Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Gefängnis diente, bildet nur den Rahmen dafür ab; im Unterschied zur plakativeren vi­
sualisierten Vorstellung von den Lagerwelten als dem Ort von Stacheldraht, Kälte und 
Gewalt
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 evoziert es eine eigentümliche Normalität.
Die photographische Annäherung an die Katorga Transbaikaliens (und Sachalins) 
eignet sich für ein Ausleuchten dieser „anderen Welt“ jenseits der revolutionären Rheto­
rik deshalb besonders gut, weil bereits die Irritation über die suggerierte Normalität zur 
differenzierten Betrachtung Anlass gibt. Vor dem Hintergrund des schriftlichen Quel­
lenkorpus, das zur Mehrzahl aus Selbstzeugnissen verurteilter Revolutionäre besteht, ist 
der nüchterne Blick von besonderer Bedeutung. Kaczynska nimmt sich in ihrer Mono­
graphie zwar vor, den „Alltag der ‹Politischen› – jenseits der Legende – ein wenig le­
bendig werden zu lassen“.
293
 Aber weil sie zugleich die politische Verbannung für weit­
gehend „ausgeforscht“ hält und daher quellenmäßig an der Oberfläche bleibt, vermag 
ihre Darstellung nicht viel Differenzierenderes zu leisten. Um den Charakter der Kator­
ga-Strafe zu verstehen und der Gefahr zu entgehen, der revolutionären Rhetorik, Stili­
sierung und Heroisierung der Erinnerungsberichte zu verfallen, lohnt es sich, die Texte 
gleichsam „gegen den Strich“ zu lesen. Nicht die vielfältigen Fortsetzungen des revolu­
tionären Kampfs in der Katorga an sich interessieren primär, sondern die Umstände, in 
denen sie ausgefochten werden, die Rückschlüsse, die sie auf den Strafvollzug zulassen, 
und die überraschenden Facetten des Lebens in der Welt der Katorga, die im Vergleich 
zu dem von der sowjetischen Forschung kolportierten Bild (Kaczynskas „Legende“) zu 
Bedeutungsverschiebungen und neuen Einschätzungen führen. Ohne den Kampf und die 
Leiden ausblenden und leichtfertig relativieren zu wollen, wird die einseitige Betrach­
tung aufgebrochen, um die Welt der Katorga als einen Ort der kommunikativen Wech­
selbeziehungen zwischen verschiedenen Häftlingsgruppen einerseits, zwischen diesen 
und der Gefängnisobrigkeit anderseits und zwischen dem Gefängnis und der Außenwelt 
drittens verständlich zu machen.
294
  Diese Beziehungsfelder bedingen sich gegenseitig 
und lassen sich daher nicht strikt auseinanderhalten. Neben der aufschlussreichen Dar­
stellung wichtiger Alltagsfacetten geben überdies die unterschiedlichen Wahrnehmun­
gen und Verhältnisse in der Männer- und in der Frauen-Katorga Anlass, soweit es die 
Erinnerungsberichte zulassen, auf Geschlechterdifferenz einzugehen, die bisher in der 
Forschung keine Beachtung fand. Zahlen und andere statistische Erhebungen hingegen 
sind in der Folge zweitrangig.
295
292 Der   Schutzumschlag   der   englischsprachigen   Applebaum-Ausgabe   zeigt   genau   dieses   Bild:   einen 
Wachturm, eine Siedlung geduckter Häuser, senkrechte Pfähle, zwischen denen man Stacheldraht ver­
muten kann, in einer schneebedeckten Landschaft unter düsterem Himmel; darunter die Original-Bild­
unterschrift (kyrillisch geschrieben): „Zona OLP’a Ajač-Jaginskich šacht“. Die Abkürzung OLP steht 
für obščii lagpunkt (Allgemeiner Lagerpunkt) – also: „Zone des Allgemeinen Lagerpunkts der Gruben 
von Ajač-Jaginsk“. Vgl. Abb. 8  im Anhang (S. 165).
293 K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 161.
294 Noch  M
OŠKINA
  Katorga, bleibt der sowjetischen Tradition der Ssylka- und Katorga-Historiographie 
treu; bei ihr dominieren Zahlen und andere statistische Daten, und es stehen die traditionellen Themen 
(Leiden, revolutionärer Kampf) klar im Vordergrund. Vgl. die forschungshistorischen Bemerkungen 
dazu im Kap. 1 (Einleitung; S. 5). 
