Zeugen des gegenwärtigen Gottes Band 071 Johann Georg Hamann Ein Prediger in der Wüste



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konnte es nicht mehr meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland fort und fort zu offenbaren.“

So erfuhr Hamann die Wunderkraft des Wortes in Gericht und Gnade, in Beugung und Aufrichtung. Er betont, „daß dieses Wort ebenso große Wunder an der Seele eines frommen Christen tut als diejenigen, die in demselben erzählt werden“. Ja, er schließt seinen Lebenslauf mit „einem aufrichtigen und herzlichen Dank Gottes für sein seligmachendes Wort, das ich geprüft und gefunden als das einzige Licht, nicht nur zu Gott zu kommen, sondern auch uns selbst zu kennen“ ; er preist dieses Wort „als das teuerste Geschenk der göttlichen Gnade, das die ganze Natur und alle ihre Schätje so weit übertrifft als unser unsterblicher Geist den Leib des Fleisches und Blutes; als die erstaunlichste und verehrungswürdigste Offenbarung der tiefsten, erhabensten, wunderbarsten Geheimnisse der Gottheit . . . ; als das einzige Brot und Manna unserer Seele, dessen ein Christ weniger entbehren kann als der irdische Mensch seiner täglichen Notdurft“.

So hat Hamann die große Wende seines Lebens erfahren. Er sieht Gott und die Welt in einem neuen Lichte; er weiß nun, daß es ohne Glauben an Jesus Christus unmöglich ist, Gott zu erkennen, „was für ein liebreiches, unaussprechlich gütiges und wohltätiges Wesen er sei, dessen Weisheit, Allmacht und alle übrigen Eigenschaften nur gleichsam Werkzeuge seiner Menschenliebe zu sein scheinen“. Ebenso deutlich ist es ihm aber auch, daß es ohne Christus und den Glauben, den der Geist wirkt, unmöglich ist, sich selbst und


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den Nächsten recht zu lieben; „kurz, man muß ein wahrer Christ sein, um ein rechtschaffener Vater, ein rechtschaffenes Kind, ein guter Bürger, ein rechter Patriot, ein guter Untertan, ja, ein guter Herr und Knecht zu sein; und daß jedes Gute ohne Gott unmöglich ist, ja, daß er der einzige Urheber desselben ist“.

Er sieht über seinem Leben tro§ Schuld und Verstrickung ein großes Licht, eine große Hoffnung und ist voller Zuversicht: „Wenn ich das große Gut, die unschätjbare Perle, den Preis, zu dem mich Gott hat geboren werden lassen, von ihm erhalte, — wie sollte ich an seiner Regierung meines ganzen Lebens jeyt zweifeln! Das Ende desselben ist erreicht. Ich überlasse mich seinem weisen und allein guten Willen.“




Deuter und Verkündiger

Die Gedanken, die ihm bei seinem Schriftstudium gekommen sind, hat Hamann, wie er sich schon vorgenommen, niedergeschrieben. Man liest diese „Biblischen Betrachtungen eines Christen“ heute noch mit großem Gewinn. Es sind kurze Anmerkungen zu einzelnen Bibelstellen, wie sie nur ein vom Heiligen Geist Erleuchteter niederschreiben konnte, — einer, der von sich bekennt, daß ihn die Anfechtung aufs Wort achten lehrte.

Ihm ist eine große Erkenntnis ganz neu geschenkt worden. Wo er die Schrift aufschlägt, steht er vor dem Wunder der Liebe Gottes. Sie möchte sich uns schenken und mitteilen. Darum hat sie sich aufgemacht, uns zu suchen und zu finden. Darum hat sich Gott zu uns Menschen „heruntergelassen“, und darum gilt von der


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Offenbarung Gottes auf der ganzen Linie, „daß sich Gott selbst hat wollen demütigen, um uns den Weg der Demut zu lehren“.

