105
legaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption,
Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte
Kriminalität. Von diesen Kompetenzen zur Angleichung wurde mittler-
weile mehrfach Gebrauch gemacht. Für das Wirtschaftsstrafrecht sind
folgende Richtlinien von Bedeutung, mit denen die vorangegangenen
Rahmenbeschlüsse ersetzt wurden: Die Menschenhandelsrichtlinie
63
,
die Computerkriminalitätsrichtlinie
64
und die Geldfälschungsrichtlinie
65
.
Dagegen enthält die vierte Geldwäscherichtlinie
66
noch keine Vorgaben
zu Straftaten und Strafen. Eine Richtlinie zur Korruptionsbekämpfung ist
bislang an den Mitgliedstaaten gescheitert
67
.
Darüber hinaus kann der Rat gemäß Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV
durch einstimmigen Beschluss nach Zustimmung des Europäischen Par-
laments andere Kriminalitätsbereiche bestimmen, die diese Kriterien er-
füllen. Angesichts des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung hat
das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung jedoch
einen derartigen Erweiterungsbeschluss einer Vertragsänderung gleich-
gestellt und ihn dem Parlamentsvorbehalt aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG un-
terworfen.
68
Der deutsche Ratsvertreter darf einem derartigen Beschluss
63
Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 zur Ver-
hütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Er-
setzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. L 101 S. 1.
64
Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.8.2013 über
Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI
des Rates, ABl. L 218 S. 8.
65
Richtlinie 2014/62/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 zum
strafrechtlichen Schutz des Euro und anderer Währungen gegen Geldfälschung und zur Er-
setzung des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI des Rates, ABl. L 151 S. 1.
66
Richtlinie 2015/849/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 zur
Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Ter-
rorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen
Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission, ABl. L 141 S. 73.
67
https://www.euractiv.de/section/wahlen-und-macht/news/mangelnde-stan-
dards-zur-eu-weiten-korruptionsbekampfung.
68
BVerfGE 123, 267, 412 f., 436 – Lissabon; vgl. hierzu nur Meyer, NStZ 2009, 657 ff.;
Schünemann, ZIS 2009, 393 ff.; vgl. auch Rosenau/Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg
(Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 83 AEUV Rn. 25.
106
nur zustimmen oder sich bei der Beschlussfassung enthalten, nachdem
hierzu ein Parlamentsgesetz in Kraft getreten ist (vgl. § 7 Abs. 1 IntVG).
c. Mindestvorschriften für Straftaten und Strafen in bereits
harmonisierten Bereichen
Weiter dürfen nach Art. 83 Abs. 2 AEUV nunmehr durch Richtlinien
auf Gebieten, auf denen bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt
sind, Mindestvorschriften für Straftaten und Strafen festgelegt werden,
wenn sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften als
„unerlässlich“ für die wirksame Durchführung der Politik der Union er-
weist. Das Bundesverfassungsgericht hat diese generalklauselartige
strafrechtliche Annexkompetenz, mit der die Rechtsprechung des EuGH
zur Annexkompetenz in Gesetzesform gegossen wurde, in seiner Lissa-
bon-Entscheidung
69
als „gravierende Ausdehnung der Zuständigkeit zur
Strafrechtspflege“ bewertet, die mit dem Prinzip der begrenzten Einze-
lermächtigung „an sich“ ebenso wenig wie mit dem Demokratieprinzip
zu vereinbaren sei; zur Wahrung der Verfassungskonformität sei eine
restriktive Auslegung notwendig; es müsse „nachweisbar feststehen,
dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch
Strafandrohung beseitigt werden kann“. In den Bereich des Art. 83 Abs. 2
AEUV fallen die bereits unter Geltung des Vertrags von Nizza erlassenen
Richtlinien zum Umweltschutz, zur Meeresverschmutzung und zur Ar-
beitgebersanktion. Inzwischen wurde im Jahr 2014 von der neuen Straf-
rechtskompetenz mit der neuen Marktmissbrauchsrichtlinie
70
erstmals
Gebrauch gemacht. Durch die Umsetzung zum 2.7.2016 wurde die Straf-
barkeit des Insiderhandels und der Marktmanipulation im deutschen
Recht (§ 38 WpHG) erheblich ausgeweitet.
d. „Notbremsverfahren“
Eingeschränkt werden diese Strafrechtskompetenzen durch das in
Art. 83 Abs. 3 AEUV geregelte „Notbremsverfahren“. Danach kann ein
69
BVerfGE 123, 267, 411 – Lissabon.
70
Richtlinie 2014/57/EU vom 16.4.2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipu-
lation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173 S. 179.
107
Mitglied des Rates beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird,
wenn es der Auffassung ist, dass der Entwurf einer Richtlinie grundle-
gende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde. Damit hat
der Mitgliedstaat ein „Vetorecht“
71
. Eine derartige „Notbremse“ sah die
unter Geltung des Vertrags von Nizza ergangene Rechtsprechung des EuGH
nicht vor, so dass die einzelnen Mitgliedstaaten nunmehr eine wesent-
lich stärkere Position haben. Sofern kein Einvernehmen erzielt wird und
mindestens neun Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Entwurfs einer
Richtlinie eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen möchten, gilt die
Ermächtigung hierzu als erteilt. Die Verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20
EUV) ist ein politischer Mechanismus, mit der eine Gruppe von Mitglied-
staaten gemeinsame Regelungen einführen kann, ohne dass sich die
anderen Staaten daran beteiligen müssen. Damit wird eine abgestufte
Integration auf der Ebene des Sekundärrechts möglich.
e. Schutz der finanziellen Interessen der Union
Schließlich wurde mit dem Vertrag von Lissabon der Schutz der finan-
ziellen Interessen der Union auf der Ebene des Primärrechts geregelt.
Nach Art. 325 Abs. 1 AEUV (Betrugsbekämpfung) bekämpfen „die Union
und die Mitgliedstaaten“ Betrügereien und sonstige gegen die finanzi-
ellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen „mit
Maßnahmen, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie
in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen
effektiven Schutz bewirken“. Nach Art. 325 Abs. 4 AEUV können – zur
Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mit-
gliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen
der Union – das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordent-
lichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die
erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrü-
gereien beschließen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union
richten. Der früher in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGV enthaltene Strafrechts-
vorbehalt wurde gestrichen. Damit hat die Union, wovon eine verbrei-
71
Rosenau/Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht,
2012, Art. 83 AEUV Rn. 26.
Dostları ilə paylaş: |