OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
toržane letztlich die Ordnung in den transbaikalischen Haftanstalten bestimmt hätten,
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scheint mehr als revolutionäre Rhetorik gewesen zu sein. In Vorwegnahme ihrer politi
schen und gesellschaftlichen Vorstellungen praktizierten sie ein weitgehend kollektives
Leben; die meisten Güter und auch die eintreffenden finanziellen Unterstützungsleistun
gen fielen an die Kommune und wurden gleichmäßig auf die Mitglieder verteilt. Das
egalitäre Gesellschaftsmodell der „Politischen“ und die hierarchische Struktur der Kri
minellen waren, wie sich nach der Gleichstellung der beiden Häftlingskategorien 1890
zeigte, im Grunde nicht kompatibel; darüber hinaus unterschieden sie sich in ihrem
Wertekanon diametral. Das führte zu immer wiederkehrenden Reibereien zwischen den
Häftlingsgruppen und letztlich auch zum Scheitern eines gemeinsamen Alltags. Zwar
gab es zuweilen fruchtbare Interaktionen, vor allem dann, wenn die „Politischen“ die
Kriminellen unterrichteten, aber die Unberechenbarkeit der Beziehungen vergiftete das
Klima, so dass die beiden Lebenswelten nebeneinander existierten, auch ohne räumliche
Trennung.
Die Zwangsarbeit, die
per definitionem zur Katorga-Strafe hätte gehören sollen, fris
tete für die politischen Häftlinge paradoxerweise während des größten Teils der betrach
teten Zeitspanne ein Nischendasein. Nirgendwo sonst zeigt sich die Unfähigkeit der Be
hörden in der Organisation des Verbannungssystems drastischer als hier. Die Logistik
der Bewachung der „Politischen“ bei Außenarbeiten und überhaupt bei der Bereitstel
lung von genügend Arbeitsmöglichkeiten für diese überforderte die Verwaltung. Die so
zialen Folgen der erzwungenen Untätigkeit in dafür nicht ausgelegten Gefängnissen und
die Unmöglichkeit, sich der beständigen Nähe der Mitgefangenen zu entziehen, sind an
hand des politischen Gefängnisses von Nižnjaja Kara in den achtziger Jahren zu erken
nen.
Die Bergwerksarbeit, die nach der Schließung der Gefängnisse an der Kara für „Po
litische“ und der Zusammenführung der politischen und der kriminellen Katorga-Häft
linge in Akatuj und später in weiteren Gefängnissen des Nerčinsker Kreises für alle zum
Strafvollzug gehörte, wurde von den Sträflingen fast schon als Wohltat aufgenommen,
wenngleich den euphorischen Stimmen aus dem Kreis der Gefangenen das Schicksal je
ner entgegengehalten werden muss, die sich in den Minen für ihr ganzes weiteres Leben
gesundheitliche Schäden holten. Der wirtschaftliche Ertrag der Bergwerksarbeit blieb
aber gering. Erst während des Ersten Weltkriegs, als nach einer Unterbrechung von
mehr als einem Jahrzehnt wieder politische Häftlinge zu Außenarbeiten verpflichtet
wurden, hielt eine auf Normen basierende, den Einsatz des Häftlings stimulierende Ar
beitsordnung Einzug, die gleichsam ein Propädeutikum für die Zwangsarbeitsheere der
Lagerwelten des 20. Jahrhunderts darstellte. Im Unterschied zu diesen galt es in der
transbaikalischen Katorga als Privileg, arbeiten zu können, aber der Preis dafür war
auch hier lebensbedrohend.
Die fehlende Arbeit während der achtziger Jahre und ab der Jahrhundertwende kom
pensierten die
katoržane mit Bildungs- und Kulturaktivitäten; angesichts der Monotonie
des Alltags hinter den Gefängnismauern nahmen diese Aktivitäten einen für die soziale
Verfassung der Häftlinge zentralen Stellenwert ein. Handelte es sich in Nižnjaja Kara
noch vorwiegend um individuelle Lektüre und Weiterbildung, fand später, zumal nach
1905, ein breites Spektrum an Unterrichtsstunden statt, während denen von der Alpha
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Pod znamenem, S. 274.
