Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
deutsame am Theater von Zerentuj war die Gewährung der Möglichkeiten durch die 
Verwaltung sowie der Umstand, dass es sich – wie bei den Kulturaktivitäten generell – 
um Initiativen von Häftlingsseite handelte. Nicht der Gefängnisdirektor organisierte zur 
Erheiterung oder Propaganda aus „seinen“ begabten Gefangenen ein Musik- oder Thea­
terensemble, wie das in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts vorkam.
564
  Die Details 
über die Theateraufführungen, die in den Erinnerungsberichten, namentlich jenem Evsej 
Michlins, ausgebreitet werden, sind daher zweitrangig. Wichtig erscheint bei den Kul­
turaktivitäten weniger die Form als das, was sie für die Welt der Katorga auszusagen 
vermögen. Dennoch ist es, um die Bedeutung des Theaterspiels für die Haftumstände zu 
verstehen, aufschlussreich zu lesen, mit wie viel Akribie und Engagement die Häftlinge 
ans Werk gingen – nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Stück, das aufgeführt 
werden sollte, sondern auch handwerklich bei der Vorbereitung der Bühne und organi­
satorisch bei der Beschaffung der Kostüme, für die im Umkreis des Gefängnisses eine 
Kleidersammlung durchgeführt wurde.
565
 Gespielt wurden Stücke von Gogol’, Gor’kij, 
Čechov und anderen; viele „Schauspieler“ aus der Arbeiterschicht waren vor der Kat­
orga-Haft nie mit Literatur in Berührung gekommen.
566
 
Theateraufführungen veranstalteten auch einzelne der Frauen in Mal’cevskaja. Die 
Ausmaße von Zerentuj erreichten die bescheidenen Auftritte allerdings nie. Aber auch 
hier zeigte sich der kommunikative Wert darin, dass für die Vorstellungen alle Gefange­
nen – auch die ugolovnye – zusammenkamen und sich auch Aufseher daran erfreuten.
567
Das galt auch für die Feste, die in den Gefängnissen gefeiert wurden. Für die Kinder 
der kriminellen Frauen von Mal’cevskaja organisierten die „Politischen“ im Sommer 
einen Maskenball,
568
 und die hohen kirchlichen Feiertage wurden ebenfalls begangen. In 
Nižnjaja Kara wurde zu Weihnachten und Ostern gefeiert.
569
 Und die politischen Sträf­
linge von Gornyj Zerentuj erwähnen explizit die Feierlichkeiten zum 25. Todestag von 
Karl Marx.
570
Lesen, Lehren und Lernen, Musizieren, Theaterspielen und Feiern machten, je auf ih­
re Art, die Monotonie des Gefängnisalltags erträglich. Mehr als das: Sie waren ent­
scheidend für die seelische Bewältigung der Katorga – des Eingesperrtseins, der ge­
legentlichen Schikanen, der abwechslungslosen Welt. Gefühle traten zutage, und die 
philosophischen Diskussionen, ausgehend von der Lektüre, reflektierten zugleich das ei­
gene, stark kollektiv geprägte Dasein.
571
 Die Propaganda unter den Insassen ging in den 
Gefängnissen der Nerčinsker Katorga von den politischen Häftlingen aus; dass dies ge­
im Gebäude der Begleitsoldaten.
564 Tomasz Kizny hat in seinem Photoband zum Gulag den kulturellen Aktivitäten im Lager ein eigenes, 
berührendes Kapitel gewidmet mit dem Titel „Le théâtre au Goulag“, vgl. K
IZNY
 Goulag, S. 258–297. 
Vgl. auch die entsprechenden Passagen bei S
TARK
 Frauen, S. 182–185, unter dem zutreffenden Titel 
„Leibeigenentheater“.
565 M
ICHLIN
 Teatr, S. 95. 
566 M
ICHLIN
 Teatr, S. 94f. Auch Michlin selbst lernte erst in Zerentuj lesen und schreiben, wie P
LESKOV
 
„Vol’nyj universitet“, S. 169, anmerkt. Das Theater ging aus den Unterrichtsstunden hervor.
567 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 47f.
568 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 43f.
569 K
ON
 Pod znamenem, S. 264. Vgl. auch B
OGDANOV
 Smert’, S. 102, der beiläufig die Feiern zu Weih­
nachten (Anfang der achtziger Jahre in Kara) erwähnt.
570 P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 172.
110


