte, das zeigte sich am besten an derjeni-
gen, die er auf Friedrich Nietzsche gehabt hat. Die Zeiten, in
denen die großen Individuen gediehen: sie waren Nietzsches gei-
stige Heimat. Und niemand wußte ihn besser in diese zu führen
als Burckhardt. Wie Nietzsche bei den Darlegungen des großen
Historikers auflebte, wie er bei ihm die Geistesluft fand, die er
am liebsten atmen mochte, das hat er mit Worten höchster Be-
geisterung anerkannt. Daß er in Basel, als er als junger Professor
in diese Stadt kam, Jacob Burckhardt fand und sich freundschaft-
lich an ihn anschließen konnte, rechnete Nietzsche zu den guten
Geschenken, die ihm vom Schicksal gegönnt waren. Und die Art,
wie Burckhardt dem jungen Genie entgegenkam, spricht für den
großen Zug in seiner Persönlichkeit. Er hatte von Anfang an die
richtige Empfindung davon, welche geistige Kraft in dem jungen
Philosophen sich an die Oberfläche arbeitete. Er verstand ihn
schon damals wie wenige. Es spricht immer für die eigene Größe
eines Geistes, wenn er einen ändern Großen sofort als solchen zu
erkennen vermag.

544


VIKTOR MEYER

Dr. Viktor Meyer, einer der bedeutendsten Chemiker der Gegen-


wart, von dem die Wissenschaft noch vieles erwartete, hat am
8. August seinem Leben ein Ende gemacht. Pie Kunde wirkt er-
schütternd, denn alles, was von dem hervorragenden Forscher in
der letzten Zeit bekannt geworden ist, ließ schließen, daß er mit
voller Kraft dem Ziele entgegenarbeitete, das er öfter als das
nächste der gegenwärtigen Chemie erklärt hat: der Zerlegung der
Stoffe, die man heute als Elemente bezeichnet, in einfachere Ma-
terien. Mit bewundernswerter Arbeitskraft, mit einem großen
Zielbewußtsein ersann er experimentelle Methoden, um die ge-
stellte Aufgabe zu lösen. Wie die Naturkörper zusammengesetzt
sind und welches ihre einfachen Bestandteile sind: diese Fragen
beschäftigten ihn. Sie wollte er durch seine unter den schwierig-
sten Verhältnissen angestellten Laboratoriumsversuche lösen. Die
komplizierte Art, wie sich die einfachen Körper zu den Verbin-
dungen zusammensetzen, mit denen es die organische Chemie zu
tun hat, reizte seinen Forschungsgeist. Daß er neue Stoffe ent-
deckte, die Aldoxime, das Thiophen, erscheint wie eine Begleit-
erscheinung seines Forschens. Dieses selbst zielte darauf hin, die
Konstitution der Materie auf experimentellem Wege zu ergrün-
den. Es ist tief bedauerlich, daß er sich genötigt sah, seine schöne
Arbeit einzustellen. Es ist viel zu tun auf dem Felde, das er zu
dem seinigen gemacht hat.

DARWINISMUS UND GEGENWART

In diesen Tagen wurde in den Zeitungen erzählt, daß den Darwin-
Enthusiasten, die vor drei bis vier Jahren daran gingen, Sammlun-
gen zu einem Denkmal für den großen Naturforscher einzuleiten,
durch einen Zwischenfall schlimm mitgespielt worden ist. Das
Denkmal sollte in Darwins Vaterstadt Shrewsbury errichtet wer-
den. Kaum waren die Veranstaltungen zu den Sammlungen ge-

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macht, da erhob sich ein furchtbarer Sturm und warf den Kirch-
turm von Shrewsbury um. Das war ein Wink Gottes für die
Frommen. Es war ihnen geoffenbart worden, daß sie für das
Denkmal des großen Ketzers nichts spenden sollen. Dagegen lau-
fen in Hülle und Fülle die Gelder zum Aufbau des Kirchturms
ein, der sich zum Werkzeug eines höheren Willens hatte her-
geben müssen. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist. Mich
interessiert sie als Symptom für den schroffen Gegensatz, der
zwischen zwei Weltanschauungen in der Gegenwart besteht, zwi-
schen der christlichen und der auf naturwissenschaftlichen Grund-
lagen erbauten modernen Denkweise. Mir fiel der Fall Bautz und
manches andere dabei wieder ein. Bautz ist jener Theologieprofes-
sor in Münster, der in mündlicher Rede auf der Lehrkanzel und
in seinen Schriften die Ansicht vertritt, daß sich Hölle und Fege-
feuer im Innern der Erde befinden und mit den Vulkanen und
Erdbeben im Zusammenhange stehen. So oft die Dinge dieser
Art durch die Presse bekannt werden, kann man an allen Orten
die Rufe der Entrüstung unserer Freigeister, Fortschrittler und
sonstigen «auf der Höhe der Zeit Stehenden» hören. Am liebsten
möchten sie nach der Staatsgewalt rufen und einen Mann, der
Ähnliches wie das Angeführte lehrt, von seinem Posten entfernen
lassen.

