4.7. Sachalin – die andere Katorga
keit nachgehen konnten.
717
Hinzu kam die problematische wirtschaftliche Situation. Die
meisten politischen Sträflinge waren, ohne in ihrem früheren Leben je entsprechende
Erfahrungen gesammelt zu haben, gezwungen, in der Landwirtschaft tätig zu sein; die
Subsistenzwirtschaft stand im Vordergrund, weil die Böden wenig ergiebig waren. Die
„Politischen“ werden dabei von Senčenko als eigentliche landwirtschaftliche Pioniere
gewürdigt – so dass es fast nach einer Apologie der Kolonisation auf Sachalin klingt.
718
Pioniere in einem anderen Sinn waren verschiedene politische Sträflinge, die sich
nach der ersten Phase ihrer Katorga-Strafe der wissenschaftlichen Erkundung des Ei
lands annahmen und sich damit akademischen Ruhm erwarben. Bronislav Pilsudskij
(Piłsudski) führte umfangreiche ethnographische Studien über die eingeborenen Völker
der Insel (Ainu, Nivchen, Oroken) durch, deren Ergebnisse er einerseits in europäischen
Fachorganen veröffentlichte und anderseits, zusammen mit den ergänzenden For
schungen des politischen Verbannten Lev Šternberg, ins Regionalmuseum von Aleksan
drovsk einbrachte, an dessen Einrichtung auch weitere „Politische“ beteiligt waren.
719
Andere bauten Schulen
und Bibliotheken auf, erforschten die meteorologischen oder bo
tanischen Verhältnisse auf der Insel, publizierten in der auf dem Festland erscheinenden
Zeitung
„Amurskij kraj“ („Region Amur“) über das Leben auf Sachalin und engagierten
sich bei der medizinischen Betreuung der Bevölkerung.
720
Auch diese Lichtblicke, die
Auskunft über die Freiräume geben, gehörten zur Strafkolonie Sachalin, und sie zeigen,
dass die Administration durchaus gewillt war, von dem intellektuellen Potential zu pro
fitieren, das es auf
die Insel verschlagen hatte
721
– was beiden Seiten zugute kam.
Das Verhältnis zwischen den
katoržane und den Vertretern der Staatsmacht ist mit
hin auch auf Sachalin nicht mit der simplen Dichotomie zwischen „guten“ Sträflingen
und „böser“ Obrigkeit zu fassen. Letztere besaß ohne Zweifel einen besonders üblen
Ruf wegen ihrer Miss- und Vetternwirtschaft und Willkür. Strafen, selbst die in Russ
land bis 1905 wenig verbreitete Todesstrafe, wurden rasch verhängt und sofort voll
streckt; auch „Politische“ mussten jederzeit die schärfsten Bestrafungen gewärtigen.
722
Und in den Gefängnissen waren noch zu Čechovs und De Windts Zeiten – also in den
717 S
ENČENKO
Revoljucionery, S. 127; vgl. auch D
OROŠEVIČ
Sachalin, S. 265, zum Damoklesschwert der
Willkür.
718 S
ENČENKO
Revoljucionery, S. 146. Zu den Schwierigkeiten, von den Ernten zu leben, vgl. Č
ECHOV
Ostrov Sachalin, S. 122, und E
RMAKOV
Dva goda, S. 168 und 171. Letzterer unterhielt einen kleinen
Garten, um sich ernähren zu können, da er für seine spätere Aufgabe als Aufseher über Straßenbau
arbeiten nicht entlöhnt wurde.
719 S
ENČENKO
Revoljucionery, S. 128–130. Bronislav Pilsudskij (Piłsudski) war der Bruder Józef Piłsuds
kis, des polnischen Generals und Politikers. Vgl. die Ausführungen über Pilsudskij, Šternberg und die
Lage der politischen Sträflinge bei D
ALOS
Reise, S. 42–56. Vgl. auch F
ORSYTH
History, S. 194, sowie
das Kapitel XIV bei H
AWES
Uttermost East, S. 248–276, zu den Sitten des Volks der Nivchen („Gil
jaken“).
720 Zusammenfassend S
ENČENKO
Revoljucionery, S. 130–145 und 147.
721 In den Straflagern der Sowjetzeit gab es namentlich auf Solovki und entlang des Belomor-Kanals
zahlreiche Koryphäen unter den Häftlingen, die in ihren Fachgebieten tätig waren
oder ortsspezifische
Forschungen machten – etwa der Philosoph, Theologe und Naturwissenschaftler Pavel Florenskij auf
Solovki oder der Historiker Nikolaj Anciferov am Belomor-Kanal. Während Anciferov (vorerst) nach
Leningrad zurückkehren konnte, wurde Florenskij erschossen. Vgl. zu den wissenschaftlichen und
kulturellen Aktivitäten der Gefangenen auf Solovki und am Belomor-Kanal S
CHLÖGEL
St. Petersburg,
S. 8–10, S
CHLÖGEL
Seele, S. 34–38, sowie die Bemerkungen weiter vorne in Fußnote 572.
135