Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Der englische Journalist Harry De Windt, der 1894 ein Schiff von Japan nach Sachalin 
begleitete, zeigte sich zwar erstaunt darüber, wie viele Sträflinge in den vier Zellen Platz 
fanden (797 von 802 Plätzen waren belegt), würdigte aber zugleich die Bedingungen für 
diese. Für die Luftzirkulation sorgten große Ventilatoren, und die sanitären und anderen 
Einrichtungen seien besser als in den Etappengefängnissen entlang des sibirskij trakt.
285
 
Mit dem Etappenweg vergleichbar waren jedoch die Umstände der Konstituierung der 
Katorga-Gesellschaft, zumal nach Sachalin auch nach 1900 zahlreiche  ugolovnye  ver­
schickt wurden. Dadurch, dass die auf dem Fußmarsch immer wieder als erfrischend ge­
schilderte Begegnung mit der Natur ausblieb, war auf dem Schiff die Vorwegnahme der 
im Katorga-Gefängnis üblichen Verhältnisse sogar noch eindeutiger. Die Begegnung 
mit dem russischen Imperium, wie sie die monatelange Zug-, Fluss- und Fußreise quer 
durch den Doppelkontinent brachte, fehlte hingegen praktisch ganz.
3.2.8. Die letzte Strecke
Der Weg nach Osten war eine Reise in die Ungewissheit. Die langsame Annäherung an 
die Katorga öffnete nicht nur geographisch die „andere Welt“; je weiter östlich die 
Gruppen in größeren Städten für eine Woche oder länger Halt machten, desto eher tra­
fen die katoržane auf Ihresgleichen, welche mehr über die Verhältnisse an der Kara oder 
im Nerčinsker Kreis wussten, und desto mehr verdichteten sich die Ahnungen und Ge­
rüchte   von   den   Zuständen   in   der   Katorga   zu   konkreten   Vorstellungen.   Die   großen 
Transportgefängnisse   waren   wichtige   Kommunikationsorte,   wo   Neuigkeiten   ausge­
tauscht, die „Novizen“ des Verbannungssystems instruiert und von wo Nachrichten über 
ganz Russland und bis ins Ausland weitergetragen wurden.
286
  Das Wissen darum oder 
auch nur die Gerüchte darüber, was sie erwarten sollte, machte das letzte Wegstück 
durch Transbaikalien, das ohnehin als besonders beschwerlich beschrieben wird (spätes­
tens dort brach meist der Winter herein), nicht einfacher. Die Stimmung war, wie Mel­
kov berichtet, spätestens ab Čita gedrückt; auch Frejfel’d spricht von Anspannung auf 
der letzten Strecke.
287
 
Beim Übergang von Europa nach Asien am Ural hatte Kon, etwas enttäuscht, fest­
stellen müssen, dass sich nichts geändert habe: dieselben Gendarmen, dieselben Bahn­
höfe, dieselben Menschen.
288
 Viele tausend Kilometer, viele Monate später öffnete sich 
eine neue, die „andere Welt“ der Katorga. An die Ambivalenz des Aufbruchs und der 
Reise fügte sich eine weitere an: die Ambivalenz des Ankommens.
285 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 15–18.
286 Vgl. M
ELKOV
 Put’, S. 94f., der über die Begegnungen im Gefängnis von Irkutsk, wo sein Konvoi zwei 
Wochen Pause machte, berichtet. Auch K
ON
 Pod znamenem, S. 249, betont, wie die Zusammenkünfte 
mit anderen Verbannten ihn glücklich gemacht hätten. Dadurch wurde die Monotonie des Wegs von 
Etappe zu Etappe aufgebrochen. Zeitschriften wurden ausgetauscht, und in den Transportgefängnissen 
wartete Post auf die katoržane; vgl. auch ebd., S. 255f., und F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 76. Zubkovskij 
schildert in seinem Brief an die Eltern bereits, was ihn an der Kara erwarten werde, und stützt sich da­
bei auf Erlebnisberichte, vgl. K
ANTOR
 S puti, S. 235.
287 M
ELKOV
 Put’, S. 97, und F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 76f.
288 K
ON
 Pod znamenem, S. 214.
62