Mir drängt sich, so oft ich den Gegensatz der erwähnten zwei


Weltanschauungen gewahr werde, die Frage auf: Mit welchen
Waffen wird hüben und drüben gekämpft? Am meisten zu schät-
zen sind diejenigen Kämpfer, die ihre Waffen am besten schär-
fen. Und gerade in Hinsicht auf die Zurichtung der Kampfmittel
könnten unsere «Modernen» von Männern wie Bautz unendlich
viel lernen. Was Bautz auszeichnet, ist der Mut, die Gedanken zu
Ende zu denken, die sich mit Notwendigkeit aus seiner Welt-
anschauung ergeben. Er spricht die letzten Ideen aus, zu denen er
kommen muß, wenn er die ersten seines Bekenntnisses angenom-
men hat. Seine Art ist weitaus wertvoller als die der liberalen
Theologen, die den Inhalt der christlichen Lehre so verwässern,
daß zur Not sogar der moderne Darwinismus einen Bestandteil
des christlichen Bekenntnisses bilden kann. Aber wie sehr man

546


sich auch Mühe geben mag: nie wird es jemandem gelingen, Ein-
klang zu stiften zwischen der christlichen und der naturwissen-
schaftlich-modernen Weltanschauung. Ohne eine persönliche, weise
Führung der Wertgeschicke, die sich in Zeiten der Not durch
Fingerzeige wie das Umwerfen des Turmes von Shrewsbury an-
kündigt, gibt es kein Christentum; ohne die Leugnung einer sol-
chen Führung und die Anerkennung der Wahrheit, daß in dieser
unseren Sinnen zugänglichen Welt alle die Ursachen der Ereig-
nisse liegen, gibt es keine moderne Denkweise. Nichts Übernatür-
liches greift jemals in die Natur ein; alles Geschehene beruht auf
den Elementen, die wir mit unseren Sinnen und unserem Denken
erreichen: erst wenn diese Einsicht nicht in das Denken allein,
sondern in die Tiefe des Empfindungslebens eingedrungen ist,
kann von moderner Anschauungsweise gesprochen werden. Aber
davon sind unsere «modernen Geister» recht weit entfernt. Mit
dem Denken geht es. Der Verstand der Zeitgenossen findet sich
allmählich mit dem Darwinismus ab. Aber die Empfindung, das
Gefühl, die sind noch durchaus christlich. Das Gemüt vermag aus
dem Inhalt der natürlichen Wirklichkeit nicht jene Erhebung zu
schöpfen, die es aus den Lehren der Religion zu ziehen imstande
ist. Und aus diesem Zwiespalt der «modernen» Geister entspringt
die Mutlosigkeit, die sie davor zurückschrecken läßt, die Konse-
quenzen ihrer Gedankenvoraussetzungen zu ziehen. Wie feige er-
scheint doch das Gerede: daß die Wissenschaft nicht weit genug
ist, um über die letzten Fragen etwas zu sagen gegenüber der
Kühnheit, mit der Dr. Bautz seine Ansicht von Hölle und Fege-
feuer vertritt! Wo sind die modernen Geister, die den Mut haben,
ihre Ansichten zu Ende zu denken? Und die wenigen, die ihn
haben, wie werden sie behandelt! Man denke an die Anfeindun-
gen, die Ernst Haeckel von seinen Fachgenossen erfahren hat, weil
er nicht bei der Feststellung einzelner Tatsachen stehenblieb, son-
dern aus seinen naturwissenschaftlichen Einsichten ein Gebäude
moderner Weltansicht aufbaute.

Charakteristisch für die Art, wie sich unsere klugen Freigeister


zu Männern verhalten, die den höchsten Fragen wacker an den
Leib rücken, sind die Ansichten, die man über Friedrich Nietzsche

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zu lesen bekommt. Daß sich hier einmal einer in die tiefsten
Probleme des Erkennens eingewühlt, daß er nicht innegehalten
hat, bis er in die Untergründe des Daseins gedrungen war, daß er
Jenseitsglauben und Diesseitsverehrung in unvergleichlich großer
Weise einander gegenübergestellt und den Kultus des Diesseits
im höchsten Sinne entwickelt hat: was geht das alles unsere «mo-
dernen Geister» an. Sie kümmern sich überhaupt nicht um seine
Anschauungen, Gedanken, für die er gelebt und gelitten hat, aus
denen ihm alle Wollust des Daseins gequollen ist. Nein, sie er-
freuen sich bloß an dem Dichter Nietzsche. Ich werde gewiß nie-
mandem die Berechtigung abstreiten, sich an den poetischen
Schönheiten der Darstellung Nietzsches zu erheben. Aber nur sich
an diese hängen, scheint mir ein bequemes Mittel, diesen Geist
groß nennen zu dürfen. Nein, ihn sollte niemand groß nennen,
der nicht die tiefgründigen Gedankengänge des «Jenseits von Gut
und Böse» in ihrer vollen Bedeutung würdigen kann. Hier ist
eine Tiefe der Ideen, die vorher in der geistigen Geschichte der
Menschheit noch nie erreicht war. Aber dies ist unseren Modernen
gleichgültig. Sie müßten sich, wenn sie auf diese Urdinge ein-
gehen wollten, für oder gegen diese Ideen aussprechen. Dazu ist
ihr Denken zu untüchtig oder mutlos. Sie berauschen sich dafür
lieber an der Sprache des Zarathustra. Stumpfheit und Lässigkeit
des Denkens: das ist vielfach die Signatur unserer «modernen
Geister». Sie stehen in dieser Beziehung hinter den Frommen zu-
rück, die kein Darwin-Denkmal wollen, weil der Kirchturm ein-
gestürzt ist. Diese Frommen haben eine geschlossene Weltansicht;
die «Modernen» haben meist nur Stückwerk. Dieser Gedanke ent-
steht immer in mir, wenn ich die beiden Weltanschauungen,
Christentum und modernen Naturalismus, aufeinanderstoßen sehe.
Mir gefallen da immer meine Gegner besser als diejenigen, deren
Meinung sich der meinigen nähert. Am wenigsten aber gefallen
mir die vermittelnden Geister: die Theologen, welche Darwin
verteidigen, und die Naturlehrer, die sich für das Christentum
aussprechen. Man muß verwischen, was für jede dieser Anschau-
ungen das Charakteristische ist, wenn man eine solche Vermittler-
rolle spielen will. Gesund ist aber nur das ehrliche und offene

