23
(faktisch nicht existente) »Plünderer« im überfluteten New Orleans zur Folge hatte. Hier
nimmt politischer Affekt eine ganz andere Gestalt an als bei Mohrmann und Nussbaum: es
geht um historisch gewachsene Wirkkräfte, die sich in Ereignissen von politischer Tragweite
manifestieren. Zentral ist dann nicht ein Bezug dieser Affekte oder Emotionen auf normativ
ausgezeichnete Orientierungen oder Potenziale (wie die Idee der Freiheit), sondern die
konkrete Empirie eines situierten Geschehens.
47
»Politischer Affekt« fungiert bei Protevi als
diagnostischer Begriff zum Zweck der Sichtbarmachung von Wirkkräften in ihrer sozio-
historischen Konkretion; zugleich auch als kritisches Instrument, mit dem sich politisch
folgenreiche, zu Fehl- und Vorurteilen oder kulturellem Stillstand führende mentale
Formationen aufdecken lassen.
Gegenüber der engagierten Haltung Protevis – die sich auch in Blog-Beiträgen und
social-media-Kommentaren zu politischen Ereignissen zeigt – tendiert Massumi eher zum
Rückzug aus dem tagespolitischen Geschehen. Er scheint seiner evokativen Begrifflichkeit
und seinen exzentrischen Text-Kollagen allein bereits eine politisch-transformative Wirkung
beizumessen. Massumis in einer früheren Publikation programmatisch bekannter
»Aktivismus«
48
beschränkt sich – wenn man von den Aktivitäten des Montrealer SenseLab
absieht – aufs Schreiben und Sprechen.
49
Es ist angesichts der größeren Prominenz Massumis überraschend, um wie viel
anschlussfähiger sich Protevis Buch bei vergleichender Lektüre erweist. Protevi fehlt es
jedoch ein wenig an den rhetorischen Talenten, die Massumi eine gewisse faszinierende
Wirkung auf seine Erstleser sichern. Protevis Theorie-Referate fallen streckenweise recht
trocken aus. Massumi dagegen schreibt nicht nur über Affekt, sondern er schreibt auch, um
selbst zu affizieren, um Prozesse des thinking-feeling bei seinen Leser_innen anzustoßen. Auf
die Dauer kann das ermüden – vor allem, wenn suggestiv Formuliertes kaum einmal am
Material bewährt wird.
Es ist vor allem ein Aspekt, der durch die Arbeiten Protevis und Massumis für die
Thematik der politischen Affektivität ins Licht gerückt wird: die politische Subjektivierung;
und zwar vor allem mit Blick die Ressourcen und Einflussfaktoren, die zur Ausprägung
politischer Subjekte beitragen. Dieses Thema, für das nicht nur die Autoren des Anti-Ödipus,
sondern auch die Namen Foucault und Butler einstehen, ist ein blinder Fleck jener Arbeiten,
die vor allem auf die momentane Verfasstheit affektiver Vollzüge abheben. Was zu einer Zeit
47
Es ist schwer, dabei nicht auch an die Wahl Donald Trumps und deren Folgen zu denken. Massumi hatte in
seinem frühen Aufsatz Ronald Reagans Wahl zum US-Präsidenten als ein vor allem affekt-gewirktes Geschehen
beschrieben, vgl. M
ASSUMI
: »The Autonomy of Affect«, S. 101-106.
48
Vgl. M
ASSUMI
: Semblance and Event, »Introduction« S. 1-28.
49
http://senselab.ca/wp2/ (aufgerufen am 26.02.2017).
24
an einem Ort von bestimmten Individuen konkret gefühlt wird ist das Resultat vielfältiger
formativer Prozesse. Vor allem bei Protevi liegt das Augenmerk auf dem, was er an anderer
Stelle als politische Ökonomie des Bewusstseins bezeichnet:
50
Wie ist jenes Geschehen, das
Individuen in sozio-materielle Gefüge formierend einbindet, konkret gestaltet? Welche
Ressourcen der Subjekt-Formung sind in einem Gemeinwesen verfügbar, welche fehlen –
etwa, weil sie bewusst verknappt und bestimmten Teilpopulationen vorenthalten werden?
Gemeint sind etwa Praktiken des genderings und der Rassifizierung, systematische
Prekarisierung von Bevölkerungsgruppen, Defizite oder Ungleichheit im Bildungssystem,
erschwerte Lebensbedingungen infolge von Ghettoisierung, Medienpraktiken im Alltag und
die damit verbundenen Wirkweisen affektiver Kommunikation und dergleichen mehr. Protevi
klingt, wenn er entsprechende Überlegungen anstellt, ein wenig wie Félix Guattari, der in
seinen Schriften für eine »Wiederaneignung der Produktionsmittel der Subjektivität« eintrat.
