Rudolf steiner



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keinen Wert hat. Man vergißt dabei nur, daß wir auf dem besten


Wege zu einem Standpunkte sind, den wir für längst überwunden
halten: auf dem Wege zum blinden Dogmenglauben.

Die Abweisung des souveränen Denkens, verbunden mit dem


Pochen auf die Aussprüche der Erfahrung, ist für eine tiefere Auf-
fassung ganz dasselbe wie der blinde Offenbarungsglaube einer
abgetanen Theologie. Der Theologie werden Wahrheiten über-
liefert, die sie hinnehmen muß, ohne nach den Gründen fragen
zu dürfen, ohne vermöge des eigenen Denkens daraufkommen zu
können, warum das wahr ist, was sie für wahr halten muß. Sie ver-
nimmt die Botschaft und muß ihr Glauben entgegenbringen. Das
Denken hat nichts zu tun, als die fertige Wahrheit in eine für den
Menschen geeignete Form zu bringen. Nicht anders ist es mit der
bloßen Erfahrungs-Wissenschaft. Nach ihrer Ansicht gilt nichts
für wahr, als was die Tatsachen verkünden. Man soll beobachten,
ordnen, sammeln, sich aber ja alles Nachdenkens über die innern
Triebfedern der Ereignisse, denen wir gegenübertreten, enthalten.
Auch die Erfahrungswahrheiten werden uns ja von außen her
fertig übermittelt. Die Kirche forderte vom Denken Unterwerfung
unter die Offenbarung, die Erfahrungswissenschaft fordert Unter-
werfung unter die zufälligen Aussprüche der Tatsachenwelt.

Und auf dem Gebiete der praktischen Philosophie, wohin sind


wir gelangt? Der rote Faden, der sich durch das Denken aller
Geister der klassischen Periode durchzieht, ist die Anerkennung
des freien Willens des Menschen als höchster Macht seines Geistes.
Diese Anerkennung wird zuweilen sehr leicht genommen. Wenige
wissen, daß sie in ihrer vollen Tiefe erfaßt geradezu die Keime zu
einer religiösen Ansicht der Zukunft bildet. Wer dem Menschen
den freien Willen im höchsten Sinne des Wortes zuerkennt, muß
jeden inner- oder außerweltlichen Einfluß auf die Taten seines
Geistes leugnen. Er muß ihn völlig auf sich selbst, seine eigene
Persönlichkeit verweisen. Keine «göttlichen Gebote», kein «Du
sollst», wie es die Religionen haben, kann er für das sittliche
Leben des Menschen gelten lassen. Ziel und Zweck seines Daseins
muß der Mensch aus sich selbst schöpfen.

Seine Bestimmung ist nicht die, die ihm ein «ewiger Ratschluß»

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Gottes zuweist, sondern die er sich selbst gibt. Er erkennt über


sich keinen Gebieter. Diese Ansicht erhöht das Bewußtsein der
menschlichen Würde unendlich. Um sie zu hegen, braucht man
aber jenes Vertrauen in die eigene Vernunft, das wir nicht mehr
oder wenigstens nicht in dem Maße mehr haben wie zur Zeit der
klassischen Epoche unserer Philosophie. Diese Ansicht muß es
eben aufgeben, Trost in der Religion oder in dem Bewußtsein der
Gotteskindschaft überhaupt zu finden, sie muß Trost in der eige-
nen Brust des Menschen suchen. Sie muß es aufgeben, ein gott-
gefälliges Leben zu führen, und einzig und allein die eigene Ver-
nunft als Führerin anerkennen. Mit dieser Ansicht fühlt sich der
Mensch erst völlig frei. Es war ein ungeheurer Schritt nach vor-
wärts in der Erziehung des Menschengeschlechtes, als die deut-
schen Philosophen diese Wahrheit in allen Formen verkündeten.
Wer erkennt sie heute als solche an? Wir glauben nicht mehr,
daß wir fähig sind, uns Ziel und Zweck unseres Lebens selbst
vorzusetzen. Wir wähnen uns am Gängelband einer ehernen
Naturnotwendigkeit, so wie sich eine abgelebte Menschheit am
Gängelband göttlicher Weisheit wähnte. Wer dazu noch das Ge-
fühl von der erbärmlichen Lage hat, in der wir sein würden, wenn
diese Ansicht die wahre wäre, der wird eben Pessimist. Und so
gilt heute der Pessimismus als die Gesinnung vornehmer Geister.
Unsere glaubensstarken Ahnen waren nur deshalb nicht Pessimi-
sten, weil sie glaubten, daß der Schöpfer allgütig und allweise
sei und zuletzt doch alles zum besten wende. Von der blinden
Naturnotwendigkeit kann eine solche Annahme nun freilich nicht
gelten.

