Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
4.1.2. Im Katorga-Gefängnis
Die Wechselwirkung zwischen äußerer Gestalt der Lebensumgebung und innerer Ver­
fassung der Häftlinge spielte sich nicht allein zwischen den Sträflingen, der sie umge­
benden Landschaft und dem Anblick der Gefängnisgebäude ab; die Einrichtung der letz­
teren und deren Zustand waren ohne Zweifel noch bedeutsamer, weil sich hierin, ganz 
besonders im Herzstück, den Gefängniszellen als dem Nukleus des sozialen Zusammen­
halts schlechthin, die Häftlingsgesellschaft organisierte. Irina Kachovskaja war nicht nur 
überwältigt vom Empfang bei der Ankunft; fast noch stärker überwältigte sie der erste 
Eindruck vom Gefängnisinnenleben in Mal’cevskaja:
„Irgendjemand  stellte  einen  Samovar auf, irgendjemand spannte  einen  Bettlaken-Vor­
hang auf, damit ich mich von der Reise waschen konnte, sie schleppten eine kleine Wan­
ne an, holten aus irgendeinem Säckchen oder Körbchen frische Unterwäsche. Es regnete 
mitfühlende Fragen, es blickten freundliche, neugierige Augen. Der Übergang von den 
groben Zurufen, Flüchen, Schlägen bestialischer und blutverschmierter Personen zu die­
ser sauberen Atmosphäre der Zärtlichkeit und Fürsorge war so heftig, dass die nervliche 
Anspannung der vergangenen Tage zusammenbrach.“
335
Nicht anders erging es Antonija Pirogova, als sie in eine der drei Kammern, die den 
„Politischen“ zustanden, geführt wurde. Zur angenehmen Aufnahme und zu den positiv 
vermerkten Äußerlichkeiten wie dem Teppich im Flur kam nun die Überraschung über 
die Atmosphäre und den Komfort in der Zelle. Da standen hölzerne Betten anstelle von 
Schlafpritschen; in kleine Flaschen eingestellte Gartenblumen verschönerten den Raum, 
auf dem Tisch wartete ein Samovar und rundherum stand eine ziemlich ausgelassene 
Schar junger Frauen.
336
 Zu jedem Bett gehörten ein Hocker und ein Bücherbord an der 
Wand, das aus einer hölzernen Kiste gefertigt war; eine weitere Kiste neben dem Bett 
diente der Aufbewahrung der persönlichen Gegenstände.
337
  In den Räumen herrschte, 
wie Kachovskaja bemerkt, nicht die Behaglichkeit des freien Lebens, aber auch nicht die 
abweisend-kalte Stimmung eines gewöhnlichen Gefängnisses.
338
 Auch wenn es nach ei­
nem Klischee klingen mag: Die liebevolle Gestaltung des unmittelbaren Lebensraums 
war ein Merkmal des Frauengefängnisses von Mal’cevskaja und lässt sich für die Zellen 
der männlichen Gefangenen in den anderen Katorga-Gefängnissen nicht belegen. Das 
laxe Regime in Mal’cevskaja – das Verhältnis zur (mehrheitlich männlichen) Gefängni­
sadministration war nahezu ungetrübt – leistete dem Gestaltungswillen und der Entfal­
tung der weiblichen Häftlinge sicherlich Vorschub; selbst Photoapparate und Musikin­
strumente, die Angehörige ins Gefängnis schickten, wurden geduldet.
339
 Aber der Ver­
gleich mit der Gulag-Forschung lässt darauf schließen, dass es ein geschlechtsspezifi­
tergebracht waren und das mitten in bewohntem Gebiet stand und von keiner Mauer umgeben war, 
befand sich das neue, ausschließlich politische Gefängnis abseits der anderen Häuser der Siedlung in 
Nižnjaja Kara. 
335 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 74.
336 P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 149.
337 K
ACHOVSKAJA
  Iz   vospominanij,   S.   74f.,   und  R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
  Katorga,   S.   23.  Die   Kisten 
stammten von Paketen, welche die Häftlinge bekommen hatten.
338 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 74.
339 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 45, und K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 76, die ebd. auch be­
merkt: „Ein Regime gab es im Gefängnis keines.“ Die Gefangenen hätten innerhalb des lose gesetzten 
Rahmens gemacht, was sie wollten. Ähnlich P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 149.