51
Es handelt sich dabei um eine dringend nötige Ergänzung zu Ansätzen, die
anspruchsvolle Bedingungen an politische Emotionen formulieren. Denn wenn herrschende
Machtverhältnisse die Ressourcen verknappen, die nötig sind, um politische Subjekte mit
entsprechenden Fähigkeiten und affektiven Dispositionen hervorzubringen, dann besteht die
Gefahr, dass Theorien politischer Emotionen schlicht zu spät kommen: Der Kampf um die
Konstitution des politischen Raums und um den Zugang zu ihm könnte schon verloren sein,
ehe sich eine substanzielle politische Affektivität überhaupt geltend macht. Ausschlüsse
wirken bereits auf einer vorbewussten, materiellen und quasi-organischen Ebene, so dass die
Annahme urteilsfähiger Zuschauer und handlungsfähiger Akteure wie eine idealistische
Setzung anmuten kann.
52
An Die Perspektiven von Protevi und Massumi setzen insofern
grundlegender an, als es Ansätze tun, die von bereits konstituierten und »normal
entwickelten« Subjekten ausgehen.
53
50
J
OHN
P
ROTEVI
: Life, War, Earth: Deleuze and the Sciences, Minneapolis 2013, Kap. 5.
51
F
ÉLIX
G
UATTARI
: Chaosmose, Wien 2014, S. 22. Aus heutiger Sicht ist z.B. an die Black-Lives-Matter-
Bewegung zu denken, deren Ansinnen es ist, die systematische Ungleichbehandlung von people of color durch
Polizei, Justiz und andere Behörden öffentlich anzuprangern und zu bekämpfen.
52
Die Diskussion darüber, wie einschlägig dieser Einwand gegen Mohrmann letztlich ist, wäre erst noch zu
führen. Eine gewaltförmige, deformierende Subjekt-Genese ist natürlich damit vereinbar, dass die solchermaßen
konstituierten Subjekte politisch handeln und urteilen. Vgl. z.B. J
UDITH
B
UTLER
: The Psychic Life of Power,
Stanford, CA 1997.
53
Aus Platzgründen nicht behandelt werden können feministische, queer-theoretische und anti-rassistische
Arbeiten zu subjektivierenden Wirkungen von Affekt und zu gegenwärtigen Affektpolitiken – Texte von
Autorinnen wie Sara Ahmed, Lauren Berlant, Ann Cvetkovitch und anderen. Vgl. dazu den informativen Text
von B
RIGITTE
B
ARGETZ
: »Mapping Affects. Challenges of (Un)Timely Politics«, in: A
NGERER
/
B
ÖSEL
/O
TT
(H
G
.): Timing of Affect, S. 289-302.
25
V.
Was lässt sich als gemeinsamer Ertrag der vorstehenden Lektüren festhalten? Pointiert gesagt:
Die Fundamentaldimension des Zusammenhangs von Affekt und Politik ist die Freiheit. Hier
liegt, ungeachtet aller Differenzen, der Berührungspunkt zwischen Mohrmanns an Kant
geschultem Verständnis politischer Affekte und Massumis und Protevis spinozistischer
Perspektive. Hingegen spielt Freiheit in Martha Nussbaums Bestimmung politischer
Emotionen nur eine Nebenrolle, weshalb sich ihr Ansatz mit Blick auf die Frage nach genuin
politischen Emotionen als defizitär erwiesen hat. Freiheit ist, mit Hannah Arendt gesprochen,
der »Sinn« des Politischen – gleichermaßen Voraussetzung und Vollzugsprinzip politischer
Aktivität; das ist die Prämisse der hier rekonstruierten Diskussion.
54
Mohrmanns Verdienst ist es, die Frage nach einer politischen Affektivität und vor
allem auch die Emotionstheorie selbst auf diese Fundamentaldimension der Freiheit bezogen
zu haben. Damit hat sie aufgewiesen, dass eine Theorie politischer Affektivität zugleich eine
politische Theorie der Affektivität sein muss: Es ist derselbe Bestimmungsbereich – die
menschliche Freiheit, einschließlich ihrer Verzerrungen und Einschränkungen – in Bezug auf
welchen sowohl das Politische als auch die Affektivität erst intelligibel werden. Für
bestimmte Emotionen ist ein indirekter, aber konstitutiver Bezug auf Freiheit zentral, und
dieser Befund verweist auf einen geteilten Raum des Politischen – einen öffentlichen »Raum
der Freiheit« – für den Akteure und Zuschauer gemeinsam konstitutiv sind.
