OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
che der Ankömmlinge in Transbaikalien fanden. Diese war aber vielfach gebrochen: po
litisch, weil sich die Parteien teilweise trotz ähnlichem Hintergrund an kleineren und
größeren ideologischen Fragen heftig rieben; sozial, weil die Herkunft der Re
gimegegner zusehends disparater wurde und in der klassenkämpferisch aufgeladenen
Stimmung, wie die Beispiele aus Zerentuj und Mal’cevskaja zeigen, nicht überbrückt
werden konnte; und, den vorliegenden Quellen gemäß nur sehr am Rande, national, weil
die Nationalitätenfrage im Zarenreich, auch durch die Russifizierungspolitik, stetig an
Virulenz gewann.
410
Generell verstärkte sich die Heterogenität der Katorga-Gesellschaft
im Laufe der Jahrzehnte zwischen dem Ende der 1870er Jahre und 1917, insbesondere,
wie bereits dargelegt, im Zuge der Revolution von 1905.
411
Die politische Gegnerschaft
zum herrschenden System allerdings einte zuletzt doch über die mannigfachen Spaltun
gen hinweg, und die Bedeutung des Kollektivs vor dem Individuum nahm zu. Beides
zusammen manifestierte sich vor allem im Protestpotential.
412
4.2.3. Beständige Nähe – die allwissende Kommune
Um der Kommune für einen Moment zu entfliehen und die Gedanken für sich zu haben,
blieb wenig Raum, außer beim Hofgang. Der Auslauf war im zeitweiligen Gefängnis für
„Politische“ in Srednjaja Kara Anfang der 1880er Jahre und während der Anfangszeit in
Mal’cevskaja sogar sehr großzügig bemessen, indem die Häftlinge jederzeit in den Ge
fängnishof gehen konnten.
413
Aber das war die Ausnahme. Auf die Dauer machte die be
ständige Nähe der
katoržane zueinander das Gefängnisleben zur Tortur. „Schon längst
ist jeder dem anderen zuwider geworden“, schreibt Deutsch, „man mag nicht einmal die
410 Vgl. K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 183f. Die Frage der Nationalität der Häftlinge wird in den Erinnerungs
berichten nur selten thematisiert. K
ON
Pod znamenem, S. 260f., schreibt im Zusammenhang mit der
politischen Haltung über seine polnische Herkunft (vgl. auch weiter oben). K
ACHOVSKAJA
Iz vospomi
nanij, S. 83, erwähnt die verschiedenen Nationalitäten in Mal’cevskaja (Russen, Juden, Letten, Geor
gier, Polen), die problemlos zusammenlebten; auch Sobol’, Otryvki, S. 161, berichtet vom friedlichen
Zusammenleben verschiedenster Nationalitäten (Großrussen, Weißrussen, Burjaten, Mordwinen, Ju
den, Armenier, Baschkiren) im Katorga-Zentralgefängnis Aleksandrovsk bei Irkutsk; R
OJTMAN
Tjur’
ma, S. 169, erwähnt seinen eigenen jüdischen Glauben. Die Schilderungen muten beinahe idyllisch
an. Zur Nationalitätenproblematik im ausgehenden Zarenreich vgl. H
AUMANN
Geschichte, S. 392–395.
411 Vgl. auch Anna Geifmans Ausführungen zum Wandel der Revolutionäre, die nach ihrer Beurteilung
zunehmend selbstgerechter agierten, immer weniger Rücksicht auf Verluste nahmen und zuweilen
zwischen Revolution und Verbrechertum oszillierten, G
EIFMAN
Introduction, S. 6–8. Das hatte auch
Folgen für die Katorga-Gesellschaft, denen gesondert nachzugehen wäre, was hier zu weit führen
würde.
412 Der Umstand, dass es sich bei den Gefängnisinsassen um erklärte Regimegegner handelte, die zudem
oftmals ideologische Gemeinsamkeiten aufwiesen, unterscheidet die Katorga-Gesellschaft wesentlich
vom Gulag. Der gemeinsame Nenner der Häftlinge des Archipels war unendlich viel kleiner als jener
der
katoržane des ausgehenden Zarenreichs. Zum Protestpotential in der Katorga vgl.
Kap. 4.6 (S.
115).
413 In Srednjaja Kara war, wie L
EVČENKO
Pobeg, S. 55, berichtet, die Wache bis auf die Morgen- und
Abendkontrollen außerhalb des Hofes stationiert, so dass sich die Häftlinge tagsüber jederzeit im Hof
aufhalten konnten. Ähnlich in Mal’cevskaja bis 1908, vgl. R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 29,
und P
IROGOVA
Na ženskoj katorge, S. 150. Pirogova lobt dies ganz besonders und schreibt: „Das wert
vollste an dieser Freizügigkeit war, dass ihr [sic] in den Hof des Gefängnis hinaus springen und die
frische Luft einatmen, auf die Hügel blicken konntet.“ (Ebd.; wahrscheinlich muss es im Original statt
vy (ihr)
my (wir) heißen).
84