OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
revolutionären Kampfs hinter den Gefängnismauern fort. Die Episodenhaftigkeit der
Zusammenstöße zwischen den „Politischen“ und der Administration kommt kaum zum
Vorschein, ebensowenig wie das Verhältnis von Obrigkeit und Sträflingsgesellschaft als
Wechselbeziehung begriffen wird, für die der Habermassche Begriff der Kommunikati
on erweitert werden muss – Kommunikation muss nicht verständigungsorientiert sein.
Die kommunikative Dimension ebenso wie die Episodenhaftigkeit ist für den Cha
rakter der Vorfälle und für die Haftbedingungen insgesamt bedeutungsvoll. Das Aufbre
chen einer absolut dichotomischen Interpretation der Koexistenz von Bewachern und
Bewachten – und damit eine auf die Ursachen der Proteste differenzierter eingehende
Sichtweise – ermöglicht es, zum einen, zu erkennen, dass bereits für den damaligen
Strafvollzug gängige Symbolhandlungen als Provokation aufgefasst wurden, weil sie
den „Politischen“ als demütigend erschienen; zum andern legt es offen, wie sehr durch
oft ungeschicktes, hilfloses Agieren einer überforderten Obrigkeit rasch eine Kaskade
von Provokationen und Gegenprovokationen ausgelöst wurde,
welche die Eskalation der
Ereignisse zuletzt keiner der beiden Frontseiten mehr zuordnen ließ. Die Häftlingsge
sellschaft der „Politischen“ kämpfte für die Würde; nicht dafür, die Würde als Mensch
im Kampf ums Überleben zu bewahren, wie dies den Alltag in den Lagerwelten des 20.
Jahrhunderts auszeichnete, sondern primär für
die Würde, als politische, als privilegierte
Gefangene behandelt zu werden. Auf die Haftbedingungen bezogen, bedeutete das, dass
die Kräfte der Häftlinge und ihre Lebensumstände die Form eines Widerstands, der
nicht auf das Überleben an sich ausgerichtet war, zuließen. Die elementaren Bedürfnisse
der Gefangenen waren erfüllt – die Kost bewegte sich, aller Kritik daran zum Trotz, im
Rahmen des damals für den hart arbeitenden russischen Bauernstand üblichen, die
Wohnverhältnisse entsprachen, abgesehen vom Eingesperrtsein, denjenigen in einer Fa
brikunterkunft. Der Umgang mit der Frage der Würde stellt bis heute im weltweiten
Strafvollzug eine Gratwanderung dar.
Die Episodenhaftigkeit der Verschärfungen und Zusammenstöße ist bedeutsam. Hät
ten diese durchgehend das Gefängnisklima beherrscht, wären die Bildungs- und Kul
turaktivitäten und die starke Prägung des Gefängnisalltags durch die Kommunen un
denkbar gewesen und eben auch der Kampf um zweifellos hehre, aber vor dem Hin
tergrund der Überlebensfrage eher marginale Ziele. In der Episodenhaftigkeit manifes
tierte sich aber auch die Willkür der Obrigkeit in der Handhabung der Strafvollzugs
praktiken. Die Willkür wiederum, durch welche sich das zarische Vorgehen gegen die
Gegner der herrschenden Ordnung generell auszeichnete, zeigt, dass Macht und Ohn
macht auch in der Katorga nah beisammen lagen. Die Macht der vergleichsweise klei
nen Gruppen der „Politischen“ in den Gefängnissen war groß, und die Handlungen der
Verwaltung, welche eigentlich am längeren Hebel saß und über die Macht hätte verfü
gen müssen, zeugten oft von Hilflosigkeit und legten ein von Inkompetenz und Vettern
wirtschaft geprägtes Gebaren offen. Zwischen den Anordnungen übergeordneter, aber
auch lokaler Stellen und deren Durchsetzung klaffte eine große Lücke. Die politischen
Häftlinge anderseits agierten mitunter erstaunlich professionell, etwa indem sie ihre
Kanäle zur Außenwelt zur Verbreitung der dramatischen Höhepunkte in Gefängnissen
gezielt ausnutzten. Auch in dieser Hinsicht lassen sich zwischen den Mechanismen der
Wechselbeziehungen von Obrigkeit und Häftlingsgesellschaft in den Katorga-Gefäng
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5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
nissen Transbaikaliens und den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen im gesamten
Imperium Bezüge herstellen: Die Opposition war in ihrem Organisierungsgrad dem
schwerfälligen Beamtenapparat oft einen Schritt voraus.