4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
duldet werden musste, zeigt eine Seite der Ohnmacht der Administration und wider­
spricht dem Bild durchgängig rücksichtsloser, unterdrückender Haftbedingungen. Die 
perekovka,   die   „Umschmiedung“,   wie   die   von   oben   verordnete   sowjetische   Propa­
ganda-, Umerziehungs- und Alphabetisierungsarbeit in den Lagern am Belomor-Kanal 
hieß, nahmen in der ostsibirischen Katorga die Häftlinge selbst vor.
572
4.5.4. Drähte zur Außenwelt
Die Bildungs- und Kulturaktivitäten in der ostsibirischen Katorga öffneten die Welt der 
Häftlinge nach außen. Mit der Lektüre der Bücher tat sich eine virtuelle Außenwelt auf, 
durch die sich in Gedanken wandern ließ, die an Vergangenes erinnerte oder aus der 
eine Gegenwart sprach, die für die  katoržane unerreichbar war. Zeitschriften und Zei­
tungen waren noch näher als die literarischen Werke am Alltag, der außerhalb der Ge­
fängnismauern stattfand und an dessen Geschehen sich die „Politischen“ einst mehr 
oder weniger aktiv beteiligt hatten. Die Bücher, Journale und Zeitungen zählten zu den 
Drähten, welche die Innen- mit der Außenwelt der Katorga verbanden. Das Eintreffen 
der Post war ein Ereignis; mit ihr kamen nicht nur Druckerzeugnisse, sondern auch 
Briefe und Pakete von Angehörigen und Freunden.
573
 Deutsch berichtet aus seiner Zeit 
im politischen Gefängnis von Kara (achtziger Jahre):
„Ich bin nicht imstande zu schildern, mit welcher verzehrenden Spannung manche von 
uns den Posttag erwarteten und die Stunde, wo wir die Post im Gefängnis entgegen­
nehmen konnten. […] Zeitungen und Zeitschriften interessierten uns besonders, brachten 
sie doch Kunde von der Welt, von den politischen Vorgängen, die uns leidenschaftlich 
bewegten. Mit Heißhunger stürzte man sich in die Lektüre und alsbald gab es Stoff zu 
Gesprächen und Debatten.“
574
Ganz ungetrübt war die Freude nicht. Nur die „uninteressantesten und konservativsten 
Zeitungen und Zeitschriften“ seien ihnen erlaubt worden, mit Ausnahme des „Vestnik 
571 Vgl. K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77 und 81, sowie P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 173, und 
M
ICHLIN
 Teatr, S. 98.
572 Zur perekovka und den Blüten des (Leningrader) Kulturlebens durch die geistige Elite in den Lagern 
am Belomor-Kanal vgl. den Beitrag von Schlögel, St. Petersburg, bes. S. 8–10. Auch hier wurden von 
Gefangenen Vorträge gehalten und wissenschaftliche Arbeiten ausgeführt – allerdings nicht zugunsten 
der anderen, sich regelrecht zu Tode schuftenden Häftlinge, sondern primär für die Lagerführung und 
die GPU-Leute (Geheimdienst). Vgl. auch P
RIESS
 Strafe, S. 30, für die sowjetische Form der učeba im 
Lager. In den Gulag-Lagern gab es stets eine „Kulturerziehungsabteilung“ (Kul’turno-vospitatel’naja  
čast’),   die   kulturelle   Aktivitäten   anbot,   etwa   Theateraufführungen,   Kinovorstellungen,   Konzerte, 
einen Tanzabend; die Erzieherinnen rekrutierten sich oft aus den Reihen der Kriminellen, vgl. S
TARK
 
Frauen, S. 178–181, sowie den Abschnitt bei A
PPLEBAUM
 Gulag, S. 231–241. Sarkastisch ist Evgenija 
Ginzburgs Bemerkung (G
INSBURG
 Gratwanderung, S. 48): „Diese Einrichtung an sich bedeutete bereits 
einen Fortschritt, da man offensichtlich von der Annahme ausging, dass auch die schlimmsten Volks­
feinde für die Allgemeinheit gerettet werden konnten, wenn man nur keine Mühe scheute, sie umzuer­
ziehen.“ – Die Beispiele verdeutlichen die Tatsache, dass von Häftlingsinitiative nicht die Rede sein 
konnte; die Kultur wurde verordnet und stand niemals im Zentrum des Alltags. Gulag-Häftlingen war 
es auch kaum darum, Eigeninitiative zu beweisen; sie waren mit Überleben vollauf beschäftigt.
573 Die Post traf im Sommer jede Woche, im Winter alle zehn Tage im Kara-Tal ein, wie K
ON
 Pod zna­
menem, S. 234, erwähnt. Aus einer Bemerkung (ebd., S. 268) geht hervor, dass er die Frequenz eher 
bescheiden fand.
574 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 234.
111


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