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Daniela Molzbichler
SWS-Rundschau (
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eine proletarische Kultur. Einen Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung mit
dem Begriff Kultur finden wir
bei Nietzsche:
»Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Kultur auf Erden angefangen hat!
Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des
Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden,
warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüch-
tende Rassen, oder auf alte mürbe Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzen-
den Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte« (Nietzsche
/ , .).
Während WissenschafterInnen und PhilosophInnen des
. und . Jahrhunderts eher
versuchten, Kultur in einem anderen Licht, in einer neuen Perspektive zu sehen – viel-
leicht auch dem Wort eine zusätzliche Bedeutung zuzuschreiben –, so wird in jüngerer
Zeit und vor allem im Bereich der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Kultur »zer-
klärt«: Es gibt eine nahezu unendliche Fülle an variierenden und teilweise sogar gegen-
sätzlichen Begriffsdefinitionen, die wiederum stets Einblick in die »Kultur des Definie-
renden« geben.
Bereits vor
lassen sich diese unterschiedlichen Sichtweisen auf Kultur erken-
nen: Im Gegensatz zu Tylor etwa gilt Franz Boas als Vertreter eines kulturellen Relati-
vismus (Boas
). Boas, emigrierter deutscher Jude, gilt als Vater der US-amerikani-
schen Kulturanthropologie. Er spricht in seinen Werken von einer »Kulturbrille«, die
jede Person trägt, und durch die wir blicken, die Welt um uns herum erkennen und in-
terpretieren (Boas
, Monaghan/ Just ). Neben seinen KollegInnen ist vor allem
Ruth Benedict (
) hervorzuheben, die von »patterns« spricht – von kulturbedingten
Grundmustern menschlichen Verhaltens, die jeweils einem psychologischen Grund-
muster unterliegen: Das Konzept eines so genannten »Kulturcharakters« entsteht. Eine
ähnliche Perspektive zeigt Margaret Mead auf. Auch sie ist Anthropologin, Schülerin
von Boas, und meint, dass jeder Kulturtypus einen bestimmten Persönlichkeitstypus
signifikant häufig hervorbringt. Bei ihren Feldforschungen in der Südsee untersuchte
Mead auch das Zusammenleben der Geschlechter und beeinflusste mit ihrer Kritik an
der sozialisationsbedingt minderen Rolle der Frau in der US-amerikanischen Gesell-
schaft die Frauenbewegungen der
er-Jahre (Mead ).
Nicht wegzudenken ist auch Claude Lévi-Strauss, der sprachwissenschaftliche Me-
thoden auf die Erforschung außereuropäischer und vorindustrieller Kulturen übertrug.
Er vertritt die Gleichrangigkeit des »wilden Denkens« mit dem »europäisch-zivilisier-
ten« (Lévi-Strauss
).
Die These des kulturellen Relativismus spielt bei vielen Kulturbeschreibungen eine
entscheidende Rolle. Im Sinne von Lévi-Strauss wird von der Gleichrangigkeit aller
Kulturen ausgegangen – dieses Prinzip steht im Gegensatz zum Eurozentrismus und
zur kolonialistischen Mentalität. Sie widerspricht vor allem auch den Vorstellungen von
Kultur des französischen
. Jahrhunderts und der späteren deutschsprachigen Verwen-
dung des Begriffs im Sinne von »Hochkultur«. Problematisch wird die These des kultu-
rellen Relativismus dann, wenn behauptet wird, dass kulturell bedingte Überzeugungen
beispielsweise historisch gewachsen sind, und dass sie nicht außerhalb dieses Kontexts
bewertet oder kritisiert werden dürfen. Wenn etwa ein Gericht innerhalb der Europäi-
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Kulturen in Konflikt? Vom Umgang mit Konflikten in interkulturellen Beziehungen
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schen Union bei Ehrenmorden (beispielsweise wenn ein Vater seine Tochter wegen Un-
gehorsams tötet) Strafmilderung erteilt, da dies Teil der Kultur und Religion des Ange-
klagten sei, erhält der kulturelle Relativismus einen schalen Beigeschmack.
Seit Beginn des
. Jahrhunderts steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, ob sich
Kulturdefinitionen primär auf die Person beziehen (wie wir dies bei Benedict
, Boas
, White , Mead und Lévi-Strauss nachlesen können) oder ob Kultur
etwas »Äußerliches« ist, das auf Menschen einfließt, indem »Kultur« von außen auf sie
wirkt (siehe etwa Lowie
und Kroeber/ Kluckhohn ).
Ab Mitte des
. Jahrhunderts wird eine genaue Darstellung der Kulturdefinitio-
nen immer schwieriger. Jede Wissenschaftsdisziplin bietet verschiedenste Begriffsklä-
rungen von Kultur, die ihrerseits wieder weiterentwickelt werden. Daraus entsteht eine
Fülle an unterschiedlichen Erklärungen, die nicht mehr überschaubar sind.
2.2 Kultur als mentale Programmierung
Aus dieser unendlich scheinenden Fülle an Definitionen möchte ich einen der bedeu-
tendsten und strittigsten Ansätze für Kulturunterschiede hervorheben, nämlich jenen des
Niederländers Geert Hofstede (
, , ) Auch Hofstede ist sich der vielschichti-
gen Bedeutung von »Kultur« bewusst und versucht, zwischen einem Begriff im engeren
Sinne, er bezeichnet dies als »Kultur I«, und einem Begriff in einem weiteren Sinne, als
»Kultur II«, zu unterscheiden. In Anlehnung an das am meisten verbreitete Verständnis
von »Kultur« wird Kultur I als Zivilisation im Sinne von »cultura animi« verstanden.
Interessanter für ihn ist jedoch Kultur II, denn hier findet »... die kollektive Pro-
grammierung des Geistes (statt), die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von
Menschen von einer anderen unterscheidet« (Hofstede
, ). Nach Hofstede wird
Kultur II erlernt. Er ist davon überzeugt, dass »… die Persönlichkeit eines Individuums
dessen einzigartige Kombination mentaler Programme (ist), die es mit keinem anderen
Menschen teilt. Sie begründet sich auf Charakterzüge, die teilweise durch die einmalige
Kombination von Genen dieses Individuums ererbt und teilweise erlernt sind« (Hofste-
de
, ). Die mentale Software »… bestimmt die verschiedenen Muster im Denken,
im Fühlen und im Handeln. Sie kann Aufschluss darüber geben, welche Reaktionen
angesichts der persönlichen Vergangenheit wahrscheinlich und verständlich sind ...«
(Hofstede
, ), wobei jede Person die Option besitzt, davon abzuweichen oder et-
was zu verändern.
Die Quellen für die mentale Programmierung sind im sozialen Umfeld zu finden.
Es gibt verschiedene Ebenen dieser mentalen Programmierung, wie etwa die regionale,
religiöse oder sprachliche Zugehörigkeit, das Geschlecht, die Generation, die Ausbil-
dung oder der Arbeitsplatz. Aufgrund der widersprüchlichen mentalen Programme in
jedem Menschen ist dessen Verhalten in einer neuen Situation schwer vorauszusehen.
Fest steht nach Meinung Hofstedes jedoch, dass die religiösen Anschauungen oder wis-
senschaftlichen Theorien einer Person zu jener mentalen Software passen, mit der sie
in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz programmiert wurde und wird. Somit
sind diese verschiedenen mentalen Programmierungen für kulturelle Unterschiede ver-
antwortlich und kein Mensch besitzt die gleiche mentale Programmierung.