OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
liegt. Nie habe er einen so einsamen, so trostlosen, von der übrigen bewohnten Welt so
isolierten Ort gesehen wie Akatuj, schreibt der amerikanische Journalist;
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die Winter
landschaft verstärkte den Eindruck noch. „If there is in Siberia a more lonely, a more
cheerless, a more God-forsaken place than Kará, it is the snowy, secluded valley of
Akatúi“
323
– Kara und Akatuj erscheinen bei ihm als Stätten am Ende der Welt. Ihm
schließt sich V. Čujko an, der zu jener Gruppe politischer Häftlinge aus Kara gehörte,
die Ende 1890 ins wiedereröffnete Gefängnis von Akatuj überführt wurden, um dort un
ter verschärften Haftbedingungen und zusammen mit kriminellen Sträflingen ihre Kat
orga-Strafe zu verbüßen. Auch er schildert es als enges, düsteres Tal. „Rechts vom Weg
hohe Hügel, links – eher abfallende. Das Tal von Akatuj erschien mir, warum auch im
mer, stets düster, auch im Sommer an sonnigen Tagen.“
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De Windts Würdigung der
landschaftlichen Schönheit des Nerčinsker Kreises bezieht Akatuj nicht mit ein. Die ho
hen Berge rundherum schlössen sich beim Eintritt in das verlassene Tal wie eine Falle
über einem, urteilt er eher deprimiert.
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Die Bewertung der landschaftlichen Umgebung mochte auch eine Frage des Stand
punkts sein; Besucher auf Zeit und Vertreter der Gefängnisadministration urteilten
zwangsläufig aus einer anderen Position als Gefangene, für welche die Welt auf lange
Zeit an der Ummauerung der Anlagen endete. Für die Häftlinge war nicht nur die Karg
heit der Hügellandschaft symptomatisch für die Abgeschiedenheit, sondern auch das
raue
Klima mit seinen langen, sehr kalten Wintern und
kurzen Sommern, das
sich in den
kaum isolierten und schlecht gebauten Gefängnisgebäuden vor allem im Winter un
angenehm bemerkbar machte – beispielsweise im Frauengefängnis Mal’cevskaja
(Nerčinsker Kreis).
326
Die Temperatur in den Kammern sank, wie Irina Kachovskaja be
richtet,
auf nahezu null Grad Celsius, Böden, Ecken und Wände vereisten, und die Fens
ter waren im Innern gar mit einer zentimeterdicken Eisschicht überzogen.
327
Das lang an
dauernde Winterkleid und der Frühling, der spät und stürmisch begann, aber die Natur
explodierend erwachen ließ und mit seinen Farben und Düften auf die Gefangenen aus
der
Ferne betörend wirkte, spiegelten sich in den Empfindungen der Häftlinge.
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Diese Wechselwirkung bestand auch bei den Gefängnisbauten, unabhängig von ihrer
Lage und ihren klimatischen Bedingungen. Im Vergleich zu den blockhausartigen, ein
stöckigen Bauten wirkten die steinernen Gebäude besonders mächtig und bedrohlich auf
die Häftlinge, so etwa das Gefängnis von Gornyj Zerentuj, in dessen unmittelbarer Nähe
sich ferner über längere Zeit auch die Verwaltung der Nerčinsker Katorga befand, oder
der weiße Steinbau von Akatuj. Das äußere Erscheinungsbild der Strafanstalt habe die
322 K
ENNAN
Siberia II, S. 287. Er ergänzt: „It might have been a valley among the arctic hills of
Greenland
near the Pole.“
323 K
ENNAN
Siberia II, S. 289.
324 Č
UJKO
God, S. 105.
325 D
E
W
INDT
Siberia, S. 254.
326 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 22. Im Winter sanken die Temperaturen auf bis zu 30 oder 40
Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt.
327 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 78.
328 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 85. Auch D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 231, schildert die Gefühle
beim Anblick der Landschaft, die jenseits der Mauer lag: „Es war nur spärlicher Pflanzenwuchs auf
diesen sibirischen Höhen, aber im Frühling schienen sie uns aus der Ferne ein Paradies und lockten
unbezwinglich zu sich hin.“
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4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
Stimmung hinter den Mauern geprägt, schreibt Vladimir Pleskov über Zerentuj um 1910
– eine durchaus suggestive Bemerkung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen
zwischen den Gefangenen und der Administration in jener Zeit.
