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Adorno nennt das umrissene Verfahren in
Zur Schlußzene des Faust „Ale-
xandrinismus“: „Auslegende Versenkung in überlieferte Schriften“, für die
„manches“ in der „gegenwärtigen geschichtlichen Lage“ spreche. Im vor-
ausgesetzten Text finde das „ausgesparte eigene“ Schutz. (GS 11, 129) Der
„Alexandrinismus“ bei Benjamin „transponierte“ laut Adorno „die Idee des
heiligen Textes […] in eine Aufklärung, in die umzuschlagen nach Scholems
Aufweis die jüdische Mystik selber sich anschickte.“ Die Praxis der „auslegen-
den Versenkung“ ist nach Adorno eine Reaktion auf den Verfall der Religion,
zugleich „Chance fürs theologische Erbe, das in jener sich verschwendet.“
(GS 10.1, 245) Profane Texte wie heilige anzuschauen, bedeutet freilich nicht,
sie schlechthin zu
heiligen Texten zu erklären, in ihnen findet sich vielmehr
eine „Deutung des Ausdrucks“, den „vergangene Zeiten“ dem „falschen
Daseienden“ gaben.
351
„Die Interpretation beschlagnahmt nicht, was sie fin-
det, als geltende Wahrheit und weiß doch, daß keine Wahrheit wäre ohne das
Licht, dessen Spur in den Texten sie folgt.“ (GS 11, 129) Das Licht weist
auf die „Formkonstruktion“ nach dem Idealbild „inverser Theologie“ hin,
obwohl für diese profane Exegese nicht notwendigerweise religiöse Themen
eine Rolle spielen müssen. An vielen Stellen geht Adorno sogar weit darüber
hinaus und überträgt die Metaphorik von Text und Kommentar mit Benja-
min – der genau das allerdings als theologisch bezeichnet hätte – auf die Deu-
tung der gesellschaftlichen Wirklichkeit: „Lesen des Seienden als Text seines
Werdens“. (GS 6, 62)
352
Ausgemacht ist jedoch: Wie die mystische Erfahrung
an heiligen Schriften hängt, so die metaphysische an profanen. Das müssen
nicht unbedingt die kanonischen Texte der philosophischen Tradition im obi-
gen
Sinne sein, ebenso wertvoll sind literarische.
Was Proust an Illiers aufging. Wie um den
Anspruch eines Denkens in
Fragmenten und Kommentaren exemplarisch zu bündeln, entpuppt sich
Adornos wohl berühmteste Aussicht auf die erlöste Menschheit im Aphoris-
mus
Sur l’eau der
Minima Moralia bekanntlich als eine Collage von Proust, Guy
de Maupassant, Hegel und Kant:
351
Tiedemann.
Abenteuer anschauender Vernunft. S. 9.
352
Diese Wirklichkeit
ist selbstverständlich kein Text, sondern ihre „Elemente“ können „zur
Schrift zusammentreten.“ (GS 6, 399) Es wäre zu diskutieren, ob nicht auch in der Entziffe-
rung der Gesellschaft als Text eine religiöse Idee, etwa die des ‚Buchs der Natur‘ als sichtbarer
Offenbarung, ihre säkularisierte Rezeption findet.
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„Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus
Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne
einzustürmen. […] Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich
in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und
Erfüllung‘ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft
das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.
Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der
vom ewigen Frieden.“ (GS 4, 179)
353
Für die (bei Adorno seltene) Aneignung von Texten in literarischen Monta-
gen, die dadurch zum Sprechen gebracht werden sollen, dass sie in einen völ-
lig neuen Sinnzusammenhang gestellt werden,
steht Benjamins
Passagenwerk.
(vgl. BGS V.1, 572) Indem Adornos
Sur l’eau den Titel eines Maupassant-Text
von 1876 übernimmt, Proust paraphrasiert, Hegel zitiert und Kants ewigen
Frieden aufruft, überführt er alle vier in sein Bild einer des Fortschritts-
wahns überdrüssigen Utopie. Insbesondere identifiziert er sein diesbezügli-
ches Anliegen dabei mit demjenigen Prousts.
354
An
Scholem schrieb er bei
der
Übersendung seiner
Kleinen Proust-Kommentare, bei deren Niederschrift
er an ein Gespräch zum Thema in Sils gedacht habe: „Im Grunde geht es
hier um nichts Geringeres als um die Aufklärung als Rettung der Theologie.“
([18.5.1957] BW 8, 169) Im letzten der
Kommentare hatte Adorno geschrieben:
„Prousts Geist war metaphysisch ganz und gar inmitten einer Welt, welche
die Sprache von Metaphysik verbietet: diese Spannung bewegt sein ganzes
Werk.“ (GS 11, 213) Scholem war damit ganz einig, bereits 1930 hatte er in
seiner Totenrede für Franz Rosenzweig Prousts Hauptwerk
A la recherche du
temps perdu als eines „absolut theologischen Charakters“ bezeichnet.
355
In seine
353
„Beim Verlassen des Parks gewinnt die Vivonne ihre Strömung zurück. Wie oft habe ich
dann einen Ruderer gesehen – wie oft mir gewünscht, sobald ich einmal ganz nach meiner
Neigung leben könnte, es ihm nachzutun –, der mit eingelegten Riemen und zurückgelegtem
Kopf flach auf dem Rücken liegend den Nacken treiben ließ, nichts sah als den Himmel,
der langsam über ihn dahinzog, und auf seinem Antlitz einen Vorgeschmack des Glücks,
des Friedens trug.“ (Proust.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1. S. 249) „Die einfache
Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck und bezieht sich auf den Unterschied von
dem Vermittelten. In ihrem wahren Ausdrucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das
reine Sein. Wie das reine Wissen nichts heißen soll als das Wissen als solches, ganz abstrakt,
so soll auch reines Sein nichts heißen als das Sein überhaupt; Sein, sonst nichts, ohne alle wei-
tere Bestimmung und Erfüllung.“ (Hegel.
Wissenschaft der Logik. S. 67) Vgl. Kant.
Zum ewigen
Frieden.
354
Vgl. Duckheim.
Alles ganz anders.
355
Scholem
. Franz Rosenzweig. S. 533.