OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
nahm Anteil an allem.
420
In der alles umfassenden Nähe lag, anderseits, auch die Ursache
für vielerlei Belastungen, gerade weil alles öffentlich war – Kachovskajas „analytischer
Teufel“ war ubiquitär. Diese Belastungen, kombiniert mit den ganz offensichtlichen, un
ausweichlichen Zeichen der Gefangenschaft (die Gendarmen, die Kontrollen), machten
sich auch gesundheitlich bemerkbar. Viele litten unter starker nervlicher Anspannung
und großer Reizbarkeit, so dass es für einen Eklat nur wenig brauchte.
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Die Monotonie des Alltags, die manchen Häftling einst schon in der Butyrka zum
Aufbruch nach Osten gedrängt hatte, beförderte die Spannungen. „Einförmig und trüb
selig“ nennt Leo Deutsch das Leben in Nižnjaja Kara;
422
aber an anderer Stelle meint er,
versöhnlicher, weniger kritisch: „Überhaupt war bei uns Arbeit und Spiel, Ernst und
Scherz nah beieinander, und in dieser Beziehung hatte unser Treiben viel gemeinsam
mit dem Leben in einer Erziehungsanstalt […].“
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Auch Stepan Bogdanov konnte 1882
im vorübergehenden politischen Gefängnis von Ust’-Kara den Umständen durchaus Po
sitives abgewinnen. Da die Häftlinge in Einzelzellen untergebracht waren, diente der
Flur als Ort der Geselligkeit und des Ausruhens; hier aßen die Gefangenen zusammen
und tranken Tee, und hier gab es gar ein Trapez für Gymnastikübungen.
424
Als ödes Da
sein ohne Abwechslung, in dem Kleinstes plötzlich unverhältnismäßige Wichtigkeit er
langt, schildern dagegen Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova den Alltag von Mal’
cevskaja.
425
Und
Antonija Pirogova fühlte sich, am selben Ort, wie in einem Kloster.
426
In
einem Kloster hätte sie jedoch vermutlich einer Arbeit nachgehen können; Arbeit aber
gehörte nur phasenweise und an bestimmten Orten in der Welt der Katorga zum Alltag –
in Mal’cevskaja,
unter anderem, nicht.
4.3. Arbeiten in der Katorga
Die Verurteilung zu Katorga bedeutete ihrem Grundsatz nach, in die lebenslange Ver
bannung zu Jahre dauernder Zwangsarbeit geschickt zu werden, in die ferne, „andere
Welt“. Auch davon gibt es, vielfach ersonnen und auch photographisch festgehalten,
Bilder: von Häftlingen, die, an Schubkarren gekettet oder einfach mit Pickel und Schau
fel bewehrt, ihrer Arbeit in den Bergwerken nachgehen müssen oder, etwas weniger prä
sent, an den Trassen der Transsibirischen Eisenbahn Schwellen verlegen.
427
Mit seinem
berühmten Sendschreiben
„Vo glubine sibirskich rud“ („In den Tiefen sibirischer Erz
gruben“) an die Dekabristen in Transbaikalien trug Aleksandr Puškin zum Bild der Kat
orga als Ort der Schwerarbeit wesentlich bei. Die Vorstellung entbehrt auch nicht der
420 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 37.
421 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 234. Er berichtet von einem Zwist unter zwei befreundeten Gefangenen
um eine Eierschale, der schließlich im Zerwürfnis der beiden endete. Vgl. auch O
RLOV
Ob Akatue, S.
110, der die nervliche Anspannung als die größte Belastung bezeichnet; zusammenfassend M
OŠKINA
Katorga, S. 38, über die nervliche Zerrüttung vieler Langzeitgefangener unter den Bedingungen der
Gemeinschaftszellen und des Regimes.
422 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 233.
423 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 212.
424 B
OGDANOV
Smert’, S. 106.
425 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 46. Vgl. die Ausführungen im Kap. 4.5 (S. 102).
426 P
IROGOVA
Na ženskoj katorge, S. 150.
427 Vgl. die Bilder im Anhang (S. 161).
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4.3. Arbeiten in der Katorga
Richtigkeit. Katorga bedeutete Zwangsarbeit, und das Russische Reich hatte die Schau
plätze des Strafvollzugs nicht grundlos im silbererzreichen Nerčinsker Kreis und in der
Goldlagerstätte des Kara-Tals konzentriert.