Es ist erstaunlich, wie einfach und zugleich tiefgründig hier von dem Geheimnis der Offenbarung geredet wird, vor der Hamann mit großer Ehrfurcht steht. Das verstanden weder die Rechtgläubigen noch die Liberalen, die Aufklärer, recht. Wie sollten sie es auch begreifen! Sie merkten nicht, daß das Wunder all unser menschliches Begreifen und Verstehen übersteigt. Wer will das fassen, daß Gott in menschlichen Lauten zu uns gesprochen hat, daß der Schöpfer ein Schriftsteller geworden ist, ja, daß er sich angepasst hat an die menschlichen Neigungen und Begriffe, ja sogar an der Menschen Vorurteile und Schwachheiten! Es geht in der Bibel nicht um hohe Gedanken, nein! „Die Schrift kann nicht anders mit uns reden als in Gleichnissen, weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich ist.“ Die „Geistreichigkeit der weltlichen SArei- ber“ wird dadurch besAämt, daß Gott „nichtswürdige, veräAtliAe Dinge, ja Undinge, wie der Apostel sagt, zu Werkzeugen seines geheimen Rats und verborgenen Willens maAt, daß er das Alberne, das SeiAte, das Unedle geradezu erwählt; daß der Hofstil des Himmelreiches noA immer der sanftmütigste und demütigste ist, und daß der König des Himmelreiches noA immer auf dem Füllen der lastbaren Eselin in der Welt seinen Einzug hält.“

Darum ist und bleibt er ein verborgener König, ein verborgener Gott. Darum gehören „erleuAtete, begeisterte, mit EifersuAt bewaffnete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers dazu, um in solAer Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen“. Von den andern gilt: Mit sehen





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den Augen sehen sie nicht! Die Menschen verkennen und mißdeuten vollständig „das vorzügliche Merkmal seiner Menschenliebe, davon die ganze Heilige Schrift voll ist“; sie schmähen und lästern den Geist, der durch das Schriftwort zu ihnen redet, wie man den Sohn Gottes verwarf, als er in der Gestalt Jesu von Nazareth auf Erden erschien. Man wagt es, Gottes Offenbarung in frecher Überheblichkeit vor den Richtstuhl seiner Vernunft und natürlichen Einsicht zu fordern; man glaubt, Gottes Wort nach den eigenen klugen Einfällen und Einsichten, nach den jeweiligen Zeitumständen und dem Geschmack des Jahrhunderts tadeln und verbessern zu dürfen. Seine Menschenliebe dient den schwachen Köpfen zum Spott, da sie, nicht bereit, sich dem Worte zu beugen, vielmehr ihre menschliche Weisheit, ihre Neugierde, ihren Vorwitz und den Geschmack ihrer Zeit im Worte suchen und bestätigt finden möchten. Wohin sollte es aber führen, wenn Gott danach fragen wollte, was die jeweiligen philosophischen Zeitgrößen „annehmungswürdig“ finden? Er würde es den Menschen doch nie recht machen. Hamann bemerkt mit Recht: „Leute, die sich Einsicht genug Zutrauen, um eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden auch in jeder anderen Offenbarung Fehler gefunden haben. Sie sind die Gesunden, die des Arztes nicht bedürfen.“

Gott fragt nicht nach dem Urteil seiner philosophischen Kritiker, sondern geht zum Heil der Welt seinen Weg in souveräner Überlegenheit. Er ist gewohnt, „seine Weisheit von den Kindern der Menschen getadelt zu sehen“. Indem Gott sich offenbart, indem der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller wird, unterwirft er sich der Kritik der Menschen und fordert ihr Urteil heraus. Aber was will solche Kritik des sich




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weise dünkenden Verstandes schon bedeuten! Die Wahrheit seines Wortes kann durch seine Kritiker nicht zunichte gemacht werden. Und die Liebhaber der Wahrheit werden durch die Anfechtung nur gelehrt, noch besser aufs Wort zu achten. Mag ihre falsche Meinung von der Bibel und der in ihr sich uns darbietenden Offenbarung Gottes zerstört werden, so kann das nicht schaden. Um so größer wird ihnen das Geheimnis, dem es nachzusinnen gilt: Das Wort ward Fleisch!

Die Einsichten Hamanns eilen seiner Zeit weit voraus. Sie nehmen aller nachfolgenden „Bibelkritik“ eigentlich von vornherein den Wind aus den Segeln. Hamann lehnt es ab, sich mit den gegnerischen Aufklärern auf eine Ebene zu stellen. Er meint nicht, Gottes Wort gegenüber menschlichen Einreden ins rechte Licht setjen zu müssen. Gott ist mit seiner Wahrheit stets in der Offensive, in siegreichem Vordringen; sein Heil, sein neuer Tag kommt und ist im Anbrechen, und dieses Kommen kann nie auch nur entfernt zu einer zweifelhaften, fraglichen Sache werden. Gottes Herablassung, Gottes Demut, wie Hamann sie bezeugt, ist der stärkste Angriff auf alle Überheblichkeit und allen Dünkel der Menschen. Gott hat sich ge- demütigt, um uns Demut und Selbstbescheidung zu lehren. Wer sich nicht demütigen will, wer seine Offenbarung nicht annimmt, weil sie ihm nicht angemessen erscheint, wer das Heil bei sich selber, das Licht in seinem Herzen und die Wahrheit in seiner Vernunft sucht, der spricht sich selber das Urteil. Mit diesem Zeugnis stand Hamann in der Welt, und damit hat er bis auf diesen Tag recht behalten.