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Fortschreiten bis zu den wahren Konsequenzen einer Meinung,
die man sich gebildet hat. Nur seine ganzen Persönlichkeiten
haben das Christentum groß gemacht; nur die ganzen Persönlich-
keiten werden auch die moderne Denkungsweise zur Kultur-
trägerin machen.

RUDOLF HEIDENHAIN


Gestorben am 13. Oktober 1897

Die Bedeutung zu schildern, welche der vor einigen Tagen ver-


storbene Physiologe Rudolf Heidenhain für seine Fachwissenschaft
hat, gehört nicht zu den Aufgaben dieser Wochenschrift. Nicht
unberücksichtigt aber soll bleiben, daß in dem Breslauer Uni-
versitätslaboratorium Heidenhains Arbeiten gemacht worden sind,
die für jeden wichtig sind, der nach einer allgemeinen Welt-
auffassung Bedürfnis hat. In unserer Zeit des Spezialistentums
dringen die Ergebnisse gelehrter Einzelarbeit nicht leicht in das
allgemeine Bewußtsein der Gebildeten. Diesem Umstände ist es
zum Teile zuzuschreiben, daß Heidenhains Untersuchungen über
das Leben der Zelle auf unsere moderne Weltanschauung nicht
den Einfluß ausgeübt haben, den sie ihrer Natur nach hätten aus-
üben müssen. Allerdings kommt noch etwas anderes dazu, das ich
später erwähnen will.

Unsere Naturauffassung strebt deutlich dem Ziele zu, das Leben


der Organismen nach denselben Gesetzen zu erklären, nach denen
auch die Erscheinungen der leblosen Natur erklärt werden müs-
sen. Mechanische, physikalische, chemische Gesetzmäßigkeit wird
im tierischen und pflanzlichen Körper gesucht. Dieselbe Art von
Gesetzen, die eine Maschine beherrschen, sollen, nur in unendlich
komplizierter und schwer zu erkennender Form, auch im Organis-
mus tätig sein. Nichts soll zu diesen Gesetzen hinzutreten, um
das Phänomen, das wir Leben nennen, möglich zu machen. Sie
sollen es in vielfältiger Verkettung allein imstande sein. Diese

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mechanistische Auffassung der Lebenserscheinungen gewinnt im-
mer mehr an Boden. Sie wird aber denjenigen nie befriedigen, der
fähig ist, einen tieferen Blick in die Naturvorgänge zu tun. Ein
solcher wird erkennen, daß in dem Organismus Gesetze höherer
Art wirksam sind als in der leblosen Natur. Es wird ihm klar
werden, daß nur derjenige solche Gesetze leugnen kann, der sie
nicht sieht. Der tiefer Blickende wird sich mit niemandem gerne
über die Gesetze des organischen Lebens streiten, wie sich der
Farbensehende mit dem Farbenblinden nicht über die Farben
streitet. Ein solcher tiefer Blickender weiß, daß schon in der klein-
sten Zelle Gesetze höherer Art wirksam sind als in der Maschine.

Durch Untersuchungen wie diejenigen Heidenhains gewinnen


die Ideen über besondere Gesetze der Organismen bestimmten
Inhalt im einzelnen. Dieser Forscher hat gezeigt, daß die Zellen
der Speicheldrüsen in lebendiger Tätigkeit begriffen sind, wenn
das Absonderungsprodukt derselben erzeugt wird. Es wird also die
Absonderung nicht durch bloße physikalische Ursachen, sondern
durch das aktive Leben der kleinen Organe bewirkt. Ein Ähn-
liches hat Heidenhain für die Zellen der Niere und der Darm-
wandungen nachgewiesen. Nicht der bloße mechanische Blut-
druck oder die chemischen Kräfte, die in Betracht kommen, sind
allein tätig, sondern besondere organische Triebkräfte. Diese
Triebkräfte können unter bestimmten Bedingungen allein, unab-
hängig von mechanischen Wirkungen arbeiten, unter bestimmten
ändern in Kombination mit jenen ändern.