Nur ein freies philosophisches Denken, das des höchsten Auf-


schwunges fähig ist, kann über diese Ansicht erheben. Und ein
solches war das Denken unserer klassischen Epoche.

Unsere deutsche Philosophie ist nicht die Tat eines Einzelnen,
sie ist die Tat des deutschen Volkes. Das deutsche Volk brachte
sein Bestes, sein Herzblut an die Oberfläche, und das nennen wir
deutsche Philosophie. Die Männer, die um die Wende des Jahr-
hunderts und in den ersten Jahrzehnten des unsrigen auftraten,
sie verkünden eine Botschaft, die tief aus der Volksseele entsprun-

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gen. Und nicht nur die Philosophen, auch die Dichter verkünde-
ten dieselbe Botschaft. Denn die Epoche unserer klassischen Litera-
tur bedeutet keinen einseitigen Aufschwung der Dichtung, sondern
eine Vertiefung des ganzen deutschen Wesens. Der Grund-Charak-
ter aller Schöpfungen unserer größten Zeit ist ein philosophischer.
Unsere größten Dichter mußten sich mit den philosophischen An-
schauungen der Zeit auseinandersetzen. Schiller schätzte sich
glücklich, in der Zeit zu leben, in der Kant die größten Welt-
probleme in Fluß gebracht, und es gibt philosophische Wahr-
heiten, die bis heute keiner tiefer erfaßt hat als Schiller.

Fragen wir nach dem Grunde dieser Erscheinung, so müssen wir


ihn eben in der Tiefe und Eigentümlichkeit des deutschen Wesens
suchen. Man erfaßt dieses Wesen am besten, wenn man es mit
dem alten Griechentum zusammenhält. Der Kulturhistoriker der
Zukunft wird ja gewiß dem deutschen Geiste dieselbe Bedeutung
für die Bildung der Neuzeit beilegen, wie es der heutige mit dem
Griechentum in bezug auf die Bildung des Altertums tut. Der
griechische Geist war nach außen gerichtet, er drängte zur Ge-
staltung der Sinnenwelt, um im einzelnen Kunstwerke eine kleine
Welt wiederzugeben. Was in der Natur auf eine Vielheit von
Wesen verteilt, das suchte der griechische Künstler seinem Gebilde
einzuprägen, so daß man sagen möchte, der Grieche suchte in
einem einzigen Kunstwerke alle Gesetzmäßigkeit der Natur zu
vereinigen. Als Goethe in Italien diesen Grundcharakter griechi-
scher Meisterwerke erkannte, sagte er, daß die Griechen bei ihrem
Schaffen nach eben denselben Gesetzen verfuhren, nach denen die
Natur schafft und denen er auf der Spur sei. Hierinnen spricht
sich gleich der Gegensatz und die Ähnlichkeit von deutschem und
griechischem Geist aus. Der Grieche sucht der Materie den
Schöpfungsgedanken einzuprägen, der Deutsche sucht ihn denkend
zu erfassen und als Ideenwelt, auf die er sich zurückzieht, auszu-
gestalten. Plastischer Sinn ist bei den Griechen, plastischer Geist
bei den Deutschen zu Hause. Wiederholt wurde es ausgesprochen,
was der Deutsche mit seiner Philosophie will. Er will die Ord-
nung, nach welcher die uns umgebende Welt zusammengefügt ist,
im Geiste nachschaffen.

