OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
in jeder Hinsicht bei vielen sehr stark entwickelt“, Egoismus dagegen sehr selten.
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Ähnliches berichten auch Radzilovskaja und Orestova; die Kommune habe bis zuletzt
gehalten, wenngleich es immer wieder Tendenzen zu Individualisierung gegeben habe.
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Politische und soziale Gräben taten sich allerdings auch in den Kommunen auf und
rücken das Bild von der innigen Gemeinschaft etwas zurecht. Politisiert wurde auf zwei
Ebenen. Zum einen rangen die Häftlinge immer wieder um die „Konstitutionen“ ihrer
Kommunen, politisierten also primär im Rahmen ihrer Gemeinschaft; zum andern tru
gen sie politische Auseinandersetzungen aus, in denen es um grundlegende staats- und
wirtschaftspolitische Ansichten ging und soziale und generationsbedingte Unterschiede
eine Rolle spielten. Oft mischten sich beide Ebenen, bestimmte das zweite Feld das ers
te. Leidenschaftlich muss man sich beide Diskussionen vorstellen – so leidenschaftlich
wie in der Auseinandersetzung außerhalb der Gefängnisse. Kon erzählt die Geschichte
zweier in der Küche beschäftigter Mithäftlinge, die so echauffiert über den richtigen
Umgang mit dem Kapitalismus in Russland diskutierten, dass die Suppe an jenem Mit
tag noch wässriger als sonst wurde, weil die Disputierenden sich nicht mehr auf ihre ei
gentliche Aufgabe konzentrierten.
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Innerhalb der Kommune des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara wurden die
zu verteilenden Ämter in geheimer Wahl bestellt. Nur zwei Posten in der Kommune
wurden durch diese Wahlen, die alle sechs Monate stattfanden, besetzt – der Bibliothe
kar
und der starosta. Während die Position des
Bibliothekars zwar wichtig, aber mit kei
nerlei Tücken behaftet war, hatte der Vorsteher der Kommune eine delikate Rolle aus
zufüllen. Er war,
wie Kon treffend bemerkt, „Außenminister“ und hatte in dieser Funkti
on die Häftlinge gegenüber dem Kommandanten zu vertreten, musste aber zugleich
auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Sträflingsgemeinschaft überwachen. Eine
Person unter den Gefangenen zu finden, die beides beherrschte und auch gewillt war,
die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, war nicht einfach.
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Ebenso wurde
über „Verfassungsänderungen“ abgestimmt. „Oft gab es aus diesem Anlass heftige De
batten; es bildeten sich Parteien, die einander bekämpften, kurz, es spielte sich alles ab
wie in einem Parlament“, schreibt Deutsch.
387
Das galt auch für die Wahlen zum Kom
munen-Vorsteher; diese interessierten auch die Administration, da sie Aufschluss über
die Stimmung unter den Gefangenen geben konnten.
388
Die politischen und sozialen Veränderungen in der revolutionären Bewegung färbten
auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunen ab. Nicht ohne Grund nannte
Kon für sich selbst das Gefängnis an der Kara ein „Archiv der Revolutionäre“ und frag
te sich, wie er sich unter den einst bewunderten Koryphäen des politischen Kampfes
wohl zurechtfinden werde.
389
Die
katoržane, die Mitte der 1880er Jahre dort einsaßen,
383 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 237.
384 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 26.
385 K
ON
Pod znamenem, S. 270–272.
386 K
ON
Pod znamenem, S. 269, und D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 210.
387 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 210. Die „Verfassung“ differierte andernorts, so in Mal’cevskaja, von
Kammer zu Kammer, war also nicht allgemeingültig
für die ganze Kommune, vgl. K
ACHOVSKAJA
Iz vo
spominanij, S. 81.
388 K
ON
Pod znamenem, S. 269f.
389 K
ON
Pod znamenem, S. 258f.
80
4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
als er und seine Gefährten eintrafen, entstammten einer anderen revolutionären Genera
tion – jener der
„Narodnaja volja“ – und anderen sozialen Verhältnissen. Sie begegne
ten den Neuankömmlingen, die als Mitglieder der polnischen Organisation „Proletariat“
verhaftet worden waren, deshalb zuerst eher reserviert und interessierten sich für deren
Erfahrungen in Polen nicht sonderlich; vor allem aber fürchteten sie, die neuen jungen
Häftlinge brächten durch ihren proletarischen sozialen Hintergrund das Gefüge in Nižn
jaja Kara durcheinander.