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5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
betisierung bis zum literarischen oder naturwissenschaftlichen Kolloquium alles gebo
ten wurde. Die Häftlinge führten sogar selber Theaterstücke auf, deren Darbietungen
auch von der Bevölkerung der Umgebung besucht wurden. Die politische Stoßrichtung
dieser Aktivitäten ist evident. Hier wurde Umerziehung nicht durch die Administration,
sondern durch die Häftlinge selbst geleistet. Der Übergang zur Propaganda war fließend;
die Drähte zur Außenwelt mittels Postsendungen, Briefkontakt und selbst Telegramm-
und Telephonverkehr rissen kaum je ab. Die Freiräume für die Sträflinge, die sogar un
gestört vom Gefängnis aus politische Beziehungen unterhalten konnten, waren mithin
erstaunlich groß. Wichtige Funktionen als Schnittstellen der Kommunikation übernah
men wohlwollende Ärzte und insbesondere jene Häftlinge, die nach der Verbüßung ih
rer Frist im Gefängnis ins „Freie Kommando“, oft in der Nähe der Gefängnisbauten,
entlassen worden waren.
Unter der Oberfläche einer scheinbaren politischen Homogenität der Häftlingsgesell
schaft der „Politischen“ taten sich allerdings Brüche auf, die mit der zunehmenden Viel
falt revolutionärer Gruppierungen zum Ende des 19. Jahrhunderts hin und mit der Riva
lität zwischen den entstehenden größten
Parteien, den Sozialdemokraten und den Sozial
revolutionären, zu politischen Spannungen und mitunter zu Spaltungen führten. Auch
die soziale Einheit war fragil, zumal sich, parallel zur politischen Diversifikation, die
soziale Herkunft der politischen Gefangenen differenzierte. Für beide Tendenzen, für
die steigende Politisierung innerhalb der Häftlingsgesellschaft und für die Zunahme der
sozialen Heterogenität, ist die Zeit nach der Revolution von 1905 ein wichtiger Ein
schnitt. War zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der politischen Katorga-Häft
linge stark zurückgegangen, nahm sie nach der Niederschlagung der revolutionären Um
triebe nach 1905 drastisch zu. Der Zustrom vieler Soldaten, Matrosen und Arbeiter ver
änderte die Zusammensetzung der politischen Katorga. Besonders im Zusammenleben
über politische und soziale Grenzen hinweg, aber auch in der Gestaltung des unmittel
baren Lebensumfelds im Gefängnis, lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede aus
den Erinnerungsberichten herauslesen. Nach den verwendeten Quellentexten von Insas
sinnen des Frauengefängnisses Mal’cevskaja zu urteilen, kam es dort zu keinen politi
schen Fraktionierungen.
Allen Friktionen zum Trotz fanden die Häftlinge spätestens in ihrem Widerstand ge
gen die Gefängnisadministration zur Geschlossenheit zurück. Die Häftlingsberichte mö
gen die Stärke des kollektiven Lebens aus ideologischen Gründen idealisieren; an der
Bedeutung der weitgehenden Solidarität innerhalb der Häftlingsgesellschaft während
Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit, als die sich zumeist die lokale Verwaltung,
mitunter aber auch Katorga-Verantwortliche und Generalgouverneure darstellten, ist an
gesichts des Politisierungsgrads nicht zu zweifeln. Gleichzeitig haben die Ausführungen
gezeigt, dass die Darstellung der Proteste und der Beziehungen zwischen den Gefange
nen und der Administration einer differenzierten Analyse unbedingt bedarf. Denn die
Erinnerungsberichte aus den vier betrachteten Jahrzehnten der politischen Katorga sind
voller dramatischer Schilderungen der Unterdrückung durch die Gefängnisobrigkeit und
der kämpferischen Auflehnung der Häftlinge gegen ein unmenschliches Regime. Nuan
cierte Memoirentexte sind selten. Die sowjetische Forschung schließt an die Überbeto
nung der Auseinandersetzungen an und schreibt die Botschaft von der Fortsetzung des
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