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In diesem kühnen Sinne hat erst der Deutsche die Philosophie
erfaßt. Alle andere Weltweisheit ist bloß Vorahnung, Vorverkün-
digung dessen, was im deutschen Geiste zu einer welthistorischen
Erscheinung wurde. Die Philosophie wurde im deutschen Volke
von einer gelehrten Sache zu einer Angelegenheit der Menschheit.
In diesem Bewußtsein konnte Hegel, als er am 22. Oktober 1818
seine Antrittsrede hielt, die Worte sagen: «Diese Wissenschaft
hat sich zu den Deutschen geflüchtet und lebt allein in ihnen fort.
Uns ist die Bewahrung dieses heiligen Lichtes anvertraut, und es
ist unser Beruf, es zu pflegen und zu nähren und dafür zu sorgen,
daß das Höchste, was der Mensch besitzen kann, das Selbstbewußt-
sein seines Wesens, nicht erlösche und untergehe.» Hiermit er-
klärt sich auch die Tatsache, warum ein Philosoph es sein mußte,
der den Deutschen am besten ihr eigenes Wesen im Spiegel der
Idee zeigte. Der Grundzug deutschen Wesens ist eben ein philo-
sophischer und deshalb am tiefsten für philosophisches Nachden-
ken erfaßbar. Die «Reden an die deutsche Nation», die Fichte in
Berlin, umringt von den Heeren des Feindes, gehalten hat, sie
sind ein Schatz des deutschen Volkes.

Wenn augenblicklich die philosophische Zeitströmung in unse-


rem Volke zurückgedrängt ist, so dürfen wir freilich nicht un-
gerecht sein. Wir sind eben heute zu sehr von politischen und
wirtschaftlichen sowie von nationalen Interessen in Anspruch
genommen. Aber unbewußt wirkt ja auch in den sozialen Refor-
men im Reiche der Geist der deutschen Philosophie fort. Wir
brauchen uns nur an die Idee des «geschlossenen Handelsstaates»
zu erinnern, die Fichte vertrat. Wir geben uns dem Glauben hin,
daß in nicht zu ferner Zeit unser Volk seine Gegenwart völlig
mit seiner Vergangenheit wieder verknüpfen wird. Es muß, weil
es sich selbst verleugnete, wenn es seine Philosophen verleugnet.
Unsere westlichen Nachbarn haben uns wegen unseres Idealismus
verspottet. Wir konnten den Spott ertragen, denn den Idealismus
weiß nur zu schätzen, wer ihn hat. Heute stehen die Dinge ohne-
hin anders. Während französischer Chauvinismus am liebsten die
Waffen gegen unser Volk kehrte, vertieft sich heute französische
Gelehrsamkeit in deutsche Gedankenschöpfungen, und die Eng-

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länder wetteifern mit den Franzosen. Verknüpfung von Gegen-
wart mit Vergangenheit:
in diesem Zeichen werden wir siegen,
und unsere besten Siege werden doch die des Geistes sein.

JOHANNES VOLKELT


Ein deutscher Denker der Gegenwart

«Ehret eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister», ruft


uns treffend Richard Wagner zu. Wir kommen dieser Aufforderung
leider noch immer in ziemlich einseitiger Weise nach. Während
wir uns allerdings bemühen, immer klarere und vollständigere Bil-
der von den abgestorbenen Größen deutscher Geistesentwickelung
zu entwerfen, sind wir gegen die Lebenden oft ungerecht.

