OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
rer Gegensätzlichkeit und Differenziertheit umso erstaunlicher sind Zeugnisse anderer
hier mehrfach zitierter
katoržane. Melkov empfand den Etappenweg im Sommer durch
Westsibirien als „absolut angenehme, interessante Wanderung“, wäre er nicht zu oft mit
Beamten an den Etappenzielen aneinandergeraten; dennoch hebt er die gute Stimmung
unter den Gefährten hervor, sieht ein „neues Leben, neue interessante Begegnungen“ vor
sich und beurteilt, ziemlich abgeklärt, die bevorstehende Katorga als „wertvolle Stufe
auf der Treppe des Lebens, als meine politische Universität“.
275
Nüchterner beschreibt
Kon die – zumindest anfängliche – Erfahrung auf dem Weg:
„Die ersten Tage der Etappenreise brachten einige Befriedigung: Du siehst eine neue
Welt, du siehst ein bisher vollkommen fremdes Leben, viel Vergnügen bereiten die klei
nen Kinder, die sich zwischen den Erwachsenen herumtreiben und ‹Partie› spielen oder
deren Begleitsoldaten.“
276
Während bei Kennans Einschätzung vielleicht gerade der Verweis auf die europäischen
oder amerikanischen Erfahrungen (die Kennans eigenen Hintergrund darstellen) die
Heftigkeit der Schilderung erklärt, wirft Melkovs Beschreibung die Frage auf, in wie
weit sich die beim Niederlegen der Erinnerung bereits zurückliegende Katorga-Erfah
rung im Text spiegelt. Mel’šin-Jakubovičs und Zubkovskijs Wahrnehmungen wiederum
könnten den Standesunterschied reflektieren, im Sinne von Bruce Adams’ – etwas pau
schal – den politischen Sträflingen der Zarenzeit unterstellter Verzerrung der Wahrneh
mung des russischen Gefängniswesens.
277
Ohne
das Elend, die
Unbill und die physischen
Leiden relativieren und die Bewältigung des Raumes und die Konstituierung der Kat
orga durch die Reise nach Osten verklären zu wollen, bleibt es doch erstaunlich, welche
differenzierten, die Umgebung würdigenden Beobachtungen und positiven Erlebnisse in
den Beschreibungen Platz finden. Es lässt sich nicht leugnen, dass zwischen Kennans
Außensicht und der Innensicht der meisten der hier zu Wort gekommenen
katoržane
eine Wahrnehmungsdifferenz besteht.
Auch über die Jahrhundertwende hinaus, als sich die Reise nach Osten, in die „andere
Welt“ der transbaikalischen Katorga, grundlegend veränderte, blieben die Eindrücke der
Sträflinge vom Fußmarsch überraschend positiv. In vergleichsweise bescheidenen 22
Tagen, erst mit dem Schiff bis Čeljabinsk, anschließend mit der Eisenbahn – die Nächte
verbrachten die Verbannten meist in Gefängnissen größerer Städte –, erreichte Irina Ka
chovskaja Sretensk; den Weg von dort durch die Etappengefängnisse zur Nerčinsker
Katorga schildert sie als relativ friedlich.
278
Antonija Pirogova war froh, nach der wo
chenlangen Zugfahrt die frische Luft einatmen und die freie Natur genießen zu kön
nen.
279
Die Eisenbahnreise – im Unterschied zu den Gulag-Transporten nicht in ver
schlossenen (Vieh-)Waggons – brachte eine neue Begegnung mit dem Imperium. Als
Aleksandra Izmajlovič, die bekannte Terroristin Marija Spiridonova und andere poli
tische Katorga-Häftlinge 1906, mitten in den auf die Revolution folgenden Wirren, von
275 M
ELKOV
Put’, S. 88f.
276 K
ON
Pod znamenem, S. 234.
277 Vgl. A
DAMS
Politics, S. 4–6.
278 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 66–70.
279 P
IROGOVA
Na ženskoj katorge, S. 148. I
ZMAJLOVIČ
Iz prošlogo [Teil 2], S. 169, zeigt sich
überrascht von
der Freundlichkeit der Begleittruppen. Überdies wurden ihnen
zwei Wagen (tarantasy) zur
Verfügung
gestellt.
