OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
Die beschwerliche Bewältigung des ab Moskau mehr als 7000 Kilometer langen
Weges forderte ihre Zeit.
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Zwar verkürzte sich die Reise in den zwanzig Jahren zwi
schen den ausgehenden 1870er Jahren und dem Ende des Jahrhunderts allmählich, aber
ein halbes Jahr dauerte sie auch noch in den neunziger Jahren. Die Dauer war individu
ell sehr unterschiedlich, und sie selbst für einzelne, konkrete Reisen nach Osten anzuge
ben,
ist schwierig, weil die Autoren nur selten Daten nennen. Kon
schreibt, er sei am 19.
Mai in Moskau aufgebrochen. Seine vorausgeschickte Feststellung,
die Reise werde sich
ein halbes Jahr hinziehen, kam der tatsächlichen Dauer sehr nahe; Ende August erreich
te sein Konvoi Irkutsk, und rund zwei Monate später, im November, traf er an der Kara
ein.
227
Andere kamen in
den tiefen sibirischen Winter, obwohl sie nicht wesentlich später
aufgebrochen sein konnten. Melkov berichtet von der Überquerung des Baikalsees bei
stürmischem Novemberwetter und von Hunger und Kälte auf dem Weg durch Transbai
kalien. Seine Reise dauerte neun Monate.
228
Frejfel’d erreichte Akatuj sogar erst Ende
Februar oder Anfang März, nach Märschen durch die Winterlandschaft bei 40 Grad Käl
te – wenngleich er seinen Angaben zufolge kurz nach Ostern 1891 in Moskau die Reise
angetreten hatte, also kaum viel später als Mitte Mai.
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Die Logistik, welche die Verschiebung von Tausenden von Verbannten nach Sibirien
(und nach der Verbüßung der Strafe zurück in westliche Gebiete des Reiches) er
forderte, lag im Grunde jenseits der Möglichkeiten der Administration des Ver
bannungssystems. Winterwanderungen, unplanmäßige Aufenthalte und unzureichende
Ausrüstung zeugten von der Überforderung. Allein schon die klimatischen Bedingungen
– ganz zu schweigen von den menschlichen Leiden und den Kosten – hätten Effizienz
geboten. Die russischen, erst recht die sibirischen Winter sind lang und kalt, das Fenster
zwischen Frühjahr und Herbst eng. Der Eisbruch auf den großen Strömen im Frühjahr –
zwischen April und Juni – gab den Startschuss zum Aufbruch. Kennan schreibt, die
Strecke von Tjumen’ nach Tomsk sei zwischen Mai und Oktober befahren worden; die
Fahrten auf dem Dampfer dauerten zwischen sieben und zehn Tagen.
230
bei Jakubovič-Mel’šin auf (etwa M
ELSCHIN
Im Lande I, S. 30) auf; sonst ist stets nur von Etappen die
Rede.
226 K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 69, gibt Streckenlängen an; für die Strecke Moskau-Irkutsk rechnet sie 6400
km aus; von Irkutsk nach Kara oder Nerčinsk waren es aber nochmals gegen 1000 km. Vgl. auch K
ON
Pod znamenem, S. 235, der für die Strecke Tomsk-Krasnojarsk 500 Verst (entspricht 530 km) nennt.
227 K
ON
Pod znamenem, S. 208, 249 und 255–258 (Angaben über Daten).
228 M
ELKOV
Put’, S. 96–98 und 100. Die Temperaturen erreichten Werte von minus 40 Grad Réaumur (1°
Réaumur entspricht 1,25° Celsius).
229 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo, S. 69 und 74–77. Ähnlich erging es Zubkovskij, der auf dem Schlitten durch
Transbaikalien unterwegs war und ebenfalls wahrscheinlich Ende Februar (1882) in Kara eintraf, vgl.
K
ANTOR
S puti, S. 233f. K
ENNAN
Siberia I, S. 399, hebt die Leiden der Marschierenden hervor, die
Wind und Wetter ausgesetzt waren, ohne dafür ausgerüstet zu sein. Ebd., S. 404, zitiert er einen „ho
hen Offizier der Verwaltung des Verbannungssystems“, der dafür plädierte, die Transporte auf die
Sommermonate zu beschränken und die Verbannten in Wagen zu befördern. Mit seinem Vorschlag
sei er aber nicht durchgekommen. Die Humanität dieses Beamten, aber auch überhaupt die Tatsache,
dass er von den Umständen anscheinend doch ziemlich genaue Kenntnis besaß, ist bemerkenswert.
230 K
ENNAN
Siberia I, S. 111. Demgemäß waren drei Dampfer im Einsatz, die pro Navigationssaison auf
dieser Strecke je sechs Fahrten unternahmen. Vgl. auch S
TOLBERG
Pazifik, S. 295f., zur Dampfschiff
fahrt in Sibirien.