Charakteristisch für die Denkart der modernen Naturforscher


bleibt es, daß Heidenhain aus seinen Versuchen selbst nicht den
Schluß gezogen hat, daß das Leben der Zellen höheren Gesetzen
gehorcht als die Dinge der unorganischen Natur. Er lebte in dem
Wahne, daß das Eigenleben, das er in den Zellen wahrnahm, sich
doch noch werde aus physikalischen und chemischen Vorgängen
erklären lassen. Man begegnet hier der Anschauungsweise, welche
sogleich in Mystizismus zu verfallen glaubt, wenn sie den Boden
der einfachen Gesetzmäßigkeit verläßt, nach der ein Stein zur
Erde fällt oder nach der zwei Flüssigkeiten sich mischen. Man
glaubt in das Gebiet des Wunders, der Gesetzlosigkeit zu kom-

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men, wenn man aus dem Bereiche der rein mechanischen Natur-
gesetze heraustritt. Dies ist der zweite Grund, warum Heidenhains
Versuche auf die Weltanschauung der Zeit nicht genügend ge-
wirkt haben. Die Naturforscher von heute sind in ihrem Denken
zu feige. Wo ihnen die Weisheit ihrer mechanischen Erklärungen
ausgeht, da sagen sie: für uns ist die Sache nicht erklärbar. Die
Zukunft wird Aufschluß bringen. Sie wagen sich nicht weiter vor,
als sie mit den armseligen Gesetzen der Mechanik, Physik und
Chemie dringen können. Ein kühnes Denken erhebt sich zu einer
höheren Anschauungsweise. Es versucht, nach höheren Gesetzen
zu erklären, was nicht mechanischer Art ist. All unser natur-
wissenschaftliches Denken bleibt hinter unserer naturwissenschaft-
lichen Erfahrung zurück. Man rühmt heute die naturwissenschaft-
liche Denkart sehr. Man spricht davon, daß wir im naturwissen-
schaftlichen Zeitalter leben. Aber im Grunde ist dieses natur-
wissenschaftliche Zeitalter das ärmlichste, das die Geschichte zu
verzeichnen hat. Hängenbleiben an den bloßen Tatsachen und an
den mechanischen Erklärungsarten ist sein Charakteristikum. Das
Leben wird von dieser Denkart nie begriffen, weil zu einem sol-
chen Begreifen eine höhere Vorstellungsweise gehört als zur Er-
klärung einer Maschine.

FERDINAND COHN


zum 50jährigen Doktorjubiläum

Der hervorragende Botaniker Ferdinand Cohn feiert in diesen


Tagen sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum. Die Pflanzenphysio-
logie verdankt Cohn ungeheuer viel. In seinem Institut an der
Breslauer Hochschule wurden bedeutende Arbeiten gemacht und
eine stattliche Zahl von Schülern gebildet. Die Gebiete, denen er
sich vorzüglich widmete, waren die Morphologie und Entwicke-
lungsgeschichte der niederen Pflanzen, die Biologie der Bakterien.
Cohns Schüler rühmen sein vorzügliches Lehrtalent, sein außer-

ordentliches Entgegenkommen gegenüber jüngeren Gelehrten.


Seine schriftstellerische Darstellungsgabe ist eine ungewöhnliche.
In seinen populären Schriften («Die Pflanze») kommt diese seine
Fähigkeit ganz besonders zum Vorschein. Wenige schreiben solche
Schriften in einer so eindringlichen, geschmackvollen und schönen
Sprache. Soweit das bei wissenschaftlichen Schriften möglich ist,
erhebt sich Cohn sogar zu einer kunstvollen, poetischen Darstel-
lung. Ein feiner Natursinn, der in allen seinen Aufsätzen sich ver-
rät, verleiht deren Lektüre einen ganz besonderen Reiz. Sein Auf-
satz «Goethe als Botaniker» gehört zu den Perlen wissenschaft-
licher Abhandlungen. Ferdinand Cohn ist auch ein feinsinniger,
für alles Bedeutende begeisterter Kunstkenner und Kunstliebhaber.

KARL FRENZEL


Zu seinem siebzigsten Geburtstage

Am 6. Dezember feierte Karl Frenzel seinen siebzigsten Geburts-


tag. Ich liebe es nicht, an solchen Tagen die üblichen Geburts-
tagsartikel zu bringen. Aber ich schweige auch nicht gerne, wenn
mein Gefühl sich aussprechen will. Um eine Monographie oder
auch nur eine kurze zutreffende Charakteristik über Karl Frenzel
zu schreiben, bin ich nicht der richtige Mann. Dennoch glaube
ich, daß im gegenwärtigen Augenblicke gerade ich im «Magazin
für Literatur» Karl Frenzel den Geburtstagsgruß dieses Organs
darbringen soll. Er ist mit der literarischen Entwickelung Deutsch-
lands verwachsen wie wenige. Wir Jüngeren stehen zu Schrift-
stellern, wie er ist, in einem ganz eigentümlichen Verhältnis. Wir
haben von ihnen sehr viel gelernt. Wir sind ihnen den größten
Dank schuldig. Wir fühlen das. Und doch können wir nicht ihre
Bahnen gehen. Wir sind ihre ungeratenen Söhne. Die Väter schel-
ten uns. Wir lieben sie, aber wir gehorchen ihnen nicht. Wir sind
ungezogen und verdienen nach ihrer Ansicht die Rute. Aber wir
wünschen, daß unsere Väter sehen mögen, daß aus uns Ungera-

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tenen doch noch etwas wird. Auch von Karl Frenzel möchte ich
wünschen, daß es ihm gegönnt sein möge, an uns noch Freude zu
erleben. Das wird vielleicht etwas lange dauern. Aber daß er es
dann noch miterlebe, das ist es gerade, was ich ihm wünsche.

