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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
mehr Mittel für den Alltag, vor allem zur Aufbesserung des Essens, zur Verfügung als 
die größere, weniger wohlhabende Gruppe – kam es zu Spannungen. Nur der „gemein­
same Feind“, die Gefängnisadministration, wirkte einigend, so dass die beiden Kommu­
nen nach rund einem Jahr wieder zusammenfanden.
397
 
Vladimir Pleskov, der zur selben Zeit in Gornyj Zerentuj einsaß und später in der Ge­
sellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten eine aktive pu­
blizistische Rolle wahrnahm, kritisiert allerdings in einem seiner memoiristischen Auf­
sätze Kramarovs Darstellung, vor allem die angeblich herausgestellte Dichotomie zwi­
schen Parteigängern und Parteilosen.
398
  Väterlich-herablassend und doch verständnis­
voll-wohlwollend äußert er sich über den unterschiedlichen Politisierungsgrad der par­
teilosen Soldaten, Matrosen, Arbeiter und lettischen Agrarier, bei denen er, ganz im Sin­
ne der sozialdemokratischen Parteilinie, Mangel an langfristigem Denken diagnostiziert. 
Eine scharfe Trennlinie sieht Pleskov zwischen den Parteien; den Sozialrevolutionären 
wirft er „intellektuellentypische Selbstverliebtheit“ und Egoismus vor. Insgesamt aber 
relativiert er die Spannungen insofern, als auch er die Geschlossenheit gegenüber der 
Gefängnisobrigkeit hervorhebt.
399
 
Die soziale und die politische Dimension wird, mit unterschiedlicher Akzentuierung, 
in diesen Erinnerungsberichten gleichermaßen betont. Die eine Ebene zeigt sich in der 
Vermögenslage wie auch in der Herkunft und dem Bildungsstand; die andere ist vor al­
lem mit einer Spitze gegen die Sozialrevolutionäre versehen, die politisch weniger ein­
flussreich waren, aber durch ihre Terroranschläge Bekanntheit erlangten und nach der 
Oktoberrevolution 1917 ins Abseits gedrängt wurden. Wenngleich Kramarov und Ples­
kov den gemeinsamen, partei- und fraktionsübergreifenden Kampf gegen das Regime 
der Administration herausstreichen, war die Bedeutung, welche die Parteipolitik auch 
hinter den Gefängnismauern einnahm, bemerkenswert groß.
400
Auch sie variierte allerdings von Gefängnis zu Gefängnis. Zur selben Zeit, da in Ze­
rentuj, nach den Zeugnissen Teleskops, Kramarovs und anderer zu urteilen, die poli­
tischen Strömungen und die soziale Herkunft von Belang waren und innerhalb der Häft­
lingsgemeinschaften zu Fraktionierungen führten, herrschte diesbezüglich in Mal’cevs­
kaja nach der Einschätzung Irina Kachovskajas unter den dort einsitzenden weiblichen 
Katorga-Häftlingen   eine   versöhnliche,   unaufgeregte   Stimmung.
401
  Die   Mehrzahl   der 
Frauen entstammte den Reihen der Sozialrevolutionäre, es gab aber auch einige Sozial­
397 K
RAMAROV
 Kommuny, S. 137–139.
398 P
LESKOV
 V gody, S. 142–147.
399 P
LESKOV
 V gody, S. 145f.
400 Beide Selbstzeugnisse sind ein typisches politisiertes Produkt der zwanziger Jahre: Noch werden die 
Sozialrevolutionäre erwähnt, aber klar negativ dargestellt; die eher antiintellektuelle Haltung, vor al­
lem Kramarovs, wird deutlich, aber auch die Distanz der Parteivertreter zum „unterentwickelten“ 
Volk. Das ist quellenkritisch zu berücksichtigen. Erkennbar bleibt, dass die PSR-Mitglieder nicht ein­
fach eine Randexistenz in der politischen Katorga führten; in den Reihen der Gesellschaft der ehe­
maligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten gab es alles – Sozialrevolutionäre, Menschewiki 
und Bolschewiki. Die spätere sowjetische Katorga-Forschung hingegen bleibt bis zuletzt der Ächtung 
der PSR durch die Bolschewiki treu und marginalisiert deren Bedeutung. Vgl. auch der Hinweis in 
der Fussnote 173.
401 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 83.
82


