Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Häftlinge mit den wenigen vom Staat dafür zur Verfügung gestellten Kopeken bei örtli­
chen Bauern Milchprodukte, Brot oder Gemüse erstehen.
261
 Für die „Politischen“ war es 
daher von Vorteil, dass sie – zu Kons und Mel’šin-Jakubovičs Zeiten – die Gruppe in 
ihren Wagen überholen konnten, um eher als diese am Etappenziel einzutreffen. Die 
ugolovnye gingen damals voraus, gefolgt von den Wagen mit Gepäck und mit den Kran­
ken, Alten und Kindern sowie den Privilegierten.
262
 Später bildeten die „Politischen“ die 
Vorhut des marschierenden Zugs, was Melkov sehr zu schätzen wusste, weil er dadurch 
sein eigenes Tempo anschlagen, die Natur genießen konnte und sich nicht mitten in der 
Masse bewegen musste.
263
 Gegen die alles in Beschlag nehmende kobylka hatten sie im 
Etappengefängnis aber keine Chance – der Gefängnishof blieb den Kriminellen vorbe­
halten. Etwas sarkastisch nennt Kon die Szenerie eine „wahrhafte Gefangenenidylle“; er 
und seine „politischen“ Mitreisenden mussten bis zur Dämmerung in ihrem stickigen 
Raum auf das Ende dieses Treibens warten, bis auch sie noch den Hof vor der Nacht be­
treten durften.
264
 Selbst getrennte Schlafräume schützten die „Politischen“ nicht davor, 
zumindest akustisch die wilden nächtlichen Orgien, an denen sich nicht selten auch Sol­
daten des Gefängnisses und der Begleittruppen beteiligten, mitverfolgen zu müssen. 
Wenig erquicklich war vor allem das Los der alleinstehenden Frauen, auf die keine 
Rücksicht genommen wurde – im Gegenteil: Sie galten gleichsam als „Freiwild“.
265
In der Etappe prallten die unterschiedlichen Bedürfnisse der „Politischen“ und der 
Kriminellen aufeinander und konstruierte sich ein gemeinsamer sozialer Raum, den nur 
wenige, aber einprägsame Schnittstellen ausmachten. Eine weitere Schnittstelle, oft kon­
frontativer Art, existierte zu den Begleittruppen unterwegs und zur Wachmannschaft in 
den Transportgefängnissen der größeren Orte und in den Etappengefängnissen. Mehr­
fach probten die „Politischen“ gegenüber der Gefängnisobrigkeit, die sie als unanständig 
empfanden und von der sie sich ins Unrecht versetzt fühlten, den Aufstand und setzten 
sich durch.
266
 An den Etappenorten ging es oft um haarsträubende Missstände – so fehlte 
im Herbst und Winter Holz zum Heizen der Räume, oder es wurden den Frauen keine 
eigenen Aborte zugestanden.
267
 Dazu kam die weit verbreitete Baufälligkeit der Gebäude 
261 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 72, M
ELKOV
 Put’, S. 93, und K
ENNAN
 Siberia I, S. 384f. M
AKSIMOV
 Sibir’ tom 
1, S. 48f., schildert einen solchen „Basar“. (Zu berücksichtigen ist allerdings, wie immer bei Maksi­
mov, dass er mehr als ein Jahrzehnt vor Kon, Jakubovič oder Kennan den Weg in die Katorga beob­
achtet hat.).
262 K
ON
 Pod znamenem, S. 228, 231f. und 236. M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 33, nennt Zahlen: „An Kostgeld 
erhält jeder fast überall in Sibirien zehn Kopeken pro Tag, die Privilegierten fünfzehn. Im westlichen 
Sibirien, wo alles so billig ist, wo ein Laib Weizenbrot fünf Kopeken und ein Topf Milch drei Kope­
ken kostet, reicht dies Geld vollauf, und die Sträflinge leben einen guten Tag. Viele von ihnen haben 
auch in der Freiheit nicht besser gegessen. Doch überschreitet man die Grenze zum Jenissejschen und 
besonders zum Irkutsker Gouvernement, werden die Nahrungsmittel teurer und teurer […]“ Das habe 
regelrecht zu Hungersnöten geführt. Er plädiert für die Abgabe einer einfachen Nahrung durch die 
Etappengefängnisse.   Auch  M
ELKOV
  Put’,  S.   91,   beklagt  sich  darüber,   dass  das   Verpflegungsgeld 
gleich blieb, die Preise für Lebensmittel aber in Ostsibirien kräftig anstiegen; ebenso K
ENNAN
 Siberia 
I, S. 385f., und zusammenfassend K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 82–84.
263 M
ELKOV
 Put’, S. 89. Dadurch war es auch möglich, noch Lebensmittel zu kaufen, ebd., S. 93.
