Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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die erlösungsbedürftige Welt parat.
450
 Wenn man das zugibt, scheint Adornos 
Weg plausibler zu sein. Scholem deutet die Sinnlosigkeit der Welt als Rück-
zug Gottes von „höherer Notwendigkeit“, aber das verschiebt das Problem 
nur in eine Hinterwelt: Wie hoch auch immer die Notwendigkeit sein mag, 
sie wird von den gleichen Problemen ereilt. Der Adornosche Negativismus 
erweist sich dagegen als tragfähigere Alternative, weil er die Perspektive auf  
die Immanenz verschiebt. Damit gäbe es zwar keine aus dem Sakralen allein 
mehr legitimierte Kunst, aber eben ungebrochen eine, die aus der Profanität 
heraus traditionell sakrale Motive – d. h. wohl primär den Gedanken ans ‚ganz 
andere‘ – ansprechen kann. Diese muss sich nicht den Anschein geben, auf  
ein kohärentes Glaubenssystem zu verweisen: sie speist sich aus Erfahrungen. 
Wäre  die  religiöse  Erfahrungsdimension  Kriterium  der  Mystik,  dann  hätte 
man es in der Tat mit einer säkularisierten Mystik zu tun, auch wenn ihre Rufe 
im gottentleerten Kosmos verhallten. Dass „auf  Gottverlassenheit ein Verlaß 
ist, während das heilige sich entweder ereignet oder es bleiben läßt“, schrieb 
in ähnlichem Sinne Ulrich Sonnemann.
451
 Die Frage, ob sakrale Kunst noch 
möglich sei, hängt bei Adorno jedoch an der grundsätzlicheren, ob gelingende 
Kunst im Spätkapitalismus überhaupt noch möglich sei.
452
Eine unterirdische mystische Tradition? Der zweite Einwand Scholems 
bezog sich auf  Adornos Versuch, eine historische Erklärung für Schönbergs 
„Mystik“ zu finden:
„Zu  fragen  ist,  was  angesichts  so  immenser  Schwierigkeiten  die  Konzeption 
des Werkes, wie fast zwanzig Jahre vorher die der Jakobsleiter, hervortrieb. […] 
Zunächst  bot  den  Anstoß  gewiß  Schönbergs  individuelle  Verfassung.  Obwohl 
seine Eltern schon nicht mehr orthodox gewesen zu sein scheinen, ist, bei dem 
Nachkommen  von  Pressburger  Juden  aus  einer  schwerlich  ganz  emanzipierten 
Familie der Leopoldstadt, eine unterirdische, mystische Tradition zu vermuten wie 
bei  mancher  seiner  Zeitgenossen  ähnlichen  Ursprungs,  Mahler,  Kraus,  Kafka.“ 
(GS 16, 459 f.)
450 
Steven Wasserstrom weist Adornos Profanisierungspostulat als Abwertung jüdischer Lebens-
praxis zurück. (vgl. Wasserstrom. 
Adorno’s Kabbalah. S. 57).
451 
Sonnemann. 
Das Unheilige am Bekenner.
452 
Die 
Ästhetische Theorie beginnt in diesem Sinne mit dem Satz: „Zur Selbstverständlichkeit wur-
de, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem 
Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“ (GS 7, 9) Zum „Ende der Kunst“ 
vgl. Steinert. 
Die Entdeckung der Kulturindustrie. S. 192 ff.


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Zwar  hat  Adorno  diese  These  gleich  wieder  relativiert:  Schönberg  habe 
„latent theologische Züge über solche biographischen Zusammenhänge hin-
aus.“ Letztlich habe ein „Objektives“ sein Werk ganz unabhängig davon, was 
seine persönliche Motivation gewesen sei, zum Religiösen getrieben. (a. a. O.) 
Dennoch  hält  es  Adorno  für  plausibel,  anzunehmen,  dass  die  subjektiven 
Intentionen  Schönbergs  sich  auf   „eine  unterirdische,  mystische  Tradition“ 
zurückführen ließen. Dass Adorno das musikalische „Bild des Bilderlosen“ 
mit einer Nennung Gottes identifizierte, die dem jüdischen Bilderverbot ähn-
lich sei, (a. a. O., 458) schien Scholem bedenkenswert: „Jüdische Musik scheint 
ja etwas geradezu Unfaßbares zu sein […].“ Doch die versteckte Bindung an 
eine mystische Tradition könne er sich „höchstens unter Jungianischen Hypo-
thesen  vorstellen.  Und  von  denen  bin  ich  nicht  gerade  überzeugt.“  Wenn 
überhaupt, gebe die „Struktur“ der musikalischen Produktivität der genann-
ten Künstler eine Parallele oder Ähnlichkeit zur Mystik her. An einen realen 
„historischen Faden“ der Überlieferung, „sei er auch noch so dünn“, könne 
er jedoch „gerade nach dem, was ich über die Geschichte der mährischen und 
böhmischen Juden im 19. Jahrhundert weiß“, nicht glauben. (BW 8, 305)
Inzwischen  sind  die  historischen  Kontexte  besser  erforscht:  Schönberg 
hat sich seit den 1920er Jahren wieder stärker mit dem Judentum beschäftigt, 
zuweilen wurde auch auf  kabbalistische Ideen hingewiesen.
453
 Es ist jedoch 
fraglich, wie weit man daraus eine „unterirdische, mystische Tradition“ kon-
struieren kann, die dessen religiöse Interessen oder die sakralen Deutungs-
möglichkeiten  seines  Werks  erklären  würde.  Auch  zahlreiche  Strömungen 
moderner  Esoterik  hinterließen  beispielsweise  ihre  Spuren  bei  Schönberg, 
Webern,  Alban  Berg  oder  Alois  Haba.  Die  weiteren  Kontexte  reichen  von 
Swedenborg, Honoré de Balzac und August Strindberg zu Kandinskys 
Das 
Geistige in der Kunst.
454
 Adorno selbst machte in Balzacs 
Seraphita eine Haupt-
quelle der Theosophie Bergs und Schönbergs aus; und vermutete auch hier 
Einflüsse auf  
Die Jakobsleiter.
455
 Im letzteren Oratorium tauchen sogar Rein-
karnationsmotive auf, die wohl aus der Blavatsky-Theosophie des 19. Jahr-
hunderts  stammen.
456
  Auf   diese  (neo-)theosophische  Tradition  wurde  auch 
453 
Vgl. Allende-Blin. 
Arnold Schönberg und die Kabbala.
454 
Vgl. zu diesen Hintergründen Gratzer. 
Zur „wunderlichen Mystik Alban Bergs, Hanegraaff. The 
Unspeakable and the Law, v. a. S. 332 ff.
455 
Vgl. GS 13, 351, Gratzer. 
„Zur wunderlichen Mystik“ Alban Bergs. S. 153.
456 
Vgl. Zander. 
Geschichte der Seelenwanderung. S. 534 f.


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