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Trennung


Hamann hat bald erfahren müssen, daß das Bekenntnis der Wahrheit in dieser Welt Opfer fordert und einsam macht. Als er Ende Juli 1758 nach fast zweijähriger Abwesenheit ins Haus seiner Gastfreunde in Riga zurückkehrte, wurde er trotj des ausgesprochenen Mißerfolges seiner Sendung „mit aller möglichen Freundlichkeit und Zärtlichkeit bewillkommnet“. Bis gegen Ende des Jahres lebte er wie ein Verwandter im Familienkreise der Behrensschen Brüder und suchte sich nütylich zu machen, wo und wie er konnte. Er gab Unterricht und half im Geschäft.

Doch erfuhr das gute Einvernehmen bald eine empfindliche Störung. Es kam zum Bruch, als ihm Christoph Behrens die Hand der älteren Schwester, mit der Hamann sich verloben wollte, versagte. Eine große Enttäuschung wurde ihm damit bereitet. Ganz offenbar geschah das wegen seiner veränderten inneren Haltung. Christoph Behrens hatte, wie wir später hören, seinen Lebenslauf „mit Ekel“ gelesen und war nicht bereit, ihn, der in seinen Augen ein Schwärmer und Mucker geworden, in die Familie aufzunehmen. Unter seinem Einfluß zog die Schwester, der Hamann lebenslang ein ehrendes Andenken bewahrt hat, ihr Jawort zurück.

Das machte ihm den Abschied leicht, als er im Januar 1759 Riga verlassen mußte. Der Vater hatte ihn gerufen. Alt und krank, wünschte er den Ältesten in seiner Nähe zu haben, hatte doch der Bruder inzwischen die Heimat verlassen.

Aber es kostete noch manchen harten Kampf, die Brücken ganz hinter sich abzubrechen. Die Welt, der er entfliehen wollte, suchte Hamann wieder zu um




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garnen. Die ihn von sich gestoßen, wollten ihn so leicht nicht fahren lassen. Wir merken es aus den Briefen, die Hamann in dieser Zeit an Johann Gotthelf Lindner in Riga gerichtet hat. Der war eines aus Hinterpommern nach Königsberg versetjten Pfarrers Sohn, mit Hamann von der Jugend her befreundet, ebenso wie seine beiden jüngeren Brüder, die uns noch begegnen werden.

Lindner war zu dieser Zeit Rektor am Gymnasium zu Riga und hatte eben Hamanns jüngerem Bruder zu einem Amt an der Domschule daselbst verholfen. Sein Vertrauen hatte aber auch Christoph Behrens gewonnen. Er suchte durch ihn mit dem alten Gefährten in Königsberg wieder in Verbindung zu kommen, obwohl dieser jeden direkten brieflichen Verkehr ablehnte. Ein Verhalten, das schroff wirken und dem einstigen großmütigen Wohltäter undankbar erscheinen mußte. Aber es ging Hamann dabei nicht um menschliche Empfindsamkeit, sondern vielmehr um ein klares Bekenntnis zu Christus. Dafür konnte der weltgewandte Geschäftsmann jedoch keinerlei Verständnis aufbringen. Er glaubte den einst bewunderten Freund im religiösen Wahn befangen und meinte, ihn zu nutj- bringender und zerstreuender Tätigkeit zurückführen zu müssen. Damit hatte er aber wenig Glück. Hamanns Zeugnis, mochte es hier und da auch durch ein etwas übersteigertes christliches Selbstbewußtsein getrübt sein, ließ die Fronten klar hervortreten. Beklagte es der Freund, daß die Frömmigkeit ihn unbrauchbar mache für diese Welt, so entgegnete Hamann: „Wenn die Welt mich für ihren Auskehricht ansieht, — desto besser für mich!“ Daß sich Behrens über sein Beten, Händefalten und Beichten ereiferte, ihn der Heuchelei und des Müßiggangs beschuldigte und mit Schwärmern