Ohne gegen die gerechte Würdigung vergangener Kultur-


abschnitte und gegen die immer zunehmende Vertiefung in das
Studium Schillers, Goethes, Herders und so weiter im geringsten
etwas einwenden zu wollen — wir anerkennen vielmehr völlig die
Notwendigkeit davon —, können wir uns doch der Einsicht nicht
verschließen, daß uns der gute Wille meist fehlt, über Größen der
Gegenwart zu einem Urteile zu kommen. Es gehört freilich weni-
ger Mut dazu, immer und immer wieder seine Bewunderung über
Goethe und Schiller auszusprechen, wobei man nirgends in der
gebildeten Welt auf Widerspruch stoßen kann, als sich für einen
Lebenden einzusetzen und hier einmal ein rücksichtsloses Wort
zu sprechen.

Da wir glauben, daß vorzugsweise eine Zeitung dazu berufen


ist, der Gegenwart zu dienen, so sei es uns hier gestattet, unser
Urteil über eine der sympathischsten deutschen Denkergestalten,
über Johannes Volkelt, zu verzeichnen.

Wir wollen von einer Tatsache ausgehen, die vielen, die in


den siebziger Jahren in Wien studiert haben, noch in lebhafter
Erinnerung sein wird. Am 10. März 1875 hielt im «Leseverein der
deutschen Studenten Wiens» Johannes Volkelt, ein damals 27 jäh-

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riger Gelehrter, einen Vortrag, der geradezu als der bedeutsamste
Beitrag zur Kulturgeschichte der Gegenwart angesehen werden muß.

In jedem Satze zeigt Volkelt, wie tief er in die Geschichte sei-


ner Zeit eingedrungen ist. Es liegt in diesem Vortrage ein erstaun-
licher Reichtum an Geist, und zwar an echt deutschem Geist.

Es ist das freilich nicht jene leichte, französierende Geistreich-


tuerei, welche die Herren Ludwig Speidel, Eduard Hanslick, Hugo
Wittmann oder gar Oppenheim und Spitzer entfalten, die angeb-
lich über irgendeinen bedeutenden Gegenstand sprechen, in Wahr-
heit aber ihr Publikum mit schalen Witzeleien und gedanken-
leeren Phrasen unterhalten. Nein, Volkelts Rede war in dem
Sinne geistreich, daß sie im rechten Augenblicke das rechte Wort
findet, das echte, kernige, deutsche Wort, das uns auch immer
unterhält, weil es uns geistig erhebt.

Volkelt mißt in diesem Vortrage unsere Zeit an dem hohen,


tief aus dem Wesen des deutschen Volkes geholten Sittlichkeits-
begriff Kants. Kant macht die Sittlichkeit einer Handlung einzig
und allein von der Gesinnung abhängig, aus der sie hervor-
gegangen ist. Eine Handlung, die allen bestehenden Gesetzen ent-
spricht, die der Mit- und Nachwelt von unabsehbarem Nutzen ist,
ist doch nicht sittlich, wenn sie nicht aus der guten Gesinnung
ihres Urhebers fließt. Wenn zwei dasselbe tun, der eine aus Egois-
mus, der andere aus Pflicht, so handelt der erste unsittlich, der
zweite sittlich. Volkelt fragt nun: Wie stellt sich unsere Zeit zu
diesen Anschauungen des Königsberger Weisen. Er kommt zu
einer traurigen Antwort. Es scheint die Ansicht fast allgemein
geworden zu sein: mit der moralischen Gesinnung kommt man
nicht weiter, man baut mit ihr keine Eisenbahnen, man gründet
mit ihr keine industriellen Unternehmungen. Man glaubt, der
Moral genug getan zu haben, wenn man mit dem Strafgesetz in
keinen Konflikt gerät. Im Herzen gut sein, das hält man für ein
Vorurteil, das man den Kindern in der Schule wohl vormachen
muß, womit sich aber im Leben nichts anfangen läßt. Es gibt
heute Kreise, die Lebensformen angenommen haben, die in ihrer
Wurzel unsittlich sind. «Mir scheint», sagt Volkelt, «daß kaum
ein Ausdruck das sittliche Leben unserer Zeit so treffend charak-

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terisiert als das Wort . Kühle Laxheit, vornehme Be-
quemlichkeit gehört zum guten Tone.»