60
3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Moskau nach Sretensk gebracht wurden, säumten (und behinderten) an großen Halte
bahnhöfen wie Kurgan und Omsk zeitweise größere Trauben von Demonstranten die
Schienen; diese begrüßten Spiridonova und ihre Genossinnen, die ihrerseits auf die
Plattformen der Wagen traten und ihre Parolen zum besten gaben.
280
Wie viel davon Er
innerung
und wie viel Propaganda ist, lässt sich nachträglich nicht mehr eruieren.
Nicht nur die Bewältigung des Raumes und dadurch die Art des Eintauchens in die
„andere Welt“, auch die soziale Konstituierung der Katorga veränderte sich unter den
neuen Vorzeichen der verkehrstechnischen Errungenschaften. Auf dem Weg nach
Transbaikalien blieben die „Politischen“ weitgehend unter sich, nicht zuletzt deshalb,
weil durch die Neuordnung des Verbannungssystems 1900 die Zahl der Verbrecher, die
zu Katorga-Strafen
verurteilt wurden, stark zurückgegangen war.
281
3.2.7. Die „Weltreise“ nach Sachalin
Nicht in ihrer Funktion, wohl aber in ihrer Ausprägung noch einmal gänzlich anders ge
staltete sich die Reise in die Katorga auf der fernöstlichen Insel Sachalin. Die Über
führung in eine „andere Welt“ wurde den Betroffenen doppelt vor Augen geführt: Sa
chalin als Insel bedeutete, zum einen, gleichsam eine Endstation und bildete innerhalb
der Katorga einen eigenen Kosmos; zum andern führte die Reise zumeist über die Welt
meere ans andere Ende des russischen Imperiums.
282
Von Moskau wurden die Häftlinge
im Zug nach der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer gebracht, wo sie in der Qua
rantäne auf die Weiterreise warten mussten. Diese führte anschließend via Suez, Colom
bo, Singapur, Nagasaki und Vladivostok nach Sachalin.
283
Anatolij Ermakov, der 1901
als „Politischer“ auf das fernöstliche Eiland geschickt wurde, empfand die zweimona
tige Schiffsreise, ohne auf ihre Route einzugehen, als „langweilig“ und „nicht besonders
angenehm“:
„Wir saßen im Laderaum ein, und wir kribbelten dort herum, genau [wie] ein Fisch im
Fischernetz. Schwüle, Hitze, Schaukeln … Vergeblich erschreckte uns der Kommandant
des Dampfers […] damit, dass er, falls wir im Sinn hätten zu meutern oder eine Flucht
planten, uns bändigen könne und alle, wie Wanzen oder Kakerlaken, mit Dampf verbrü
he[n würde].“
284
280 I
ZMAJLOVIČ
Iz prošlogo [Teil 2], S. 155–157. Die Armeeeinheiten griffen in Omsk nicht ein; vielmehr
bat der Kommandant die Frauen, sie möchten die Demonstranten auffordern, den Zug wieder frei
zugeben. In der Folge schirmten Soldaten bei Haltebahnhöfen den Wagen mit den Gefangenen ab. Iz
majlovič schreibt, dass sie und ihre Gefährtinnen die Soldaten bei dieser Gelegenheit „aus vollem
Herzen“ agitiert hätten, ebd., S. 158. Die Eisenbahnarbeiter hätten „allgemein oft von ihrem fak
tischen
Recht Gebrauch gemacht, Herr über die Schienen zu sein“, bemerkt sie (S. 161).
281 Vgl. M
ARGOLIS
Sistema, S. 140, und die Bemerkungen dazu im Kap. 3.1.1. (S. 35).
282 Die Alternative dazu bildete die Verlängerung des Wegs von Sretensk nach Nikolaevsk-na-Amure;
von dort setzte die Reisegruppe mit Schiffen nach Sachalin über. Vgl. den Reisebericht Anton Če
chovs „Iz Sibiri“, der den Prolog zu seinem Bericht „Ostrov Sachalin“ darstellt (Č
ECHOV
Iz Sibiri, S.
7–42). Er reiste auf dem Landweg nach Nikolaevsk. Zum „Kosmos Sachalin“ vgl. die Ausführungen
im Kap. 4.7 (S. 166).
283 E
RMAKOV
Dva goda, S. 155, und D
E
W
INDT
Siberia, S. 10.
284 E
RMAKOV
Dva goda, S. 156.
61