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und fragwürdigen Geistern in einen Topf warf, konnte ihn an der Richtigkeit seines Weges nicht irremachen. Er weiß, was Gott ihm mit seinem Worte gegeben hat, und bekennt: „Ich lasse es bei den Worten, daß meinen Hunger nichts anderes gestillt hat als dieses Buch, das ich, wie Johannes, geschluckt und die Süßigkeit und Bitterkeit desselben geschmeckt habe.“

Schenkt Gott ihm nun die Gnade, frei von weltlichen Geschäften sich der „Arbeit eines Christen“, dem Bibellesen und dem Gebet, hinzugeben, so soll man ihn deshalb nicht schelten. Er ist überzeugt, daß seine Bestimmung „weder zu einem Kauf-, Staats- noch Weltmann“ ist. Er weiß sich gerufen, „zu beten und zu arbeiten als ein Christ, als ein Pilgrim, als ein Soldat in Friedenszeiten“. Er versichert, daß ihm „jedes Buch eine Bibel und jedes Geschäft ein Gebet“ sei. Darum kann er schreiben: „Der Christ tut alles in Gott. Essen und trinken, aus einer Stadt in die andere reisen, sich darin ein Jahr aufhalten und handeln und wandeln oder darin stillsitjen und harren, sind alles göttliche Geschäfte und Werke.“

Selbst den nächsten Verwandten gegenüber richtet das Zeugnis Schranken auf. „Alle Zärtlichkeiten des Blutes, der Natur sind leere Schalen, die jenen nichts helfen, die wir lieben.“ So schreibt er dem Bruder, um dann fortzufahren: „Wir können unserm Nächsten nichts als Schaden tun und sind wissende oder unwissende Feinde desselben. Durch Gott allein liebt unser Herz die Brüder, durch ihn allein sind wir reich gegen sie. Ohne Jesum zu kennen, sind wir nicht weiter gekommen als die Heiden. In dem würdigen Namen, nach dem wir Christen heißen, vereinigen sich alle Wunder, Geheimnisse, Worte des Glaubens und der wahren Religion.“


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Ja, das Zeugnis schafft Trennungen. Aber es schafft auch innerste Verbundenheit als „eine Frucht des Geistes, der auch Freund und Tröster heißt“. Mit welcher Freude erfüllte es Hamann, als er vernahm, daß der zweite Sohn des Pfarrers Lindner, Gottlob Emmanuel, der in Grünhof sein Nachfolger geworden war, sich entschloß, das Theologiestudium wiederaufzunehmen! „Wir müssen uns des Menschensohns und seines Bekenntnisses nicht schämen“, so ermuntert er ihn. Und dann wird sein Herz ganz weit: „Er, den wir nicht sehen, ob er gleich mit uns, in uns und unter uns ist, er, der den Raum füllt, der uns beide voneinander trennt, wolle unsere Herzen auch seinen Gruß hören lassen: Friede sei mit euch!, uns senden zu seinem und seines Vaters Geschäft und unser ganzes Leben zur Würde und Treue seiner Botschafter Und Gesandten uns führen lassen.“

Wer ihn seiner angeblich verschrobenen Meinung wegen bedauert und ihn zur weltlichen Klugheit zu- lückführen möchte, den bittet er: „Lassen Sie mir meinen Stolz in den alten Lumpen!“ „Diese Lumpen haben mich aus der Grube gerettet (Jer. 38). Und ich prange damit wie Josef mit seinem bunten Rode.“

Derselbe aber, der sich nur seiner Lumpen rühmt, nur der Windeln, die uns den Sohn Gottes brachten, nur der schwachen Zeichen und Elemente, an die Gottes ewige Gabe sich bindet, weiß, daß „Gott irdische schwache Gefäße zu seinen Werkzeugen erwählt, die durch ihre Torheit die Weisheit der Schriftgelehrten zuschanden machen sollen“.