Nun droht bei Mohrmann aber eine charakteristische Gefahr, die sich aus ihrer
Orientierung an Kant ergibt. Bekanntlich hängt Kant die »Trauben« eines philosophischen
Freiheitsverständnisses sehr hoch. Der physikalistische Determinismus, der die Grundlage
seiner Naturphilosophie bildet, verbietet es Kant, Freiheit als empirisch bestimmbare Größe
zu denken. Mit verschlungenen Konstrukten wie der reflektierenden Urteilskraft und der
Selbstaffektion der Vermögen, wodurch »vernunftgewirkte« Affekte wie der Enthusiasmus
verständlich werden, versucht Kant gleichwohl einen indirekten Bezug auf die Idee der
Freiheit auszuweisen. Indem sich Mohrmann diese Perspektive zu eigen macht, kann sie zwar
einerseits ein subtiles Konstitutionsmodell des Politischen und der Affektivität entwickeln,
das jeglichen Naturalismus und Primitivismus hinter sich lässt. Andererseits hängt sie die
Messlatte für Bestimmungen politischer Affektivität ungemein hoch. Es ist insofern kein
Zufall, dass Mohrmann nur wenig über die Anwendungsoptionen ihres Ansatzes schreibt –
hier würde sie nämlich entweder eine sehr restriktive Perspektive skizzieren oder aber ihren
Ansatz deutlich aufweichen oder ausweiten müssen.
54
Insofern steht die gesamte Diskussion letztlich im Zeichen Hannah Arendts.
26
Es eröffnen sich andere Möglichkeiten, sobald man ein anderes Freiheitsverständnis
zu Grunde legt. Das geschieht – freilich nicht immer mit der nötigen Explizitheit – in der
Spinoza-Tradition, in der Massumi und Protevi zuhause sind. Bei Spinoza (und, mutatis
mutandis, auch bei Nietzsche, bei Deleuze, zum Teil bei Foucault und vielen anderen) wird
Freiheit bestimmt als das Ausmaß der Entfaltung von Wirkvermögen, als Realisierung von
Potenzialen, insbesondere im Zusammenwirken von Individuen und im Rahmen von
institutionellen Arrangements, welche die Entfaltung von Wirkvermögen ermöglichen oder
begünstigen.
55
Auch hier muss man nicht davon ausgehen, dass sich das punktuelle Vorliegen
einer unbezweifelbar »freien Handlung« empirisch bestimmen lässt. Es lassen sich aber Grade
von Freiheit bzw. Unfreiheit ausmachen, und politische Kämpfe sind dann Kämpfe für »mehr
Freiheit« bzw. gegen manifeste Unfreiheit (Unterdrückung, ungleiche Lebenschancen) in
verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens. Auch in dieser Perspektive ist ein
Konstitutionsmodell der menschlichen Angelegenheiten unverzichtbar, also ein Verständnis
davon, wie die relationalen Wirkverhältnisse in der Immanenz der einen Substanz sich jeweils
konkret verfestigen zu sozialen und mentalen Formationen, die ganz bestimmte
Wirkverhältnisse, Seinsweisen und Machtverteilungen vorrübergehend festschreiben.
56
Und
natürlich sollte das Konstitutionsmodell so umfassend angelegt werden, wie Mohrmann es
konzipiert; es sollte die menschlichen Angelegenheiten in toto umfassen. Unbedingt
verhindert werden sollte jedoch die ontologische Abdichtung und damit Festschreibung einer
bestimmten Ausprägung des Konstitutionsmodells. Das geschieht, wenn etwa Emotionen nur
noch als diese spezifischen Zustände, die im Rahmen eines bestimmten kulturellen Modells
intelligibel sind, verstanden werden – etwa als »theatrale Emotionen«, oder als bestimmte
Formate eines »Affektivwerdens der Vernunft«.
57
Bei Mohrmann besteht diese Tendenz
bezüglich des bürgerlichen Theaters als einem Universalmodell für menschliche Affektivität,
dass dann als Messlatte an andere Verständnisse affektiver Phänomene angelegt wird.
Dass sich historisch spezifische soziale Verhältnisse in menschlichen Vermögen
sedimentieren, bedeutet nicht, dass es nicht auch gegenlaufende Tendenzen eines Ausbruchs,
einer Unterminierung, einer Neu-Konstitution dieser Vermögen gibt. Der Affekt-Begriff der
Spinoza-Tradition steht unter anderem dafür: für Dynamiken, die ein im sozialen Raum
konsolidiertes Gefüge durchkreuzen, unterminieren und überschreiten – womöglich hin zu
neuen Formationen, deren Gestalt sich in der Gegenwart noch nicht ausmachen lässt.
55
Das ist natürlich nur eine grobe Andeutung. Vgl. dazu ausführlich S
AAR
: Die Immanenz der Macht.
56
Vgl. dazu auch R
AINER
M
ÜHLHOFF
, Immersive Macht. Das Subjekt im Affektgeschehen (im Erscheinen).