Der Vergleich zwischen der historischen Makroebene, wie sie im Kapitel 2 und be
sonders in der Darstellung der Ereignisse von 1905 zur Darstellung kommt, und der Mi
kroebene der Welt der Katorga zeigt das Bild einer von Ohnmacht erfassten Macht im
Großen wie im Kleinen. Das bedeutet nicht, dass die Nerčinsker und Sachaliner Katorga
als Modell der Verhältnisse im ausgehenden Zarenreich zu gelten hätten. Aber die von
erstaunlichen Freiräumen und Entfaltungsmöglichkeiten einerseits und von erniedrigen
den Symbolhandlungen, Willkür, Unterdrückung und Unfähigkeit der Verwaltung ande
rerseits geprägte Lebenswelt der
katoržane erweist sich als ein Spiegel der auf Reichs
ebene vorherrschenden Mechanismen und Verhaltensweisen. Dazu passt auch die nie
verstummende, aber auch nie zu grundlegenden Veränderungen führende Diskussion
über den Sinn des Verbannungssystems – auf der Makro- wie auf der Mikroebene ver
pufften die Reformvorhaben zu einem guten Teil in der Weite der Bürokratie und des
Raumes.
Die Katorga war keine Besserungsstrafe, obwohl sie im russischen Strafgesetzbuch
unter diese Kategorie fiel. Die Paradoxie der Besserung bestand im zarischen Zwangs
arbeitssystem erstens im Umstand, dass entgegen der ursprünglichen Definition der Kat
orga und des im westeuropäischen Strafdiskurs hervorgehobenen erzieherischen Nut
zens der Arbeit
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über Jahrzehnte den „Politischen“ gar keine Arbeitsmöglichkeiten ge
boten wurden, und zweitens darin, dass die Erziehungs- und damit auch Besserungs
anstrengungen von Seiten der politisierten Häftlinge und nicht der Gefängnisobrigkeit
kamen. Die zahlreichen Freiräume im Gefängnis und die als Wechselbeziehung zu be
greifenden Konflikte mit der Administration schränkten den Repressionsgrad der Haft,
vor dem Hintergrund
des historischen Kontextes, stellen- und phasenweise ein.
Das Vorhaben, die bisherigen historiographischen Paradigmata in der Erforschung
der Katorga-Strafe für politische Sträflinge in Transbaikalien und auf Sachalin aufzubre
chen im Versuch, die Lebenswelt(en) der Katorga vom Weg nach Osten über den Alltag
in den Gefängnissen bis zu den Aufständen und den meist gescheiterten Fluchtversu
chen zu rekonstruieren, hat neue, überraschende Facetten zutage gefördert und zu einer
differenzierten Einschätzung der zarischen Zwangsarbeitsstrafe beigetragen. Auf theore
tisch-methodischer Ebene einerseits und auf einer noch stärker forcierten Kon
textualisierung anderseits ließen sich die Ergebnisse noch vertiefen. So müsste die le
bensweltliche Methode, wie sie Heiko Haumann, aber auch, von der Sozialgeschichte
ausgehend, Rudolf Vierhaus skizziert haben,
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stärker reflektiert werden. Die Wahrneh
mung der Häftlinge gälte es weiter zu hinterfragen und in der Alltagswelt außerhalb der
Gefängnisse vermehrt zu kontextualisieren. Gruppendynamische und sozialpsycholo
gische Ansätze wären bei einer weitergehenden Analyse der Häftlingsgesellschaft her
anzuziehen; die Unterschiede zwischen den Lebenswelten der kriminellen und der poli
tischen Delinquenten sollte genauer herausgearbeitet werden. Für den äußeren, räumli
742 Vgl. F
OUCAULT
Überwachen, S. 308.
743 Vgl. H
AUMANN
Geschichtsschreibung, S. 105–122, und Vierhaus, Rekonstruktion, S. 7–28, sowie Fuß
note 22.
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