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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
in jeder Hinsicht bei vielen sehr stark entwickelt“, Egoismus dagegen sehr selten.
383
 
Ähnliches berichten auch Radzilovskaja und Orestova; die Kommune habe bis zuletzt 
gehalten, wenngleich es immer wieder Tendenzen zu Individualisierung gegeben habe.
384
Politische und soziale Gräben taten sich allerdings auch in den Kommunen auf und 
rücken das Bild von der innigen Gemeinschaft etwas zurecht. Politisiert wurde auf zwei 
Ebenen. Zum einen rangen die Häftlinge immer wieder um die „Konstitutionen“ ihrer 
Kommunen, politisierten also primär im Rahmen ihrer Gemeinschaft; zum andern tru­
gen sie politische Auseinandersetzungen aus, in denen es um grundlegende staats- und 
wirtschaftspolitische Ansichten ging und soziale und generationsbedingte Unterschiede 
eine Rolle spielten. Oft mischten sich beide Ebenen, bestimmte das zweite Feld das ers­
te. Leidenschaftlich muss man sich beide Diskussionen vorstellen – so leidenschaftlich 
wie in der Auseinandersetzung außerhalb der Gefängnisse. Kon erzählt die Geschichte 
zweier in der Küche beschäftigter Mithäftlinge, die so echauffiert über den richtigen 
Umgang mit dem Kapitalismus in Russland diskutierten, dass die Suppe an jenem Mit­
tag noch wässriger als sonst wurde, weil die Disputierenden sich nicht mehr auf ihre ei­
gentliche Aufgabe konzentrierten.
385
 
Innerhalb der Kommune des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara wurden die 
zu verteilenden Ämter in geheimer Wahl bestellt. Nur zwei Posten in der Kommune 
wurden durch diese Wahlen, die alle sechs Monate stattfanden, besetzt – der Bibliothe­
kar und der starosta. Während die Position des Bibliothekars zwar wichtig, aber mit kei­
nerlei Tücken behaftet war, hatte der Vorsteher der Kommune eine delikate Rolle aus­
zufüllen. Er war, wie Kon treffend bemerkt, „Außenminister“ und hatte in dieser Funkti­
on die Häftlinge gegenüber dem Kommandanten zu vertreten, musste aber zugleich 
auch   die   wirtschaftlichen   Verhältnisse   der   Sträflingsgemeinschaft   überwachen.   Eine 
Person unter den Gefangenen zu finden, die beides beherrschte und auch gewillt war, 
die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, war nicht einfach.
386
  Ebenso wurde 
über „Verfassungsänderungen“ abgestimmt. „Oft gab es aus diesem Anlass heftige De­
batten; es bildeten sich Parteien, die einander bekämpften, kurz, es spielte sich alles ab 
wie in einem Parlament“, schreibt Deutsch.
387
 Das galt auch für die Wahlen zum Kom­
munen-Vorsteher; diese interessierten auch die Administration, da sie Aufschluss über 
die Stimmung unter den Gefangenen geben konnten.
388
Die politischen und sozialen Veränderungen in der revolutionären Bewegung färbten 
auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunen ab. Nicht ohne Grund nannte 
Kon für sich selbst das Gefängnis an der Kara ein „Archiv der Revolutionäre“ und frag­
te sich, wie er sich unter den einst bewunderten Koryphäen des politischen Kampfes 
wohl zurechtfinden werde.
389
  Die katoržane, die Mitte der 1880er Jahre dort einsaßen, 
383 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 237.
384 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 26.
385 K
ON
 Pod znamenem, S. 270–272.
386 K
ON
 Pod znamenem, S. 269, und D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 210.
387 D
EUTSCH
  Sechzehn Jahre, S. 210. Die „Verfassung“ differierte andernorts, so in Mal’cevskaja, von 
Kammer zu Kammer, war also nicht allgemeingültig für die ganze Kommune, vgl. K
ACHOVSKAJA
 Iz vo­
spominanij, S. 81.
388 K
ON
 Pod znamenem, S. 269f.
389 K
ON
 Pod znamenem, S. 258f.
80