Ich habe aus Frenzels Essays ungeheuren Nutzen gezogen. Ich


habe mich oft über den richtungsicheren Kritiker gefreut. In diese
Freude mischte sich nur immer etwas wie — Neid. Doch ist Neid
nicht das richtige Wort. Es gibt aber kein besseres. Die Kritiker
seiner Generation wußten von Kindesbeinen an, was sie wollten.
Sie haben «Prinzipien», die sie auf alles anwenden. Wir Gegen-
wärtigen leben von heute auf morgen. Was wir heute glauben,
ist morgen für uns überwunden. Und was wir gestern gesagt
haben, verstehen wir heute kaum mehr. Frenzels Altersgenossen
waren gesetzte Leute, die einen festen Standpunkt hatten, von
dem sie nicht einen Schritt nach rechts oder links abwichen. Wir
springen von Standpunkt zu Standpunkt. Wir sind Suchende,
Zweifelnde, Fragende. Sie hatten eine gewisse Sicherheit. Welches
der rechte Weg in der Kunst, in der Philosophie, in der Wissen-
schaft, in der Politik ist, das wußten sie. Jedes neue Talent konn-
ten sie einreihen. Wir können das alles nicht. Wir wissen fast
nicht mehr, ob ein neues Buch, das wir lesen, bedeutend ist oder
nicht. Wir sehen uns jedes Talent von allen Seiten an, und dann
wissen wir zumeist gar nichts. Wir sind in eine rechte Anarchie
hineingeraten. Über unsere größten Zeitgenossen haben wir jeder
eine andere Meinung.

Selbst wenn wir einig sind in der Verehrung für einen Zeit-


genossen, so streiten wir uns. Der eine sucht in dem, der andere
in jenem seine Bedeutung.

Ich erinnere mich noch, wie ich als Jüngling zu Friedrich


Theodor Vischer aufblickte. Jeder seiner Sätze bohrte sich wie ein
Pfeil in meine Seele. Und jetzt lese ich ihn mit ganz anderen
Gefühlen. Er interessiert mich nur mehr, aber er erwärmt mich
nicht mehr. Er ist mir fremd geworden.

Vielleicht finden es manche pietätlos, daß ich diese Worte als


Geburtstagsgruß dem Siebzigjährigen darbringe. Aber es verbin-
det uns doch etwas, indem wir uns verstehen: das ist gegenseitige

553


Aufrichtigkeit. Wahr wollen wir gegeneinander sein. Wir wollen
uns keine Phrasen vormachen. Wir wollen unseren Vätern sagen,
daß wir sie verehren, daß sie uns die höchste Achtung einflößen.
Aber wir wollen ihnen auch sagen, daß wir andere Wege gehen
wollen. Die Pietät ist gewiß eine Tugend, aber sie saugt die Kraft
aus dem Menschen. Und wir brauchen die Kraft, weil wir neue
Aufgaben vor uns sehen.

Es war eine schöne Zeit, in der Karl Frenzel wirkte; eine Zeit


voll von reifen Ideen, voll von vollendeter Kunst. In sich abge-
schlossene, harmonische Naturen waren diejenigen, mit denen er
die Mannesjahre zugleich erlebte. Sie waren auch deswegen glück-
licher als wir. Sie versprachen sich mehr von ihren Idealen als wir
von den unsrigen. Sie sogen mehr Lebensheiterkeit aus diesen
Idealen. Sie waren eben größere Idealisten. Wir fürchten uns vor
Idealen wie vor täuschenden Trugbildern. Wir sprechen nicht
mehr die beseligenden Worte: die Idee muß doch siegen!

HANS BUSSE • GRAPHOLOGIE UND GERICHTLICHE


HANDSCHRIFTEN-UNTERSUCHUNGEN

Leipzig 1898

Unter dem Titel «Graphologie und gerichtliche Handschriften-
Untersuchungen» hat Hans Busse ein Schriftchen erscheinen lassen
(bei Paul List, Leipzig), das durch Anknüpfung an die Dreyfus-
Angelegenheit ein aktuelles, durch klare Auseinandersetzungen
über das Wesen und die Bedeutung der Graphologie ein tieferes
Interesse zu erregen geeignet ist. Die Zeit ist vorüber, in der man
mit vornehmem Achselzucken über die Berechtigung dieses Wis-
senszweiges zur Tagesordnung übergehen konnte. Zwei bedeu-
tende Seelenforscher, Benedikt und Ribot, haben sich ja auch vor
kurzem dahin ausgesprochen, daß sich in den Schriftzügen der
Charakter der Persönlichkeit ausdrückt. Durch die wissenschaft-
liche, erfahrungsgemäße Erforschung des Zusammenhanges dieser

554


Züge mit dem Gepräge der Persönlichkeit werden sich ebenso
reizvolle wie nützliche Erkenntnisse ergeben. Die Graphologie
muß ein wichtiges Kapitel der Psychologie werden. In viel höhe-
rem Maße als in den Gesichtszügen muß sich der individuelle
Charakter eines Menschen in seiner Schrift ausdrücken. Denn die
Gesichtszüge vermögen sich nur innerhalb von der Natur ge-
steckter Grenzen beweglich zu erhalten, um sich der Wandlung
der menschlichen Natur anzuschmiegen. Die Schrift ist solchen
Grenzen nicht unterworfen. Eine Krisis in der Entwickelung einer
Persönlichkeit wird stets einen Wandel in seiner Schrift nach sich
ziehen. Je freier, selbstherrlicher ein Mensch ist, desto mächtiger
wird er seine Eigenart in der Schrift auszuprägen wissen. Unfreie
Naturen werden gewissen Schriftformen, die ihnen gelehrt wor-
den sind, unterworfen bleiben. Einen Durchschnittsmenschen wird
man immer daran erkennen, daß seine Schrift keine individuelle,
sondern die seines Schreiblehrers ist. Die Schrift ist wie der Stil
der Charakter des Menschen.