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Christus und Sokrates

Im Sommer dieses Jahres 1759 kam Christoph Behrens nach Königsberg, da sein jüngerer Bruder, den Hamann unterrichtet hatte, in Unfrieden von daheim fortgegangen war und sich in Hamanns Nähe aufhielt. Behrens suchte den einstigen Freund auf, und fast schien es, als sollte das gute Verhältnis wiederhergestellt werden. Jedenfalls berichtete Hamann seinem Freunde Lindncr befriedigt über den in Behrens’ Gesellschaft verlebten Abend. Aber die Einigkeit hielt auch diesmal nicht. Behrens gab den Versuch nicht auf, den in seinen Augen Verschrobenen zurechtzubringen. Als das nicht gelingen wollte, reizte ihn das zu Zorn und Bitterkeit. „Ich muß“, so klagt Hamann, „die Türe meines Herzens verschließen und meinen Mund hüten und versiegeln lassen, als wenn er das Grab eines Verführers oder Betrügers wäre.“

Als Behrens einsah, daß es nicht in seiner Macht stehe, den von Gott Bekehrten abfällig zu machen, suchte er nach einem Helfer und fand ihn indem ihm befreundeten Magister Kant, der seit einigen Jahren an der Königsberger Hochschule wirkte und bald einen großen Namen bekam, da er den neuen Menschheitstag des Vernunftglaubens auf seinen Höhepunkt führen sollte. Hamann ahnte, um was es ging, als die beiden ihn in seiner beschaulichen Zurückgezogenheit aufsuchten. Er empfing sie freundlich, ließ sich aber weder durch des Freundes schmeichelndes Zureden noch durch des Gelehrten kritischen Verstand von seiner Bahn abbringen. Dem letzteren trat er in völliger innerer Freiheit entgegen, so daß er ihm halb im Scherz, halb im Ernst schreiben konnte: „Ich will auf einmal, mein Herr Magister, Ihnen die Hoffnung benehmen, sich über


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gewisse Dinge mit mir einzulassen, die ich besser beurteilen kann als Sie, weil ich mehr Data darüber weiß, mich auf Fakta gründe.“ Daß er, dem allgemeinen Urteil zuwider, entschlossen war, dem großen Lehrer Deutschlands die Gefolgschaft zu versagen, sollte bald offenkundig werden.

Wohl gab er dem Drängen der beiden, die ihn aus grüblerischem Nichtstun zu nutjbringender Tätigkeit führen wollten, nach; er wurde Schriftsteller, wie sie es wünschten. Aber er bereitete ihnen dennoch eine bittere Enttäuschung, denn er übte seine „Autorschaft“ nicht in ihrem Sinn. Er wurde kein Verkündiger der aufgeklärten Lehren seiner vernunftgläubigen Zeit; er wurde ein Zeuge des allein wahren Gottes und seiner aller Menschenvernunft ins Gesicht schlagenden Offenbarung in Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort, und er forderte damit dieses Jahrhundert vor seine Schranken.

Der kleinen geist- und kraftvollen Schrift, mit der er auf die Zureden jener „Zween“ den Grund legte zu seiner nachfolgenden schriftstellerischen Wirksamkeit, gab er den Titel: „Sokratische Denkwürdigkeiten für die Langeweile des Publikums, von einem Liebhaber der langen Weile“. Diese Überschrift bedarf, wie die Schrift selbst, besonderer Erklärung.

Hamann hatte die Zeit der Muße im Hause des Vaters, um derentwillen man ihn anfocht, gut angewendet, indem er nicht nur die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments mit neuem Eifer durchforschte, dazu hebräische und griechische Grammatik und Sprachkundc trieb, zahlreiche Auslegungen heranzog, darunter vor allem Luthers Werke; sein Geist durchmaß auch die Geistesgeschichte alter und neuer Zeit. Er las griechische und lateinische Schriftsteller




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und Dichter, und ihm ging auf, daß auch im Heidentum allenthalben Hinweise und Fingerzeige auf die göttliche Offenbarung sich finden, die in Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist und im Wort der Heiligen Schrift ihren Niederschlag gefunden hat.

An Sokrates ist ihm das besonders deutlich geworden. Denn indem dieser Heide deutlicher als ein anderer die Grenzen menschlichen Wissens und Erken- nens aufzeigte, ja, geradezu beim Eingeständnis seines Nichtwissens: „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ endete, schien er ganz nahe bei dem großen Lehrer der Heiden mit seinem Bekenntnis zu stehen: „So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll; so aber jemand Gott liebt, der ist von Ihm erkannt“ (1. Kor. 8, 2 f.). Hamann ist der Meinung, daß dem Heiden Sokrates ein Platj unter den Propheten Gottes gebühre, ja, daß sein Schicksal ihn an die Seite dessen stelle, in dem Gott Mensch wurde und in diese Welt kam, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Dies aufzuzeigen, ist der Sinn seines Buches.