264 K
ON
 Pod znamenem, S. 231.
265 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 24–26 und 36, und K
ON
 Pod znamenem, S. 245–247.
266 K
ON
 Pod znamenem, S. 216 und 223f. Vgl. auch F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 71.
267 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 34f., und M
ELKOV
 Put’, S. 90. 
58


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
und deren ekelerregender Zustand (Dreck, Ungeziefer, schlechte Luft), den sogar höchs­
te staatliche Beamte wie der Generalgouverneur von Ostsibirien scharf rügten – ohne 
dass sich allerdings daran im Laufe der Jahre viel geändert hätte, wie die Quellen nahe­
legen.
268
 Die Schwerfälligkeit der Bürokratie, vor allem aber die korrumpierte Beamten- 
und Wachmannschaft verhinderte dies. Jakubovič beklagt auch den moralischen Verfall 
der Soldaten.
269
 Das Bild von den Begleit- und Wachtruppen, wie es sich in den Berich­
ten der katoržane spiegelt, bleibt aber widersprüchlich. Soldaten und Gefangene kamen 
unterwegs oft ins Gespräch, und die Begleittruppen zeigten sich, gegenüber den „Politi­
schen“, durchaus  hilfsbereit und freundlich; die Stimmung  konnte etwa nach einem 
Fluchtversuch jedoch plötzlich umschlagen.
270
 Die Willkür und Unberechenbarkeit, wie 
sie generell das Verhalten der staatlichen Sicherheitsinstanzen des Zarenreiches kenn­
zeichneten, manifestierten sich hier exemplarisch. Rauere Töne und zuweilen grundlos 
brutales Verhalten verstärkten sich, je näher die Gruppe den Nerčinsker Katorga-Ge­
fängnissen kam.
271
 
Kon, ein differenzierender Beobachter, unterscheidet verschiedene Typen von Offi­
zieren in den Etappengefängnissen. Es gab solche, die nach dem Motto  „vse rovno“ 
(„alles   egal“)   eher   lustlos   ihren   Dienst   versahen;   andere   kompensierten   ihre   Unsi­
cherheit mit Sturheit und Brüllen, womit sie oft erst recht für Aufruhr unter den Partien 
sorgten; ferner skizziert er „Patrioten“, die zumal in den „Politischen“ persönliche Geg­
ner sahen, und „Mitfühlende“, die den  katoržane  sogar das Frühstück in ihren Raum 
brachten.
272
3.2.6. Leiden und Gefühle von Freiheit
Die beschwerliche Bewältigung des Wegs nach Osten war voller Widersprüche; ihre 
Wahrnehmung variiert entsprechend. In düstersten Farben schildert Kennan den Marsch 
der Sträflingsgruppen bei Sturm und Regen, schlammigen Straßen und bitterer Kälte. 
„Deportation by étape  in Siberia is attended by miseries and humiliations of which a 
European or an American reader can form only a faint conception.“
273
 Jakubovičs Urteil 
zielt in eine vergleichbare Richtung; die Berichte Kennans wie auch Jakubovičs über 
Krankheit und Elend auf dem sibirskij trakt und die Mühsal im winterlichen Transbai­
kalien, von der Zubkovskij seinen Eltern schreibt, vervollständigen dieses Bild.
274
 In ih­
268 K
ENNAN
 Siberia I, S. 388, zitiert den Generalgouverneur Anučin, der die Verhältnisse in den Etappen­
gefängnissen als „lamentabel“ bezeichnete. Vgl. auch zusammenfassend K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 80f.
269 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 25, bezogen vor allem auf den Umgang mit Frauen.
270 K
ON
 Pod znamenem, S. 228, M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 229, und K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 69–
72, die von einem Fluchtversuch auf der letzten Strecke, kurz vor Gornyj Zerentuj, und dessen Folgen 
für das Verhältnis zu den Begleitsoldaten erzählt.
271 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 51, und M
ELKOV
 Put’, S. 95. Sibirische Begleitmannschaften galten als la­
scher, was das Tragen der Ketten oder das Rasieren der Köpfe anging, und K
ON
 Pod znamenem, S. 
215, stellt auch eine geringere Aufmerksamkeit fest.
272 K
ON
 Pod znamenem, S. 232f.
273 K
ENNAN
 Siberia I, S. 397 (Zitat) und 399.
274 K
ENNAN
  Siberia I, S. 406f.,  M
ELSCHIN
  Im Lande 1, S. 36–40, und  K
ANTOR
  S puti, S. 234. Vgl. auch 
F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 73; als einstiger Medizinstudent übernahm er zusehends die Rolle eines Arz­
tes und behandelte an den Etappen mitunter sogar Bauern aus den Dörfern der Umgebung.
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