4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
demokratinnen, Anarchistinnen und Maximalistinnen.
402
 Die politischen Auseinanderset­
zungen, die in Russland zwischen den beiden Blöcken SR und SD vor allem um die 
Agrarfrage heftig ausgetragen wurden, fanden im Gefängnis keinen Widerhall; die Vor­
aussetzungen für eine seriöse Beschäftigung damit fehlten. Zu politischen Fraktionie­
rungen kam es daher nie, politische Diskussionen fanden kaum statt. Nur insofern, als 
der Hass auf die Regierung stetig angewachsen sei, habe die Politik im Gefängnis eine 
Rolle gespielt, schreibt Kachovskaja.
403
  Ihre Feststellung, es habe keine sozialen Un­
ebenheiten gegeben und die gemeinsame sozialistische Ideologie habe alle Mitglieder 
der Kommune nivelliert,
404
 teilten jedoch nicht alle ihrer Mitgenossinnen in Mal’cevska­
ja. Paulina Metter, die im Frühjahr 1907 zu der bereits bestehenden Kommune in Mal’­
cevskaja stieß und kaum Russisch sprach, fühlte sich als erklärte Proletarierin fremd, 
einsam, minderwertig und unwohl unter den mehrheitlich intellektuellen Mitgefange­
nen.
405
 „In kurzer Zeit erkannte ich den Grund meiner Einsamkeit, verstand ich, dass das 
Klassenzwist ist“,
406
 schreibt sie, und sie fühlte sich den Proletariern von Gornyj Zeren­
tuj und deren abgespaltener Kommune im Geiste sehr verbunden, als sie durch einen 
Brief Egor Sazonovs an das Frauengefängnis von den dortigen, sozial (und parteipoli­
tisch) grundierten Auseinandersetzungen hörte.
407
 Als im Laufe des Jahres weitere Häft­
linge proletarischer Herkunft in Mal’cevskaja eintrafen, fühlte sich Metter besser aufge­
hoben und lernte rasch russisch lesen, schreiben und sprechen.
408
  Soziale Differenzen, 
die sich in den Zellen bemerkbar machten, gab es aber bereits in Nižnjaja Kara. Als Leo 
Deutsch auf eigenen Wunsch die Kammer wechselte, fand er sich in einer anders struk­
turierten Zelle wieder, deren Insassen anderen sozialen Schichten entstammten. „In die­
ser Kammer war das Treiben ein ganz anderes als in der ‹Adelskammer›“, hält er fest. 
Statt dem Literaturstudium gab man sich hier dem Handwerk hin.
409
Inwieweit die ideologische Fundierung zu einer Homogenisierung der Häftlingsge­
sellschaft beitrug, ist fraglich. Die gemeinsame politische Vergangenheit und der Kampf 
gegen die zarische Macht schufen eine gewisse gegenseitige Vertrautheit, wie sie man­
402 Kachovskaja gibt an, dies habe überhaupt den Verhältnissen in der Katorga entsprochen. Eine Statis­
tik für Mal’cevskaja über die Parteizugehörigkeit bestätigt das, vgl. R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Svedeni­
ja, S. 227. Demnach entstammten insgesamt 36 Inhaftierte den Reihen der Sozialrevolutionäre und 
nur 10, aufgeteilt auf Bolschewiki, Menschewiki und Polen/Litauer, den Sozialdemokraten; der jüdi­
sche Bund war mit 2 Insassinnen vertreten. Die zweitgrößte Gruppe (13 Insassinnen) zählte sich zu 
den Anarchisten. Die Maximalisten, zu den SR gehörend, akzeptierten deren Maximalforderungen als 
einziges Ziel (G
ARMIZA

UKOV
 Maksimalisty, S. 255).
403 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 83.
404 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 84.
405 M
ETTER
 Stranička, S. 95f.
406 M
ETTER
 Stranička, S. 96.
407  M
ETTER
 Stranička, S. 96. Gemeint ist die oben beschriebene Kommunenspaltung. Egor Sazonov, der 
das Attentat auf den russischen Innenminister Pleve, die Symbolfigur des zarischen Repressionsstaa­
tes, verübt hatte, verbüßte im Katorga-Gefängnis Zerentuj seine Strafe.
408 M
ETTER
 Stranička, S. 97.
409 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 226. In Nižnjaja Kara hatte jede der vier Zellen eine besondere Bezeich­
nung – „Synedrion“, „Dvorjanka“ („Adelskammer“), „Jakutka“, „Volost’“ (eigentlich Bezeichnung 
für einen Amtsbezirk, bei Deutsch mit „Dorf“ übersetzt). Wie es zu diesen Namen kam, weiß D
EUTSCH
 
ebd., S. 202, auch nicht zu berichten. „Synedrion“ kommt vom griechischen Wort συνέδριον für „Rat, 
Sitzung, Beratung“. 
83


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