57
Es ist interessant, dass man der Sache nach auch in Spinozas Affektlehre ein »Affektivwerden der Vernunft«
ausmachen kann (vgl. G
ATENS
: »Affective Transitions«, S. 28-33). Es gibt somit kein kantisches Monopol auf
diesen Vollzugsmodus der Vernunft (Mohrmann deutet das auch an: vgl. S. 133).
27
Mohrmanns Konstruktivismus bezüglich Emotionen bliebe einseitig und dogmatisch, wenn
nicht auch gegenlaufende Dynamiken – destruktive, das Bestehende transzendierende
Momente – darin akut möglich wären. Dann muss aber auch die Totalumwälzung des
gesamten Theoriemodells selbst möglich sein. Und so gerät man, wie diese Formulierungen
erkennen lassen, auch auf der Theorieebene ins Fahrwasser des Politischen. Denn wenn klar
ist, dass kulturelle Formationen – einschließlich jener, die wir mit dem Ehrentitel »Mensch«
belegen – nicht sakrosankt sind, sondern dass sie im Gegenteil immer schon konstitutiv
angefochten, umkämpft und in Transformation begriffen sind, dann ist letztlich alles immer
auch eine Sache politischer Aushandlungen. Das ist gemeint, wenn von einer politischen
Theorie der Affektivität die Rede ist: die Parameter des Ansatzes selbst sind in ihrer
kontingenten Gewordenheit und somit als potenziell veränderlich zu verstehen. Das Politische
macht vor der philosophischen Theoriebildung, und sei diese noch so »ontologisch
grundlegend«, nicht Halt.
58
Die sich hier abzeichnende Annäherung der Theorieperspektiven lässt sich auch so
konkretisieren: Der Zug ins Unbestimmte, der im kantischen Enthusiasmus liegt,
unterscheidet sich am Ende gar nicht grundlegend von jener transformativen Dynamik prä-
kategorialer Affekte, auf die Massumi in seinen Texten abhebt. Man muss also nicht Kant
heißen, um die Potenziale von nicht-begrifflichen und nicht-artikulierten Affekten zu betonen,
die sich in der Relationalität von Akteuren und Zuschauern in einem Gemeinwesen
manifestieren – affektive Dynamiken, die ins Offene einer sich erst vage abzeichnenden
Zukunft weisen. In Massumis an Bergson, Whitehead und Deleuze geschultem
Erfahrungsverständnis liegt das Potenzial, Spielarten eines quasi-kantischen Enthusiasmus
auch in der Alltagserfahrung, in den unauffälligen Vollzügen täglicher Routinen zu
identifizieren. Kontingenz und Offenheit, Potenziale zur Neugründung, Freiheitsspielräume
sind viel umfassender in die menschlichen Verhältnisse eingelassen, als es Kants hochstufige
Ausarbeitung vermuten lässt. So ist der »Geschmack der Freiheit«, den die enthusiasmierten
Akteure und Zuschauer in Mohrmanns Modell auf der Zunge haben, deutlich häufiger
anzutreffen als in wenigen historischen Ausnahmesituationen. Mohrmanns Perspektive weitet
sich ohnehin fast von selbst zu einem solchen Bild aus, denn eine Pointe ihres Ansatzes ist ja
gerade, dass das Bühnenmodell des Politischen den unverzichtbaren Rahmen für die
menschlichen Angelegenheiten insgesamt abgibt. Ist aber alles Menschliche ein Phänomen
auf der Bühne der gemeinsamen Angelegenheiten, so wird auch alles zur Verhandlungssache
58
Ich folge hier den Überlegungen Marcharts zum Primat des Politischen gegenüber der Ontologie und somit der
politischen Philosophie als einer Art prima philosophia, vgl. M
ARCHART
: Die politische Differenz, 274ff. Eine in
der Tendenz vergleichbare Überlegung findet sich bei S
AAR
: Die Immanenz der Macht, S. 418ff.
28
zwischen Akteuren und Zuschauern: Alles ist politisch. Das bestätigt im Umkehrschluss die
Intuitionen Massumis und Protevis, wonach die Keime transformativer Affektivität überall
und jederzeit in der Menschenwelt aufsprießen können. Wenn es also stimmt, dass Menschen
prinzipiell freiheitsfähige Wesen sind, und dass sich das nur im Rahmen einer intersubjektiv
geteilten Seinssphäre manifestieren kann, deren Verfasstheit immer wieder aufs Neue eine
Sache der Aushandlung ist, dann kann das Politische nicht auf wenige Ausnahmesituationen
beschränkt bleiben – dann gilt doch tatsächlich, worauf Massumi in seinen Schriften so
wortreich insistiert: die Möglichkeit der Revolution, jederzeit und überall.
Jan Slaby
Freie Universität Berlin
Institut für Philosophie
Habelschwerdter Allee 30
14195 Berlin
jan.slaby@fu-berlin.de
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