295 Die sowjetische Forschung hat zwar viel mit Zahlen und statistischen Erhebungen gearbeitet, ohne 
aber überzeugendes und verlässliches Material aufzuarbeiten; vgl. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 161, und 
die Ausführungen im Kap. 3.1. (S. 35). 
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4. Die Welt der Katorga
Chronologie, Örtlichkeit und Entwicklung der Katorga in Transbaikalien und auf Sa­
chalin  bilden   sich überlagernde  Untersuchungsebenen;  die  bisherigen Ausführungen, 
vor allem im vorangegangenen Hauptkapitel, haben bereits darauf verwiesen.
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 Die Ge­
fängnisanlagen und die Bedingungen der Unterbringung der politischen Häftlinge kor­
relierten mit den verschiedenen Phasen der Katorga, und je stärker diese anschwoll, de­
sto mehr variierten die Umstände. Die politische Katorga zwischen 1880 und 1890 be­
schränkte sich auf das Kara-Tal und innerhalb dessen zunächst auf Ust’-Kara und Sred­
njaja Kara, ab 1882 ausschließlich  auf Nižnjaja Kara. Ab 1890, dem Zeitpunkt der 
Gleichstellung der kriminellen und der politischen Häftlinge, verteilten sich diese bis 
zur Auflösung der Katorga 1917 auf mehr als ein Dutzend Standorte mit je eigener Cha­
rakteristik im Nerčinsker Kreis. Die Untersuchungen zu den Lebens- und Arbeitsum­
ständen lassen sich nicht von diesem Rahmen trennen, der die äußerlichen Bedingungen 
festschreibt: Trennung von den Kriminellen oder Zusammenleben mit ihnen; Arbeits­
möglichkeiten oder erzwungener Müßiggang; Freiräume, deren Ausfüllung und deren 
Einschränkung. Die Lebensumstände sind aber nicht isoliert voneinander zu betrachten, 
sondern, unter Rücksichtnahme auf die zeitlichen Umstände, nebeneinander zu stellen; 
erst dadurch entsteht ein Gesamtbild vom Leben und Arbeiten in der Katorga. Am Ort 
des Strafvollzugs entfaltete und differenzierte sich der soziale Raum der Katorga, wie er 
sich auf dem Weg nach Osten zu bilden begonnen hatte.
4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
Nichts wäre im Kontext der Katorga-Strafe unpassender als davon zu sprechen, der Weg 
sei das Ziel. Mit dem Aufbruch in St. Petersburg, Moskau oder einer anderen großen 
Stadt im Westen des Reiches begann auch der Prozess des Ankommens, und vielleicht 
erleichterten die beschwerliche Bewältigung der Strecke mit allen positiven und nega­
tiven Sinneseindrücken und die allmähliche Konstituierung der Katorga-Gesellschaft 
den Häftlingen die Ankunft. Sie rechneten bereits mit allem. Aber das Ziel zu erreichen 
und anzukommen, bedeutete gleichwohl mehr als nur eine weitere Episode; die Gefäng­
nisse an der Kara und später im Nerčinsker Kreis signalisierten den endgültigen Eintritt 
in die Welt der Katorga. Wiederum, wie schon vor dem Antritt der Reise nach Osten, 
waren die Gefühle ambivalent, was sich in der bereits zitierten, mehrfach erinnerten 
nachdenklichen   Stimmung   vor   dem   Ende   des   Etappenwegs   und   in   den   ersten   Ein­
drücken bei und nach der Ankunft niederschlug.
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 In der Ungewissheit über das, was die 
Sträflinge erwartete, überwog im ersten Moment die Erleichterung darüber, die Strapa­
zen des Fußmarsches und des allnächtlichen Ortswechsels unter widrigen klimatischen 
Bedingungen hinter sich gebracht zu haben. Feliks Kon schreibt:
„Der Gedanke daran, dass in wenigen Minuten die Gefängnistore für ganze Jahre hinter 
uns zuschlagen [würden], kam uns auch nicht in den Sinn. Im Gegenteil. Wir waren bis 
zu einem gewissen Grad zufrieden, dass wir, endlich, „das Ziel erreicht“ hatten.“
298
296 Vgl. bes. Kap. 3.1.2. und 3.1.3.
297 Vgl. Fußnoten 286 und 287.
298 K
ON
 Pod znamenem, S. 259.
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