OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56
Falle der Katorga – genügend Arbeitsmöglichkeiten für die Verbannten zu finden, bis
zur Überwachung derselben reichte.
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Im Zuge der Gefängnisreformen kamen konkrete
Reformprojekte zur Sprache – etwa im Jahr 1886 die Aufhebung der Katorga-Gefäng
nisse in Transbaikalien und die Umwandlung der Etappengefängnisse in zeitgemäßer or
ganisierte Strafanstalten
732
–, aber aus Geldmangel setzte sich kaum eines der Vorhaben
durch. Der Entschluss zur Einrichtung der Katorga auf Sachalin, der eine direkte Ant
wort auf die Misere im Verbannungssystem sein sollte,
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bewirkte fatalerweise genau
das Gegenteil; die Insel Sachalin wurde rasch zum Synonym für die akuten Krisensymp
tome des Systems.
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Mögen auch Čechov und Kennan mit ihren Schilderungen, in de
nen sie den Verstummten eine Sprache gaben, Reformschritte wie die Einschränkung
der gerichtlichen Verbannungsstrafe durch das Gesetz vom 12. Juni 1900 indirekt beför
dert haben, so wurden doch praktisch keine der Missstände im Vollzug der Katorga-
Strafe für politische Häftlinge nachhaltig behoben.
Der Grund dafür lag, neben der grundsätzlichen Trägheit des zarischen Beamten
apparats, auch darin, dass die Verbannungs- und Zwangsarbeitsstrafe unterschiedliche
politische Ziele miteinander verknüpfte. Die Rückständigkeit des russischen Strafsys
tems im Vergleich zu Westeuropa, wo die Verbannung als Form der Bestrafung weitge
hend ausgedient hatte, bringt Jonathan Daly in Verbindung mit dem Umstand, dass mit
Sibirien der Verbannungsort kein Überseeterritorium, sondern eine zu entwickelnde
Großregion im eigenen Staatswesen darstellte.
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Dadurch vermengten sich zwangsläufig
Besiedlungs-, Kolonisierungs- und Strafpolitik,
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wenngleich die Katorga, wie die vor
angegangenen Ausführungen verdeutlicht haben, durch die wenig effektive Arbeitsleis
tung der Sträflinge die wirtschaftliche Erschließung Sibiriens im ausgehenden Zaren
reich nur marginal zu beeinflussen vermochte.
Die Verbannungsstrafe wirkte als Folge dieser Politik in mehrfacher Weise grenzzie
hend. Als Raum war Sibirien dafür prädestiniert, im europäischen Teil des Imperiums
unerwünschte Elemente zu verschlucken, die zugleich zur Kolonisierung und Erschlie
ßung beitragen sollten. Die Grenzziehung entlang des Uralgebirges aber wurde zugleich
als eine kulturelle Markierung wahrgenommen – Sibirien war nicht nur geographisch
das „andere Russland“, sondern entwickelte sich auch durch die gesellschaftliche Gene
se zu einem kulturell anderen, im europäischen Teil des Imperiums als freiheitlich und
zukunftsweisend bewunderten und als wild und „asiatisch“ verachteten Raum.
737
Nicht
weniger als die räumliche war die soziale Dimension der „inneren Grenze“ entschei
dend, welche die Ssylka und die Katorga im Russischen Reich zogen.
738
Die Rück
731 Vgl. zusammenfassend W
OOD
Crime, S. 232.
732 Vgl. A
DAMS
Politics, S. 136.
733 Zu den Voraussetzungen vgl. G
ENTES
Sakhalin Policy, S. 14–20.
734 G
ENTES
Sakhalin Policy, S. 29, spricht in diesem Zusammenhang von „the worst tendencies of imperi
al Russia’s criminal justice system“.
735 D
ALY
Punishment, S. 357.
736 Vgl. zur Differenzierung von Besiedlungs- und Kolonisierungspolitik S
UNDERLAND
‚Colonization
Question‘, S. 210–213.
737 Vgl. dazu F
IGES
Natasha’s Dance, S. 378f., vor allem aber B
ASSIN
Imperialer Raum, S. 384–391 zu den
negativen, S. 395–399 zu den positiven Wahrnehmungen Sibiriens durch das europäische Russland.