4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
als er und seine Gefährten eintrafen, entstammten einer anderen revolutionären Genera­
tion – jener der „Narodnaja volja“ – und anderen sozialen Verhältnissen. Sie begegne­
ten den Neuankömmlingen, die als Mitglieder der polnischen Organisation „Proletariat“ 
verhaftet worden waren, deshalb zuerst eher reserviert und interessierten sich für deren 
Erfahrungen in Polen nicht sonderlich; vor allem aber fürchteten sie, die neuen jungen 
Häftlinge brächten durch ihren proletarischen sozialen Hintergrund das Gefüge in Nižn­
jaja Kara durcheinander.
390
 Pribyleva hebt hervor, wie sehr sie und ihre Mitgefangenen, 
vor allem Natalja Armfel’d, im Frauengefängnis des Kara-Tals nach einem harmoni­
schen Umgang ohne politische Dispute gestrebt hätten.
391
 Auf Vorbehalte stieß bei seiner 
Ankunft in Nižnjaja Kara auch der sozialdemokratisch-marxistische Deutsch, ein An­
hänger Plechanovs; er gehörte einer damals erst aufkommenden politischen Richtung an 
und wurde noch belächelt.
392
  Das waren jedoch, auf parteitheoretischem Feld, nur die 
Vorboten einer Entwicklung, die im Zuge der Marxismus-Rezeption in den neunziger 
Jahren an Boden gewann und durch die Parteigründungen gefestigt wurde.
393
 Weiterrei­
chend waren die Folgen der Revolution von 1905 für die Politisierung der Katorga. Nun 
stieg nicht nur die Zahl der Häftlinge in kurzer Zeit drastisch an; auch machte sich der 
Widerstreit zwischen den Sozialdemokraten (SD) und den (terroristischen) Sozialrevo­
lutionären (SR) bemerkbar, der zusätzlich von sozialen Spannungen überlagert wurde.
394
 
Ein Beispiel dafür liefert die Situation im kommunalen Leben von Gornyj Zerentuj in 
der Zeit zwischen 1907 und 1910. Grigorij Kramarov, ein Sozialdemokrat und ganz of­
fensichtlich aus dem proletarischen Milieu stammend, schildert, wie die vor allem aus 
(parteilosen) Matrosen, Soldaten und Arbeitern zusammengesetzte,  anscheinend vor­
bildlich funktionierende Kommune unter Druck gekommen sei, als sie durch sozialrevo­
lutionäre Intellektuelle „mittel- und kleinbürgerlicher“ Provenienz verstärkt Zuwachs er­
halten habe.
395
 Gestritten wurde zum einen um die Verwendung von Geldmitteln eines 
„konspirativen   Fonds“,   mit   dem   Fluchtpläne   unterstützt   wurden.   Die   neu   dazuge­
stoßenen Sozialrevolutionäre, die eine stattliche Geldsumme mitbrachten und nun auch 
über deren Bestimmung mitreden wollten, und Teile der Sozialdemokraten waren der 
Meinung, nicht jeder habe das Recht, von dem Fonds Gebrauch zu machen, sondern nur 
jene, die dessen „würdig“ seien – deren Flucht, anders gesagt, den politischen Zielen 
dienlich sei.
396
 Zum andern war die Frage der Verwendung von Paketen an die Mitglie­
der der Kommune Grund für den Zwist; eine Minderheit wollte es den einzelnen Kom­
munarden überlassen, wie sie damit verfahren wollten. In der Folge spaltete sich die Ge­
meinschaft in eine „große“ und eine „kleine“ Kommune  („bol’šaja i malaja kommu­
ny“) auf, wobei sich in der ersten die Mehrheit der (parteilosen) Soldaten, Matrosen und 
Arbeiter und in der zweiten die Angehörigen der Intelligenz und einige der Proletarier 
sammelten. Wegen der ungleichen Vermögensverteilung – die „kleine Kommune“ hatte 
390 K
ON
 Pod znamenem, S. 261–263.
391 P
RIBYLEVA
 Moi vospominanija, S. 143.
392 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 199f. Vgl. zu Plechanov Kap. 2.2 mit Fußnote 111 (S. 25).
393 Vgl. dazu die Ausführungen im Kap. 2.3 (S. 31).
394 Vgl. auch Kap. 3.1.3 mit Fußnote 174 (S. 41).
395 K
RAMAROV
 Kommuny, S. 135f. 
396 K
RAMAROV
 Kommuny, S. 136. Dieser Meinung schloss sich prinzipiell auch Kramarov an, obwohl er 
das Ansinnen der  Sozialrevolutionäre  verurteilte. Vgl. auch die Ausführungen im Kap. 4.6.4  zur 
Flucht (S. 127).
81


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