EINE NEUE THEORIE DER ERDWÄRME

Beachtung verdient eine neue Theorie der Erdwärme, die Dr.
Otterbein in der «Allgemeinen deutschen Universitätszeitung»
aufstellt. Die Erde ist zwei Bewegungen unterworfen, der Dre-
hung um ihre Achse und derjenigen um die Sonne. Diese Bewe-
gungen hemmen sich zum Teile. Und da auf diese Weise die
durch die Bewegung geleistete Arbeit verlorengeht, muß nach dem
allgemeinen physikalischen Gesetze, wonach aus scheinbar ver-
lorener Arbeit Wärme entsteht, die fortwährend durch Ausstrah-
lung in den Weltraum verschwindende Erdwärme sich erneuern.
Die Erde würde demnach nicht dem Schicksale verfallen, allmäh-
lich sich bis zur völligen Totenstarre abzukühlen, sondern sie
könnte ewig jung bleiben.

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ARTHUR ADLER • DIE PSYCHOLOGIE
DES EXAMEN-KANDIDATEN

Einen höchst interessanten Aufsatz hat Dr. Arthur Adler in der


«Zeitschrift für praktische Ärzte» (Frankfurt 1898, VII. Jahrgang,
Nr. 3) veröffentlicht. Er behandelt die Psychologie des Examen-
kandidaten und bringt außerordentlich Lehrreiches zur Seelen-
kunde bei. Die abnormen Zustände, in denen sich die Seele eines
Prüflings befindet, und die Wirkungen dieser Zustände auf den
ganzen Menschen werden klar und einleuchtend dargestellt. Die
Unterschiede, die sich in bezug auf diese Wirkungen ergeben, je
nachdem der Kandidat einen starken, gesunden oder einen krän-
kelnden, nervösen Organismus hat, werden hervorgehoben. Na-
mentlich die psychologischen Gründe des Selbstmordes bei Examen-
kandidaten sind vortrefflich geschildert.

EMILE RIGOLAGE . LA SOCIOLOGIE


PAR AUGUSTE COMTE

Emile Rigolage hat soeben den zweiten Band seines mit umsicht-


voller Kunst gearbeiteten Auszuges aus Auguste Comtes Schriften
unter dem Titel «La Sociologie par Auguste Comte» heraus-
gegeben (Bibliotheque de Philosophie contemporaine, Paris, Felix
Alcan). Das Buch ist bereits vor 15 Jahren in erster Auflage er-
schienen und von Kirchmann ins Deutsche übertragen worden.
Compte ist ein Denker, den man kennen muß als Beispiel einer
ideenlosen Persönlichkeit. Daß der Inhalt der Philosophie Ideen
sind, davon hat Comte keine Ahnung. In seinem Kopfe blitzen
keine Ideen auf, wenn er die Dinge der Welt betrachtet. Deshalb
ist seine sogenannte Philosophie das Zerrbild alles wahren und
echten Philosophierens. Was sie über die Welt gedacht haben, das
haben die Philosophen aller Zeiten in ihren Werken niedergelegt:
Sie sind stets über das bloße Beobachten hinausgegangen. Dieses
Beobachten ist Sache der Erfahrungswissenschaften. Neben diesen
Einzeldisziplinen hat die Philosophie keine Berechtigung, wenn

556


sie nicht den tieferen, den ideellen Kern der Dinge aufsucht. Aber
Comte weiß nichts von einem solchen Kern. Er ist ohne jegliche
Intuition und Phantasie. Deshalb ist er der Meinung, die Philo-
sophie habe aus Eigenem nichts zu den Einzelwissenschaften hin-
zuzufügen, sondern bloß das zusammenzustellen und in eine syste-
matische Ordnung zu bringen, was durch diese Einzelwissenschaf-
ten erkannt worden ist. Es bedeutet den Bankerott der Philo-
sophie, wenn man im Sinne Comtes philosophiert. Alles, was man
zu wissen braucht, um einen Ein- und Überblick über das ganz
öde und unfruchtbare «System» Comtes zu gewinnen, findet sich
musterhaft in dem oben genannten Auszug zusammengestellt. Der
Verfasser der Schrift hat sich gründlich eingelebt in die Ansich-
ten Comtes und war deshalb imstande, die bezeichnenden Dinge
herauszuheben, auf die es ankommt. Ein solches Zusammenfassen
ist besonders bei Comte schwierig. Denn eben weil leitende
Grundgedanken ganz fehlen, fällt alles auseinander.