Es geht ihm nicht darum, die Lebensgeschichte des Sokrates zu schreiben. Einige Tatsachen sollen in Erinnerung gebracht werden, die für uns heute noch „denkwürdig“ sind, weil sie uns eben deutlich machen, was es ist um den Weg und Beruf des Zeugen der Wahrheit in dieser Welt, und uns andererseits zeigen, was uns Menschen hindert, der Wahrheit bei uns Raum zu geben.

Sokrates wird keineswegs als sittlich einwandfreier und vollkommener Mensch vor uns hingestellt. Er war ein Heide, fern von Christus und vom christlichen Leben, und hatte an der Schuld und Not der von Gott dahingegebenen Menschheit Anteil. Die Schuld besteht im lebten Grunde darin, daß man nicht nach Wahrheit




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trachtet, sondern nach dem, was dem natürlichen Sinn gefällt. Dabei stieß man sich an dem Schönsten unter den Menschenkindern, als er als Erlöser erschien, weil er ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Striemen war. So geschah es damals, so geschieht es immer wieder, da die „gesunde Menschenvernunft“, die dieses Verwerfungsurteil spricht, den Christen und Muselmännern heute ebensowenig abgeht wie einst den Griechen und Juden.

Hamann meint nun, Sokrates müsse als Heide irgendwie um diese verborgene Not und Schuld des Menschengeschlechts gewußt haben. Seine ganze Haltung und Lebensführung lege das nahe. Es könne einer nicht davon überzeugt sein, daß er nichts wisse, und doch zugleich an die Güte und Unschuld des menschlichen Herzens glauben. Jedenfalls ist Sokrates für uns vorbildlich nicht durch seine Vortrefflichkeit in Haltung und Lebensführung, auch nicht durch den Reichtum seines geistigen Vermögens, sondern vielmehr durch die Erkenntnis und das Eingeständnis seines Unvermögens und seiner Unwissenheit. Gerade darum konnte ihm das Zeugnis gegeben werden, daß er der Weiseste sei, weil er stets demütig bekennt, er wisse nichts.

Dabei war dieses Bekenntnis für ihn kein angelernter Sat}, sondern tiefempfundene Lebenserfahrung. Wie sich aber ein Leichnam von einem lebendigen Wesen unterscheidet, so ist jene lebendige Erfahrung etwas ganz anderes als der bloß gedankliche Skeptizismus und Kritizismus, der der selbstherrlichen menschlichen Vernunft entspringt. Mit dieser seiner kritischen Einstellung bleibt der Mensch im Banne seiner eigenen Gedanken und endet im radikalen Unglauben, im Zweifel am eigenen Dasein und am Dasein der Welt, an der Wirklichkeit Gottes und der Wahrheit seines


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Wortes. Auf dem Wege der selbstherrlichen Vernunft verliert der Mensch zuletjt allen Grund unter den Füßen, alles wird unsicher, fragwürdig, ungewiß. Ein gähnender Abgrund tut sich auf, der alles zu verschlingen droht. Wir stehen heute am Rande dieses Abgrundes.

Was uns über dem drohenden Abgrund hält, was uns hilft, daß wir in den lebten Fragen unseres Daseins zurechtkommen, mit den letjten Zweifeln und Anfechtungen fertig werden, was uns neuen Grund unter die Füße gibt, ist nicht unsere kritische Vernunft, nicht unser gesunder Menschenverstand. Die Hilfe, die wir brauchen, kann nur von außen kommen und muß ohne Beweise und Vernunftsgründe geglaubt und angenommen werden. Letzte Gewißheit gibt es nur im Glauben. Sie kann niemals erdacht und ergrübelt werden. „Unser Dasein und die Existenz aller Dinge außer uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden.“ Gilt das aber schon für das irdische, natürliche Leben, können wir nicht essen und trinken, nicht schlafen und wachen, ohne daß wir uns glaubend und vertrauend an die Welt, die uns umfängt, hingeben, wieviel mehr gilt es für die ewigen Dinge!

Glaube ist also, wie Hamann neu entdeckt, die Urkraft, das Grundprinzip des Lebens, — ähnlich wie bei Luther, wenn er spricht: Glaube, so hast du! Hamann hat es ja genau so wie der Reformator dem Zeugnis der Heiligen Schrift abgelauscht und weiß daher auch, daß dieser Glaube keine Kunst menschlichen Denkens ist, daß vielmehr der Friede Gottes, in dem wir ruhen sollen, höher ist als alle menschliche Vernunft. Glaube ist Gnadengabe, Geschenk, das nur denen zuteil werden kann, die mit ihrem eigenen Wissen und Können am Ende sind. „Wie das Korn aller


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