428
Aber die Vorstellung ist fern der Wirklich
keit des ausgehenden Zarenreichs. Die damalige Katorga kann, soweit sie die
politi
schen Häftlinge betraf, nicht grundsätzlich mit Zwangsarbeit gleichgesetzt werden –
weil die
katoržane in den letzten vierzig Jahren des Imperiums nur während insgesamt
rund anderthalb Jahrzehnten überhaupt für Arbeiten eingesetzt wurden.
4.3.1. Zwangsarbeiter ohne Arbeitsmöglichkeiten im Kara-Tal
Das Problem der Arbeit für politische Katorga-Häftlinge war in erster Linie ein Problem
der Organisation und stand in engem Zusammenhang mit den Haftbedingungen. Seit der
Konzentration der politischen Sträflinge im Kara-Tal zu Beginn der 1870er Jahre wur
den diese, auf Anweisung des zuständigen Generalgouverneurs, für Arbeiten bei der
Goldgewinnung eingesetzt. In den Gefängnissen getrennt von den kriminellen Katorga-
Häftlingen untergebracht, leisteten sie die Arbeit jedoch mit diesen in Arbeitskollekti
ven zusammen. Das barg ein Potential an Friktionen in sich, weil die Mehrzahl der da
maligen „Politischen“ schwere körperliche Arbeit nicht gewohnt war und die Arbeits
leistung, die den Kollektiven zugewiesen wurde, oft nicht genügend erfüllen konnte.
Den Aufsichtsorganen war es überdies im Grunde suspekt, den politischen Gefangenen
so viel Auslauf zu gewähren,
den diese, wie sie fürchteten, zur Beeinflussung der Krimi
nellen und zur Flucht hätten nutzen können.
429
Organisatorisch war die Katorga-Verwal
tung allerdings nicht in der Lage, die beiden Häftlingskategorien für die Arbeit vonein
ander zu trennen; dafür fehlten, wie aus einem Bericht des Generalgouverneurs für Ost
sibirien, Anučin, vom März 1882 hervorgeht, die geeigneten Arbeitsplätze ebenso wie
die Ressourcen für die Bewachung der
katoržane.
430
Bei diesem Bericht handelte es sich
nicht um eine Empfehlung, sondern um eine Feststellung bereits nach der Aufhebung
der Arbeitsmöglichkeiten für die „Politischen“ denn nach einer Reihe von Hafterleichte
rungen durch den damaligen Kommandanten der Gefängnisse von Kara, Oberst Kono
novič, der sich damit bei den politischen Häftlingen beliebt gemacht hatte,
431
nicht aber
bei den höheren Stellen,
432
wurde auf Betreiben des Innenministers Loris-Melikov Ende
1880 das Regime gegenüber den „Politischen“ verschärft. Waren sie bis dahin nur be
züglich ihrer Unterkunft von den kriminellen Sträflingen getrennt gewesen und hatten
sie ansonsten dieselben Rechte wie diese genossen, etwa für vorzeitige Entlassung aus
der Haft ins „Freie Kommando“, wurden sie ab 1881 im Gefängnis isoliert, was mit der
428 Vgl. die Ausführungen zur Geschichte der (politischen) Katorga und zur Diskussion um das Ver
bannungssystem in den Kap. 3.1 (S. 35) und 5 (S. 137).
429 M
OŠKINA
Katorga, S. 20. Vgl. auch K
LER
Karijskaja katorga, S. 218f.
430 Der Bericht
ist bei K
ENNAN
Siberia II, S. 227–229, in englischer Übersetzung wiedergegeben.
431 B
OGDANOVIČ
Posle pobega, S. 73, nennt Kononovič einen „humanen, ehrlichen und gebildeten Men
schen“. Fast gleich würdigt ihn K
ENNAN
Siberia II, S. 206–208, nämlich als „a highly educated, hu
mane, and sympathetic man, who is still remembered by many a state criminal in Eastern Siberia with
gratitude and respect“. Auch Ž
UKOV
Iz nedr, S. 63 und 67, nennt Kononovič „human“ und äußert sich
wohlwollend über ihn, wenngleich er dessen Entourage kritisiert.
432 Ž
UKOV
Iz nedr, S. 63f.
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