Mir scheint, daß das Buch gerade gegenwärtig nützlich werden


kann. Auch andere Philosophen bestreben sich immer mehr und
mehr, der Philosophie einen Charakter zu geben, der sie den
Einzelwissenschaften ähnlich machen soll. Man spricht sogar von
exakter Philosophie. Wohin man kommt, wenn solche Exaktheit
auf die Spitze getrieben wird, kann man bei Comte lernen. Die
Un- und Widerphilosophie ist die Folge. Und da man die Schäd-
lichkeit einer Tätigkeit am besten erkennt, wenn man sie in ihre
Extreme verfolgt und in ihren Auswüchsen beobachtet, so sei
Comtes Philosophieren den Zeitgenossen als abschreckendes Bei-
spiel empfohlen. Sie mögen aus ihm lernen, wie man es nicht
machen soll, wenn etwas Ersprießliches auf diesem Gebiete zu-
stande kommen soll.

Ich habe den Glauben, daß wir doch einer Zeit entgegengehen,


in welcher das philosophische Streben wieder die ihm gebührende
Achtung haben wird. Die unfruchtbaren Versuche Comtes und
anderer mußten gemacht werden, weil man erst irren muß, um
später der Wahrheit beizukommen.

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DAS THEATER DER NATURSCHAUSPIELE

Ein solches hat M.Wilhelm Meyer in der Berliner «Urania» ge-


gründet. Er hat sich soeben über seine Intentionen mit dieser An-
stalt in einem ausführlichen Artikel der Norddeutschen Allge-
meinen Zeitung ausgesprochen (Beilage zu den Nummern vom
8. und 9. April). Sein Grundgedanke ist, daß das Theater das
Nacheinander in der Zeit, das ist Vorgänge im allgemeinen, dar-
zustellen habe. Bisher ist man bloß bei Vorgängen aus dem Men-
schenleben stehengeblieben. Und auch da hat man sich auf einen
Ausschnitt beschränkt. Die Dramen, in denen nicht die Ereignisse
des Liebeslebens den Mittelpunkt bilden, sind nur in geringer
Zahl vorhanden. Meyer ist Bekenner der naturwissenschaftlichen
Weltanschauung, und zwar in der Form, die diese in den letzten
Dezennien angenommen hat. Die Vorgänge, in denen der Mensch
eine Rolle spielt, sind ihm nur ein kleines Glied innerhalb des
großen Schauspiels, dessen Schauplatz der Kosmos ist. Das Leben
des Kosmos in künstlerischer Weise gruppiert, kombiniert, durch
die auf Grund der Naturgesetze arbeitende Phantasie belebt, will
er theatralisch darstellen. Innerhalb dieses großen Ganzen soll der
Mensch mit seinen Schicksalen erscheinen, nicht ausgesondert für
sich. Wie ein Stern entsteht, wie sich auf dem Sterne das unorga-
nische Reich entfaltet, wie sich aus diesem das Pflanzen- und
Tierleben entwickelt, wie auf dessen Grundlage der Mensch ins
Dasein tritt und von ihm abhängig ist: das will Meyer künst-
lerisch veranschaulichen. Das ist eine löbliche, eine schöne Auf-
gabe. Er hat dafür büßen müssen. Seine Kollegen bei der «Urania»
haben ihn aus dem Institute hinausgedrängelt, weil ihnen sein
Wirken zu wenig wissenschaftlich, zu populär war. Er hat nicht
genug langweilige Vorträge gehalten. Er wollte die Wissenschaft
zur Kunst erheben und durch die Phantasie auf das Fassungs-
vermögen wirken. So etwas ist unerhört in deutschen Landen...
Soweit hat Meyer unsere Sympathien. Aber sein Aufsatz hat
mir gezeigt, daß er an dem Fehler all der Bekenner moderner
naturwissenschaftlicher Weltanschauung krankt. Er verkennt, daß
alles außer dem Menschenleben doch minder bedeutend ist als

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dieses. Er bildet sich ein, daß der Mensch ein Körnchen im Welt-
all nur ist und daß es ein kindliches Vorurteil genannt werden
muß, wenn man den Menschen als Endglied und Ziel alles Da-
seins betrachtet. Die modernen Aufklärer nennen solchen Stand-
punkt anthropozentrisch und glauben ungeheuer viel getan zu
haben, wenn sie erklären, daß das Weltall unendlich viel größer
ist als der kleine Mensch. Wir stehen nicht auf diesem Stand-
punkte. Wir sind Anhänger des naturwissenschaftlichen Bekennt-
nisses im modernsten Sinne. Aber so wenig wir an die Vorsehung
im christlichen Sinne glauben, so sehr glauben wir daran, daß
doch im kleinsten Menschenschicksal ein unendlich Erhabeneres
liegt als im Kreislauf von Millionen Sonnen. Und deshalb möch-
ten wir das Theater der Naturschauspiele nicht überschätzen, es
namentlich nicht als eine wichtigere Sache hinstellen als die Dar-
stellung menschlicher Leiden und Freuden. Daß der Mensch sich
erkennt, sich würdigt und sich seiner Bestimmung bewußt wird:
das ist doch das Wichtigste auf dieser Erde. Und das Theater der
Naturschauspiele wird — auch wenn seine Urheber es nicht wol-
len — zuletzt den Menschen zur Erkenntnis des Menschen führen,
das heißt ihm zeigen, daß der ganze Kosmos nur seinetwillen da
ist. Wenn er Einblick in die Erscheinungen und Vorgänge ge-
winnt, die seinem Leben vorhergingen, innerhalb welcher er steht,
wird er seine einzige Stellung in der Welt richtig beurteilen,
wird er zwar nicht mehr glauben, daß Gott seinen eingeborenen
Sohn gesandt hat, ihn von sündiger Schmach zu befreien, wird er
aber einsehen, daß unzählige Himmel da sind, um ihn zuletzt
hervorzubringen und ihn sein Dasein genießen zu lassen.