72


4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
sches Verhalten gab, gerade bezüglich der Sorge um den eigenen Körper und um die 
Wohnstätte, und dies auch unter den harschesten Bedingungen, wie sie in den Lager­
welten des 20. Jahrhunderts zum Alltag gehörten.
340
 Diese Erkenntnis lässt sich, so un­
terschiedlich die Ausgangslage ist, auch auf die weiblichen (politischen) Katorga-Häft­
linge übertragen.
Die männlichen Häftlinge legten weniger Gewicht auf die Gestaltung der Räume; die 
Bedeutung der Gemeinschaftszelle verminderte sich dadurch aber nicht. Kon würdigt 
die Sauberkeit und die gute Ausstattung der Kammer, die über drei Fenster verfügte und 
ziemlich hell war.
341
 Ähnlich positiv äußert sich auch Deutsch, der nur wenig früher als 
Kon in Kara eintraf:
„Eine Tür wurde geöffnet, und ich betrat meine Kammer. Es war ein großer Raum; in der 
Mitte stand ein langer Tisch mit Bänken, den Wänden entlang waren Pritschen und ein 
gewaltiger Ofen, drei große Fenster spendeten Licht.“
342
Wenngleich weder Kon und Deutsch noch, einige Jahre später im für sein hartes Regime 
berüchtigten Gefängnis von Akatuj, Frejfel’d und anderen Betten zur Verfügung standen 
– diese exzeptionellen Bedingungen sind nur aus Mal’cevskaja bekannt –, waren mitge­
brachte Matratzen oder ordentlich gefüllte Heusäcke und Kopfkissen zum Schlafen auf 
den  nary, den Pritschen, vorhanden, und die Zellen waren nur soweit belegt, dass die 
Räume einigermaßen sauber und ordentlich gehalten werden konnten.
343
 Kakerlaken (ta­
rakany) waren aber unvermeidbar. Čujko und seine Gefährten trafen jedenfalls bei ihrer 
Ankunft im noch leeren, eben erst erneuerten Gefängnis von Akatuj bereits auf diese un­
geliebten Mitbewohner.
344
 In Akatuj gab es für jede Zelle einen Abortraum, in Nižnjaja 
Kara einen für alle vier Kammern. Weil die Türen nachts geschlossen wurden und den 
Häftlingen der Zugang zu den Abtritten daher verwehrt war, kam auch hier – wie in den 
Etappengefängnissen – die paraša zum Einsatz, der hölzerne Eimer für die Exkremente, 
der ein ständiges Ärgernis und ein Paradies für das Ungeziefer darstellte sowie die Ver­
mehrung von Krankheitserregern beförderte. Die hygienischen Verhältnisse waren stets 
prekär, wenn sie auch in den Katorga-Gefängnissen besser waren als unterwegs.
345
 So er­
staunt es nicht, wenn Deutsch den – nicht allzu häufigen – Besuch des Badehauses als 
besonderen Genuss empfand; die Sauna gab in erster Linie das Gefühl der Sauberkeit 
zurück und war darüber hinaus eine willkommene  Abwechslung im Alltag. Danach 
wechselten   die   Häftlinge   die   Kleider   und   genossen   die   Behaglichkeit,   die   es,   wie 
Deutschs Schilderungen nahelegen, selbst unter den Bedingungen der transbaikalischen 
340 Bei  S
TARK
 Frauen, S. 100, heißt es (im Unterkapitel „Baracken“): „Dennoch versuchten die Frauen 
auch unter den Haftbedingungen, soweit irgend möglich, ihrer Umgebung eine gewisse Wohnlichkeit 
zu verleihen.“ Die Männerbaracken waren, wie aus einer Erinnerung zitiert wird, kahl, während in den 
Frauenbaracken Bilder und Fotos aufgestellt und, ähnlich wie in Mal’cevskaja, aus Kisten Möbel ge­
fertigt wurden.
341 K
ON
 Pod znamenem, S. 261.
342 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 197. 
343 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 198, und F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 78.
344 Č
UJKO
 God, S. 105. Vgl. auch D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 280.
345 Vgl. den Plan des Gefängnisses von Nižnjaja Kara im Anhang S. 160 sowie F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 
78, und die Ausführungen bei K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 99. Auch K
ENNAN
 Siberia II, S. 227, lässt sich 
über die sanitären Bedingungen 1882 im damals eben erst errichteten politischen Gefängnis negativ 
aus.
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