390
Pribyleva hebt hervor, wie sehr sie und ihre Mitgefangenen,
vor allem Natalja Armfel’d, im Frauengefängnis des Kara-Tals nach einem harmoni
schen Umgang ohne politische Dispute gestrebt hätten.
391
Auf Vorbehalte stieß bei seiner
Ankunft in Nižnjaja Kara auch der sozialdemokratisch-marxistische Deutsch, ein An
hänger Plechanovs; er gehörte einer damals erst aufkommenden politischen Richtung an
und wurde noch belächelt.
392
Das waren jedoch, auf parteitheoretischem Feld, nur die
Vorboten einer Entwicklung, die im Zuge der Marxismus-Rezeption in den neunziger
Jahren an Boden gewann und durch die Parteigründungen gefestigt wurde.
393
Weiterrei
chend waren die Folgen der Revolution von 1905 für die Politisierung der Katorga. Nun
stieg nicht nur die Zahl der Häftlinge in kurzer Zeit drastisch an; auch machte sich der
Widerstreit zwischen den Sozialdemokraten (SD) und den (terroristischen) Sozialrevo
lutionären (SR) bemerkbar, der zusätzlich von sozialen Spannungen überlagert wurde.
394
Ein Beispiel dafür liefert die Situation im kommunalen Leben von Gornyj Zerentuj in
der Zeit zwischen 1907 und 1910. Grigorij Kramarov, ein Sozialdemokrat und ganz of
fensichtlich aus dem proletarischen Milieu stammend, schildert, wie die vor allem aus
(parteilosen) Matrosen, Soldaten und Arbeitern zusammengesetzte, anscheinend vor
bildlich funktionierende Kommune unter Druck
gekommen sei, als sie durch sozialrevo
lutionäre Intellektuelle „mittel- und kleinbürgerlicher“ Provenienz verstärkt Zuwachs er
halten habe.
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Gestritten wurde zum einen um die Verwendung von Geldmitteln eines
„konspirativen Fonds“, mit dem Fluchtpläne unterstützt wurden. Die neu dazuge
stoßenen Sozialrevolutionäre, die eine stattliche Geldsumme mitbrachten und nun auch
über deren Bestimmung mitreden wollten, und Teile der Sozialdemokraten waren der
Meinung, nicht jeder habe das Recht, von dem Fonds Gebrauch zu machen, sondern nur
jene, die dessen „würdig“ seien – deren Flucht, anders gesagt, den politischen Zielen
dienlich sei.
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Zum andern war die Frage der Verwendung von Paketen an die Mitglie
der der Kommune Grund für den Zwist; eine Minderheit wollte es den einzelnen Kom
munarden überlassen, wie sie damit verfahren wollten. In der Folge spaltete sich die Ge
meinschaft in eine „große“ und eine „kleine“ Kommune
(„bol’šaja i malaja kommu
ny“) auf, wobei sich in der ersten die Mehrheit der (parteilosen) Soldaten, Matrosen und
Arbeiter und in der zweiten die Angehörigen der Intelligenz und einige der Proletarier
sammelten. Wegen der ungleichen Vermögensverteilung – die „kleine Kommune“ hatte
390 K
ON
Pod znamenem, S. 261–263.
391 P
RIBYLEVA
Moi vospominanija, S. 143.
392 D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 199f. Vgl. zu Plechanov Kap. 2.2 mit
Fußnote 111 (S. 25).
393 Vgl.
dazu die Ausführungen im Kap. 2.3 (S. 31).
394 Vgl. auch Kap. 3.1.3 mit
Fußnote 174 (S. 41).
395 K
RAMAROV
Kommuny, S. 135f.
396 K
RAMAROV
Kommuny, S. 136. Dieser Meinung schloss sich prinzipiell auch Kramarov an, obwohl er
das Ansinnen der Sozialrevolutionäre verurteilte. Vgl. auch die Ausführungen im Kap. 4.6.4 zur
Flucht (S. 127).
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