M. LAZARUS • DAS LEBEN DER SEELE

In Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze
I.Auflage, Berlin 1856; 3. Auflage, 1883-97, 3 Bände

Am 28. Mai feiert M. Lazarus sein 25jähriges Jubiläum als Pro-


fessor an der Berliner Universität. Seine Schüler werden an diesem
Tage gewiß ihres Lehrers gedenken. Man braucht aber nicht sein

559


Schüler zu sein, um diesen seinen Jubiläumstag mitzufeiern. Denn
Lazarus' «Leben der Seele» ist ein Buch, das jeder gelesen haben
muß, der auf Bildung Anspruch machen will. Weite Perspektiven,
große Horizonte sind in diesem Buche allerdings nicht zu finden.
Aber der feine Beobachtungssinn und die eindringliche Darstel-
lungsgabe, die in ihm so wunderbar anmutig sind, wirken wie
eine dramatische Spannung. Man wird gutmütig, wenn man das
Buch liest. Die breite Behaglichkeit, in der es geschrieben ist, tut
dazu das Ihrige. Es wird wenige Bücher geben, bei denen man so
wenig in Aufregung kommt wie bei diesem und bei denen zu-
gleich so viel wirkliche Seelenerkenntnis in uns übergeht. Man
nennt Lazarus auch den Begründer der Völkerpsychologie. Diese
Wissenschaft ist noch zu problematisch, um beim 25 jährigen Pro-
fessorenjubiläum des Begründers über sie etwas sagen zu dürfen.

KARL JENTSCH • SOZIALAUSLESE


Leipzig 1898

Unter diesem Titel hat soeben Karl Jentsch ein Buch veröffent-


licht. Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Denkweise
unserer Zeit auf den Entwickelungsgang der Menschheit führt zu
diesem Begriff. Wie in der übrigen Natur diejenigen Formen sich
erhalten, die sich im Kampfe ums Dasein als die stärkeren er-
weisen, so ist das auch in der geschichtlichen Entwickelung des
Menschen der Fall. Durch Anwendung dieses Begriffes gelangt
man zur Überwindung aller Zweckursachen. In der Natur werden
heute wohl nur zurückgebliebene Geister an Zweckursachen glau-
ben. In den Anschauungen über menschliche Entwickelung aber
scheint diese Vorstellung weniger leicht zu vertilgen zu sein. Das
zeigt sich am klarsten bei dem Autor des genannten Buches. Wäh-
rend andere, wie zum Beispiel Huxley, Alexander Tille und so
weiter, den Fortgang der Menschheit ganz analog dem übrigen
Naturwirken im Sinne des Darwinismus auffassen, glaubt Jentsch

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nicht ohne die Annahme einer zweckmäßigen Einrichtung der
geschichtlichen Tatsachen auszukommen. Man muß aber fest-
halten: Wer eine zweckmäßige Einrichtung in der Natur oder
Menschenwelt annimmt, muß auch an einen weisen Schöpfer die-
ser Einrichtung glauben. Und wer dies tut, fällt zurück in alte
theologische Vorurteile, die durch die darwinistische Weltauffas-
sung überwunden sein sollten. Aber es wird noch lange dauern,
bis die Reste der alten theologischen Vorstellungen aus den Köp-
fen der Menschen verschwunden sein werden. In dieser oder jener
Form werden sie immer noch spuken.

DIE ZULASSUNG DER FRAUEN


ZUM MEDIZINISCHEN STUDIUM

In diesen Tagen haben die Teilnehmer des Ärztetages in Wies-


baden beschlossen, erst dann für die Zulassung der Frauen zum
medizinischen Studium zu stimmen, wenn sich auch die ändern
Fakultäten entschließen, weibliche Kräfte in ihren Schoß aufzu-
nehmen. Also die Medizinmänner sind der Ansicht, daß es weib-
liche Ärzte erst geben soll, wenn es auch weibliche Richter,
Rechtsanwälte und Pastoren gibt. Nun ist das ja zu naiv, als daß
man recht daran glauben möchte, daß eine Versammlung ernster
Männer zu einem solchen Entschluß kommt. Es gibt einen alten
Satz, den gewiß alle die auch kennen, die an der in Rede stehen-
den Beschlußfassung teilgenommen haben, und der diesen Teil-
nehmern nur in der Wiesbadener Luft aus dem Gedächtnisse ent-
schwunden zu sein scheint. Dieser Satz heißt: Alles schickt sich
nicht für alle. Ich kann mir Leute vorstellen, die es ganz gut
fänden, wenn Frauen zum Beispiel Frauenärzte wären, denen aber
doch ein weiblicher Pastor, auf der Kanzel predigend, als komische
Figur erschiene. Aber so etwas ist einfach; und so einfache Dinge
sind wohl den gelehrten Herren in Wiesbaden nicht eingefallen.

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