738 Vgl. zur Frage der sozialen Grenzen durch die Körperstrafen im Zarenreich in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts den Aufsatz von S
CHRADER
Branding the Exile, S. 19–40, bes. 19–22. Die Überle
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5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
ständigkeit der Strafform maß sich, folgt man Foucault, im westeuropäischen Kontext
am Grad der Körperlichkeit und der Bedeutung des Bestrafungs- statt des Umerzie
hungsvorgangs.
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Die zarische Verbannungs- und Zwangsarbeitsstrafe war nicht nur
durch die sie begleitende, erst spät abgeschaffte Brandmarkungs- und Prügelpraxis eine
zutiefst körperliche Strafe; durch die beschwerliche Bewältigung des Weges, durch die
symbolhaften, markierenden Eingriffe wie Kopfrasur und Fußfesseln und – im Falle der
Katorga-Häftlinge – durch die Zwangsarbeit blieb sie es bis zuletzt. Der Akt der Ver
bannung war überdies ein Akt der Bestrafung und nicht der Besserung oder Umerzie
hung. Zusammen mit der räumlichen zog die Verbannung eine soziale Grenzlinie, die
für die Betroffenen weitaus endgültiger war als eine Gefängnisstrafe und die Sibirien,
den Raum, zur „anderen Welt“, zum Topos, machte.
Zu dieser „anderen Welt“ gehörte die Welt der politischen Katorga – oder, vielleicht
genauer: gehörten die Lebenswelten der Katorga mit ihren phasen- und gefängnisbe
dingten Unterschieden und mit dem Weg nach Osten, der eine eigenständige Welt und
eine Annäherung an den Alltag in der Katorga zugleich darstellte. Für das Verständnis
der Bedeutung der Katorga-Strafe (und der Verbannung überhaupt) ist die Reise der
Häftlinge an den Ort des Strafvollzugs elementar. Die physische Bewältigung des
Raumes zwischen dem europäischen Russland und Transbaikalien, bis Ende des 19.
Jahrhunderts über Tausende von Kilometern mit dem Schiff auf den Flüssen und vor al
lem zu Fuß auf dem sibirskij trakt, führte den Sträflingen die räumlichen, ethnischen
und kulturellen Dimensionen des Imperiums vor Augen und ließ sie die Bedeutung der
Verbannung in die Abgeschiedenheit der transbaikalischen Täler eindringlich erfahren.
Zugleich lernten sie das soziale Umfeld der Katorga kennen. Die Differenziertheit, mit
der die „Politischen“ in ihren Erinnerungen den Weg schildern, ist erstaunlich. Oft wi
derspiegeln die Berichte hierüber ein positiveres Lebensgefühl als später über die Eintö
nigkeit des Gefängnisalltags, weil die Reise allen Strapazen zum Trotz eine Abwechs
lung und eine Begegnung mit dem Fremden bot, wie sie danach für Jahre nicht mehr
möglich waren. Ebenso aber widerspiegelt der Weg nach Osten die technische Entwick
lung in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches – die Fertigstellung der Transsibiri
schen Eisenbahn war nicht nur für die Verkehrserschließung Sibiriens allgemein revolu
tionär, sondern auch für die Reise der Verbannten. Deren Wahrnehmung des Imperiums
und der Größe des Raumes jedoch relativierte sich durch die raschere Eisenbahnreise
beträchtlich.
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In der eigentlichen Welt der Katorga für die politischen Sträflinge, ab Anfang der
achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts und bis 1890 im politischen Gefängnis von Nižnja
ja Kara getrennt von den Kriminellen und ab 1890 in unterschiedlicher Intensität und In
teraktion gemeinsam mit diesen in den Gefängnissen der Nerčinsker Katorga, stand die
Häftlingsgesellschaft im Mittelpunkt des Gefängnisalltags. Zwar setzte formell die Ge
fängnisadministration den Rahmen, innerhalb dessen sich die Sträflinge zu bewegen
hatten; aber die Bemerkung des polnischen Revolutionärs Feliks Kon, wonach die ka
gungen lassen sich für das Verbannungssystem überhaupt weiterentwickeln.
739 Vgl. F
OUCAULT
Überwachen, S. 16–18. Ebd., S. 359, verwirft Foucault auch den Nutzen der Deportati
on.
740 S
CHIVELBUSCH
Eisenbahnreise, S. 18, schreibt dazu: „Indem die sinnliche Anschauung der Erschöpfung
verlorengeht, geht die der räumlichen Entfernung verloren.“
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