329
Rund 15 Jahre zuvor
hatte De Windt, der dem Strafsystem ziemlich wohlwollend begegnete, aus seiner ande
ren, außenstehenden Perspektive demselben Gefängnis Bestnoten ausgestellt: „It is the
best penal establishment from every point of view, that I have ever seen in Siberia.“
330
Vorherrschend waren jedoch die Holzhäuser, die, nach den erhaltenen Bildquellen zu
urteilen, dem Erscheinungsbild eines typischen sibirischen Dorfes angepasst waren und
– wie eingangs angesprochen – keinen besonders bedrohlichen oder gespenstischen An
blick boten.
331
Die Gefängnisanlage bestand in der Regel aus mehreren (oft drei) einstöckigen Ge
bäuden, die von einer hohen steinernen Mauer oder hölzernen Palisade umgeben waren,
so dass ein meist großzügiger Hof entstand.
332
Im größten Gebäude befanden sich, ent
lang einem relativ breiten Flur, die Gemeinschaftszellen
(kamery) für die Häftlinge so
wie ein Krankenzimmer. Die Anzahl der Zellen und deren Größe variierten je nach Ge
fängnis und Haftregime. Ein kleineres Gebäude beherbergte die Küche
(kuchnja) und
das Badehäuschen
(banja); im dritten Gebäude, zuweilen vom Hof durch eine weitere
Mauer abgetrennt, waren Einzelzellen
(odinočki) untergebracht. Da die Gefängnisse
größtenteils im Laufe des 19. Jahrhunderts errichtet und später, trotz Umnutzungen, nur
geringfügig angepasst worden waren, änderte sich an den Bautypen und auch an der
Bausubstanz nur wenig. Das Katorga-Gefängnis für politische Häftlinge in Nižnjaja Ka
ra, mit dessen Bau 1880 begonnen wurde und das 1882 den Betrieb aufnahm, war sehr
ähnlich organisiert und eingerichtet wie beispielsweise das Mal’cevskaja-Gefängnis, in
dem zwischen 1907 und 1911 die weiblichen „Politischen“ konzentriert wurden.
333
Ab
gesehen vom verwehrten Ausblick in die Landschaft aufgrund der haushohen Umfrie
dung, die für die beschriebene Wechselwirkung zwischen Gefängnisbauten, Landschaft
und innerer Verfassung der Häftlinge nicht ganz unerheblich gewesen sein dürfte, lobt
Kennan das politische Gefängnis von Nižnjaja Kara ausdrücklich als geräumiger, heller
und komfortabler als die für die gewöhnlichen Verbrecher benutzten Gebäude im Kara-
Tal.
334
329 P
LESKOV
V gody, S. 142. Vgl.
weitere Ausführungen im Kap. 4.6. Zu Akatuj auch Č
UJKO
God, S. 105.
330 D
E
W
INDT
Siberia, S. 247.
331 Vgl. die Bilder im Anhang S. 169–174.
332 Vgl. K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 99. Im Falle des politischen Gefängnisses von Kara war die Palisade
ebenso hoch wie die von ihr eingeschlossenen Gebäude. Dadurch war den Häftlingen der Ausblick
auf das Kara-Tal verwehrt, was K
ENNAN
Siberia II, S. 223–225, heftig anprangert, weil allen andern –
gewöhnlichen – Katorga-Sträflingen die Sicht auf die Umgebung möglich sei. Vgl. die Skizze im An
hang (Abbildung Nr. 3 S. 162).
333 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 21, beschreiben die Anlage; dadurch ist ein Vergleich mit dem
bei K
ENNAN
Siberia II, S. 225, und (in einer detaillierteren Form) im Sammelband „Kara i drugie tjur’
my Nerčinskoj katorgi“, S. 8, abgedruckten Plan des politischen Gefängnisses von Kara möglich. Vgl.
Anhang S. 160.
334 K
ENNAN
Siberia II, S. 223. M
OŠKINA
Katorga, S. 32f., ergänzt, das Gefängnis sei bewusst auch vom
Wald abgesetzt errichtet worden, auf
einer gut überblickbaren Ebene, allerdings auf einem schlechten,
sehr feuchten Baugrund; unter anderem deswegen sei es auch im Haus feucht und kalt gewesen. Auch
Levčenko, Pobeg, S. 57, berichtet von der Lage des Gefängnisses im Verhältnis zu seiner Umgebung;
im Unterschied zum vorhergehenden Gefängnis in Srednjaja Kara, in dem politische Häftlinge un
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