Es gab eine Zeit, wo der Mensch das Geringste, das er zu sei-


nem Unterhalte brauchte, der Natur abringen mußte. Harte Arbeit,
einen Kampf im wahrsten Sinne des Wortes mußte er führen,
um sein Dasein zu fristen. Heute ist das anders geworden. Das
Bezwingen der Natur ist uns leicht. Wir haben Maschinen und
Werkzeuge, die das verrichten, was unsere Vorfahren mit eigener
Hand tun mußten. Wir erkennen natürlich wie jeder vernünftige
Mensch darinnen einen Fortschritt. Wir verkennen aber auch
nicht, daß gerade dieser Fortschritt Hand in Hand geht mit einem
Verfall der Charaktere, Tüchtigkeit der Gesittung. Die Mühe und
Arbeit, die ehedem der Mensch verrichten mußte, um der Natur
seinen Lebensunterhalt abzuringen, waren für ihn eine hohe Schule
der Sittlichkeit. Heute brauchen wir nur die Hand zu rühren, und
der ganze gesellschaftliche Apparat funktioniert, unsere Bedürf-
nisse zu befriedigen. Das hat zur Folge, daß sich die letzteren bis
zur Übertriebenheit steigern, daß der Mensch die Lust verliert, den
geraden und harten Weg der Pflicht zu gehen, und dafür lieber den
leichten der Bequemlichkeit wandelt. Daraus geht eine Lähmung
der persönlichen Charakterfestigkeit, der Arbeitstüchtigkeit hervor.

Ein großer Teil unserer Gesellschaft leidet an Marklosigkeit und


Knochenerweichung in geistiger Beziehung.

«Wir leben in einer Zeit allgemeiner Auspolsterung», sagt


Volkelt treffend, und fügt hinzu: «Wie sehr ich recht habe, er-
fahren Sie, wenn Sie sich in Ihrem eingerichteten
Zimmer umsehen, wenn Sie einen Gang durch die Straßen tun,
wenn Sie eine Reise unternehmen. Selbst die fernsten Gebirgstäler
sind vor Eisenbahnen und dem modernen Hotelwesen nicht mehr
sicher. Sie erfahren es, so oft Sie sich in einem Wirtshaus von den
glatt gekämmten Kellnern, diesen poesielosen Maschinen, bedienen
lassen; so oft Sie auf spiegelblankem Salonboden in Frack und
Handschuhen sich zu bewegen haben. Sie erfahren es bei jedem
Rechtshandel, in den Sie etwa geraten, bei dem einfachsten Ge-
schäfte, das Sie abwickeln sollen. Selbst der Krieg trägt heutzu-
tage den unpersönlichen, prompten Maschinencharakter.» Das ist

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eben die Zeit, in der es wenige gibt, die ein ideales Ziel im Auge
haben und, ohne Seitenblicke nach rechts oder links, rücksichtslos
auf dasselbe zusteuern; nein, wo nur jeder sich dem blinden Trei-
ben der Welt überläßt und, mit Glück und Leben ein frivoles Spiel
treibend, sich aus der gesellschaftlichen Maschine so viel heraus-
zuschlagen bemüht ist, als eben geht. Überall wird das Bequeme
jenem vorgezogen, zu dem ein Einsetzen der ganzen Persönlichkeit
gehört. Wer liest heute ein systematisches Buch, das Denkerfleiß
in jahrelanger Arbeit zustande gebracht. Nein, man liebt es, aus
«elegant» geschriebenen Feuilletons oder aus «populären», das ist
seichten Vorträgen Notiz von den zeitbewegenden Fragen zu neh-
men. Jenes ist eben mühsam und erfordert strammes Denken, die-
ses ist bequem. Im Theater wird das leichteste, gemeinste, ja blöd-
sinnigste Zeug dem Publikum geboten. Es nippt mit Behagen
daran, denn der Genuß eines Höheren erfordert auch geistige An-
strengung. Das politische Parteileben liefert überall nur Halbheit,
Opportunität zutage. Fast niemand findet sich, der ein aufrichtiges,
rücksichtsloses «Das will ich!» vernehmen läßt.