4. Die Welt der Katorga
4. Die Welt der Katorga
Vom Lager des 20. Jahrhunderts gibt es eine Vorstellung. Man muss nicht die Gedenk­
stätte   eines   deutschen   Konzentrationslagers   oder   die   Ruinen   eines   sich   selbst   über­
lassenen sowjetischen Gulag-Lagers besucht haben, um mit ihnen Stacheldrahtzäune, 
Wachtürme, Baracken und Todeszonen verbinden zu können. Akribisch sind sie be­
schrieben worden – in der Literatur, in der Forschung, in den Erinnerungsberichten; 
Photobände dokumentieren die Schrecken von damals und die Begegnung mit der Ver­
gangenheit heute; eindrücklichstes Beispiel dafür ist das vor kurzem erschienene monu­
mentale Werk des polnischen Photographen Tomasz Kizny zum Gulag.
289
 Die Bilder – 
die imaginierten, die photographierten, die mit eigenen Augen heute am Schauplatz von 
damals aufgenommenen – evozieren die Gewalt, die Macht und die Ohnmacht, die die­
sen Orten innewohnen. Aber sie bleiben immer nur Behelf für etwas, was sich dem Au­
genzeugen allein erschließt. Vom Lager gibt es eine Vorstellung, aber was sie bedeutet, 
ist gleichzeitig unvorstellbar.
Die Katorga in den Minen Transbaikaliens und auf der fernöstlichen Insel Sachalin 
ist von anderer Gestalt, anderer Dimension und aus einer anderen Zeit – aus einem lan­
gen Jahrhundert, dessen düstere Seiten sich nicht so sehr in die Erinnerung eingebrannt 
haben wie die Schrecken des darauffolgenden. Sie hat nur ein vages Gesicht, und dieses 
unterscheidet   sich   deutlich   von   den   Lagerwelten.   Auch   aus   dem   ausgehenden   Za­
renreich gibt es Photographien von den Schauplätzen, und in der frühen Sowjetunion 
sind die Stätten von damals dokumentiert worden. Die Photos und Zeichnungen zeigen 
steinerne Gefängnisbauten und hölzerne, einstöckige Blockhäuser, die von Palisaden 
oder Mauern umgeben sind.
290
  Keine Wachtürme, keine Barackenstadt: Katorga-Strafe 
bedeutete Gefängnishaft in einer entlegenen, der „anderen Welt“. 
Die Welt der Katorga lässt sich nicht anhand von Photos aus vergangenen Zeiten re­
konstruieren, aber das Bild illustriert die Schilderungen der Selbstzeugnisse, ergänzt sie 
und macht sie plastischer, gibt ihnen einen anschaulich gemachten Ort, und es erlaubt 
ein zusätzliches  Urteil.
291
  Zentral jedoch bleibt das, was  photographisch nicht  doku­
mentiert werden kann – weder an der Schwelle zum noch im 20. Jahrhundert: die Bezie­
hungsgeflechte zwischen verschiedenen Ebenen von Insassen einerseits und von Gefan­
genen und ihren Bewachern anderseits und die unterschiedlichen Wahrnehmungen von 
den Lebens- und Arbeitsumständen, von Freiräumen und Unterdrückung, von Aufbe­
gehren und Ausbruch. Das Photo vom hölzernen Blockhaus, das in Transbaikalien als 
289 Vgl. K
IZNY
 Goulag. Das Buch stellt die wichtigsten Schauplätze des sowjetischen Gulag-Systems dop­
pelt vor: In zeitgenössischen Bildern, mit denen u.a. zu Propagandazwecken die Verhältnisse in den 
Lagern festgehalten wurden, und in Photographien von heute, die, zusammen mit kurzen Texten, die 
Begegnung mit dem Archipel Gulag und seinen Überresten dokumentieren. Wenngleich mit dem ka­
sachischen Gulag-Schwerpunkt Karaganda-Džezkazgan (Karlag/Steplag) ein zentraler Ort nicht vor­
kommt, ist das gewichtige Werk eine unabdingbare Ergänzung zu Anne Applebaums umfassender 
Gulag-Monographie. 
290 Vgl. eine Auswahl von Photos und Zeichnungen aus der ostsibirischen Katorga im Anhang S. 161ff.
291 K
ITTSTEINER
 „Iconic turn“, S. 159, verweist auf die Warnungen der Bild- und Photohistoriker vor ihrem 
Medium – „die Versuchungen liegen geradezu im Medium selbst, bei dem Schein, Wahrheit und 
Trugschluss dicht beieinander liegen.“ Vgl. generell ebd., S. 156–162, zum Bild als Quelle.
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