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3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Die Wahrnehmung des Raumes und der Landschaft während der Fahrt auf einem
Flussdampfer ist ungleich tiefgreifender als während einer Eisenbahnreise. Nicht alle
hatten ein Auge für die Ufer der Volga und Kama – Jakubovič verkroch sich unter
Deck.
231
Andere rühmten die Schönheit der Landschaft und ließen sich davon berühren.
Martynovskij, der einige Zeit in Einzelhaft in der Festung Schlüsselburg bei St. Peters
burg verbracht hatte, schreibt:
„Gut erinnere ich mich an einen Abend auf der Kama; zum ersten Mal waren wir aus den
stickigen Käfig-Kajüten auf das Deck gelassen worden, das mit einer Bretterwand ver
schlossen war, zur Flussseite hin aber mit einem Drahtgitter. Die Barke glitt lautlos und
langsam über das Wasser; […] Wir schwammen ganz am Ufer, das von Wald bedeckt
war; saubere Luft, das volle Aroma blühender Bäume erfüllte das ganze Schiff … Die
Brust atmet weit und leich t… Wieder möchte man in die Freiheit, wieder möchte man
leben …“
232
Die Verbindung von Ergriffenheit über die Landschaft und dem Gefühl, der Freiheit nä
her zu sein, findet sich immer wieder in den Berichten. Oft wurden die Sträflinge und
Verbannten – ähnlich, wie es Martynovskij schildert – in Gitterkäfigen auf Deck un
tergebracht, wo sie erstmals seit langem wieder an der frischen Luft, außerhalb der Ge
fängnismauern, waren und sich an Bergen, Wäldern und Wiesen satt sehen konnten.
„Nach dem Gefängnis war das Halbfreiheit“
233
, konstatiert Melkov, für den die Schiff
fahrt auch Erholung bedeutete,
234
und Kon meint, das Gefängnis auf dem Wasser sei in
jedem Fall besser als jenes zu Lande.
235
Allerdings blieb auch
die Schiffsreise von Unbill
keineswegs verschont. Der Dampfer, auf dem Frejfel’d bis Tjumen’ fuhr, war dreckig,
die Luft darin schrecklich, und unterwegs brach eine Krankheit aus, die fast alle Häft
linge erfasste.
236
Die Reise nach Osten brachte eine Begegnung mit dem Imperium. Der riesige Raum tat
sich auf, und mit ihm rückten nicht nur die Landschaften, sondern auch deren Bewohner
in den Blick der Katorga-Häftlinge. Die Fahrt auf den fünf Flussabschnitten von Tura,
Tobol, Irtyš, Ob’ und Tom (zwischen Tjumen’ und Tomsk) führte durch wenig durch
drungenes, von indigenen sibirischen Völkern bewohntes Gebiet, die in den Berichten
als Ostjaken oder Samojeden bezeichnet werden.
237
In direkten Kontakt traten die Ver
bannten mit ihnen dann, wenn sie ihnen Fische abkauften – und wenn die Eingeborenen
um Brot oder Tabak bettelten. Wie aus einem Gemälde Il’ja Repins erschien Frejfel’d
231 M
ELSCHIN
Im Lande 1, S. 13.
232 M
ARTYNOVSKIJ
Na katoržnom položenii, S. 211.
233 M
ELKOV
Put’, S. 84.
234 M
ELKOV
Put’, S. 85. Die frische Luft, gutes Essen und Halbfreiheit hätten die vom Gefängnis fahlen
Gesichter wieder gesund aussehen lassen.
235 K
ON
Pod znamenem, S. 213.
236 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo, S. 69f. Frejfel’d, vor der Verhaftung Student der Medizin, sah sich in die Lage
versetzt, als Arzt tätig werden
zu müssen, als auch der mitreisende Feldscher darniederlag.
237 Die Bezeichnung Ostjaken ist heute nicht mehr gebräuchlich. Es handelt sich um das westsibirische,
ugrische Volk der Chanten. Der Begriff Samojeden beschreibt eine ganze Gruppe von subarktischen
Völkern, die zwischen den Ausläufern des Ural und dem Gebiet westlich des Enisej leben (Ural
völker). Bei den bei K
ON
Pod znamenem, S. 219, erwähnten Samojeden dürfte es sich um Selkupen,
Enzen oder Nenzen handeln, die im Gebiet zwischen dem nördlichen Ural und der Enisej-Mündung
leben, also auch rund um den Ob’ und seine Nebenflüsse. Zu den einzelnen Völkern vgl. F
ORSYTH
His
tory, S. 10–19.
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