Die Festigkeit des Charakters ist in dem taumelhaften Genuß-
leben untergegangen. Allen denen nun, die von dem bösen Geist
unserer Zeit angefressen sind, empfiehlt Volkelt das Lesen der
Kantschen Schriften. Denn sie sind eine Schule für den Charakter-
schwachen. Besonders aber richtet Volkelt seine Mahnung an die
Journalisten. Dieser Stand ist es ja gerade, der die Würde des
Menschen in der eigenen Person am meisten erniedrigt, wenn er
sich zum willenlosen Werkzeug seiner Geldgeber hergibt. Der
Journalist macht seine Person zur Sache, indem er sich verkauft.

Da ist es nun merkwürdig, daß Volkelt schon 1875 angesichts


des Ausganges des Prozesses Ofenheim die Schäden des Wiener
Preßwesens ungeschminkt dargelegt hat. Er hat sich ein Beispiel
aus der Reihe jener Blätter herausgewählt, die von Moral und Ge-
sinnung nichts wissen wollen, wenn es sich um Unternehmungen
im großen Stile handelt, für die allein ausschlaggebend ist, ob bei
einem Dinge sich mehr oder weniger gewinnen läßt. Unbeschadet
des Umstandes, daß man viel aufs Spiel setzt, wenn man sich
Mächtige zum Feinde macht, wählte unser Denker das «ange-

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sehenste» Blatt Wiens, die «Neue Freie Presse», zum Gegenstande
des Angriffes. Er hatte recht, denn obwohl diese Zeitung nur von
der Phrase lebt, imponiert sie doch noch vielen. Man muß ihr zu-
nächst die Maske herabnehmen. Die anderen Blätter dieses Charak-
ters lohnen nicht einmal diese Mühe. Volkelt sagt: «Man hätte sich
nach dem freisprechenden Urteile der Geschworenen - im Pro-
zesse Ofenheim — mit sittlicher Trauer eingestehen sollen: Unser
Strafgesetz ist leider so unvollkommen, daß es die Unsittlichkeit
jener Leute nicht in seinen Schlingen fangen kann. Was geschah
aber statt dessen? Am nächsten Morgen erschien in der Freien Presse> ein Leitartikel, der den Brechreiz jedes einfach und
gesund denkenden Menschen erregen muß. Hielte man sich in den
industriellen Unternehmungen nicht an den Ofenheimschen Geist,
so verfiele man in eine Dieses Blatt geht in seiner forcierten, sich wie künstlich aufsta-
chelnden Begeisterung so weit, daß es die Freisprechung als die
höchste Leistung für das , für die ansieht. Die-
selbe Zusammenwerfung von juristischem Recht und Sittlichkeit
findet sich in einem nächsten Leitartikel. Um ihr Schoßkind
Ofenheim als sittlich völlig rehabilitiert darzustellen, sucht die
die Sittlichkeit überhaupt fortzuescamotieren.
Sie hat die Stirne, zu erklären, daß es für die Sittlichkeit über-
haupt gebe.

Ich frage: lebt nicht im Volke, lebt nicht in jedes Menschen


Brust eine Richterstimme, die ihr sittliches Schuldig und Un-
schuldig eindringlich verkündet? Die , welche
die von Recht und Gesetz verschiedene Sittlichkeit als Abstractum> bezeichnet und uns glauben machen will, daß es in
jedes Menschen Brust so dürr und paragraphenmäßig aussieht wie
in der ihrer Anhänger, möge sich vom alten Kant belehren lassen,
daß ein dem Gesetzesparagraphen entsprechendes Handeln zwar
, aber noch nicht ist. Doch wahrscheinlich weiß
das die selbst. Nur das bedrängende Gefühl, für
etwas sittlich Hohles einmal eingetreten zu sein, konnte ihr den
Satz eingeben:

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