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von Nussbaum bemängelte Umstand, dass es Tagore all seinen Einsichten in die affektiv-
spirituellen Bestände der menschlichen Natur zum Trotz an systematischer Politikfähigkeit
gebreche (vgl. S. 163f.), verweist auf eine besondere Stärke dieses Denkers. Denn das, was
sich bei Tagore abzeichnet, ist ein substanzielles, nicht individualistisch verengtes
Freiheitsverständnis: Dieses umfasst Kreativität, künstlerischen Expressionsdrang,
spielerische und erotische Tendenzen, eine hemmungsfrei entfaltete Sinnlichkeit und eine
profunde Bindungsfähigkeit – sämtlich Momente einer breit angelegten, schöpferischen und
kommunalen Selbstgestaltungsfähigkeit. Doch anstatt darin einen eigenständigen Zug ins
Politische zu sehen, ein Potenzial zur kreativen Selbstbestimmung menschlicher
Lebensformen, kanalisiert Nussbaum das von Tagore Umrissene sogleich in das Flussbett
ihres eigenen Ansatzes. Erst wenn die Eckpunkte des richtigen liberal-demokratischen
Gemeinwesens fixiert seien, so scheint sie anzunehmen, und also hinsichtlich genuiner
politischer Gestaltung nichts mehr zu tun bleibt, könne das Gefühls- und
Sinnlichkeitsportfolio Tagores in kontrollierter Form – als pädagogisches Programm –
eingebracht werden. Wie das in heutigen liberal-demokratischen Nationalstaaten konkret
aussehen könnte, wird dann in den hinteren Kapiteln des Buches dargelegt.
Ich gehe diesbezüglich nur auf das 8. Kapitel zu jenem »starken Gefühl, das der
Nation gilt« ein (S. 316): dem Patriotismus. Das dort Entwickelte ist symptomatisch für
Nussbaums Perspektive insgesamt; zudem besitzt das Themenfeld ›Nation‹ und
›Nationalgefühle‹ eine Aktualität, die Nussbaum beim Abfassen ihres 2013 im Original
erschienen Werks kaum geahnt haben dürfte. Unter anderem geht sie bei der Diskussion von
Einwänden gegen staatlich verordnete patriotische Rituale auf ein Supreme Court-Urteil von
1943 ein.
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Damals wurde mit eindrucksvoller Begründung zugunsten jener geurteilt, die das
patriotische Fahnen-Ritual zu Beginn des US-Schultags aus religiösen Gründen verweigerten.
Nussbaum schließt sich dem Tenor des Urteils an, wonach institutionell verankerter
Patriotismus und »respektvoller Widerspruch« durch Andersdenkende keinen unlösbaren
Konflikt bilden dürfen. Sie tut dies im Zuge einer ausführlichen Verteidigung des
Patriotismus – der »Liebe zur Nation« – als Komponente des von ihr anvisierten politisch
zuträglichen Emotionsrepertoires. Im Bewusstsein der Gefahren, die mit betonter
Vaterlandsliebe für Gemeinwesen verbunden sind (Exklusionseffekte, Homogenisierung von
Zugehörigkeit, Ausschaltung kritischer Stimmen), möchte sie den Patriotismus als affektive
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West Virginia State Board of Education vs. Barnette – Man hofft aus heutiger Sicht sehr, dass der Supreme
Court auch weiterhin Urteilsbegründungen wie jene von Richter Robert H. Jackson formulieren möge: »Wenn es
einen Fixstern in unserer verfassungsmäßigen Ordnung gibt, dann den, daß kein Amtsträger, ob hohen oder
niedrigen Rangs, vorschreiben kann, was in Bezug auf Politik, Nationalgefühl, Religion oder andere
Überzeugungen die richtige Denkweise ist.« (zitiert in Nussbaum, S. 330).
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Formation verteidigen. Hier werden Parallelen zu Richard Rortys
Achieving Our Country
erkennbar; einem rhetorisch aufgeladenen aber substanzarmen Manifest aus den uns heute
sehr fernen 1990er Jahren, das Rorty als Verteidigung des Patriotismus für links Denkende
konzipiert hatte.
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Im Zentrum von Nussbaums Argumentation für
den kontrollierten Einsatz
patriotischer Gefühle steht der Gedanke, dass vernünftige Prinzipien allein nicht die
motivationale Energie mobilisieren können, die nötig ist, damit sich Menschen füreinander
und für ihr Gemeinwesen einsetzen und sich dafür verantwortlich fühlen: »Damit Menschen
sich um andere kümmern, müssen sie dazu gebracht werden, den Gegenstand der potentiellen
Fürsorge irgendwie als den ›ihrigen‹ zu betrachten« (S. 335). So würde etwa Rawls den Wert
emotionaler Bindungen zwar einräumen, es aber versäumen, im Rahmen seiner Ausarbeitung
des Liberalismus dazu eine überzeugende Position zu entwickeln. Noch härter geht Nussbaum
mit Jürgen Habermas’ Plädoyer für einen »Verfassungspatriotismus« ins Gericht; dessen
Begründung falle so abstrakt aus, dass er keine Chance auf populäre Wirkung habe.
Auch die sich daran anschließenden historischen Positivbeispiele – George
Washington, Abraham Lincoln, Martin Luther King, Ghandi – können den Eindruck nicht
entkräften, dass Nussbaum letztlich bloß das repetiert, was in gehobenen Kreisen der US-
Ostküsten-Intelligenz seit langem Tenor ist. Die Frage ist doch, wieso es tatsächlich gerade –
und nur, und immer wieder – die Nation sein soll, die diese ausgezeichnete affektive
Mobilisierungs- und Bindungsleistung in Bezug auf politische Prinzipien übernehmen soll.
Sind nicht auch andere Katalysatoren affektiven Engagements, fundierten Gemeinsinns,
gewachsener Solidarität und Verantwortlichkeit denkbar, als die Verehrung des exklusiven
Konstruktes ‚Nation’? Zu tief ist der Patriotismus anscheinend in die affektive Textur der US-
Mentalität codiert, als dass Nussbaum es ernsthaft wagen wollte, sich mit Gründen davon zu
lösen. Für europäische Ohren klingt hier ein unguter Exzeptionalismus durch, und gerade die
jüngsten politischen Ereignisse zeigen neuerlich, dass nur wenig Gutes vom nationalistischen
Dispositiv zu erwarten ist.
Im neumodischen Idiom kann man angesichts dessen – und mit Blick auf das gesamte,
zu lang geratene Buch – das Fehlen jeglichen »disruptiven Moments« in Nussbaums Denken
konstatieren. Alles ungefähr so weiter wie bisher, lautet die Botschaft, nur nach Möglichkeit
mit etwas mehr Gefühl. Was damit wortreich gepriesen wird mag vieles sein, es sind jedoch
ganz bestimmt keine politischen Emotionen – jedenfalls dann nicht, wenn man unter dem
Politischen die Situation der Öffnung, der Neugründung, der potenziell konflikthaften
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R
ICHARD
R
ORTY
:
Achieving Our Country: Leftist Thought in 21st Century America,
Cambridge, MA 1998, S.
3.