Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
sich Informationen zwischen den Gefängnissen oft sehr schnell – und sehr weit.
591
 Als es 
in Zerentuj unter dem harten Regime des Gefängnisdirektors Vysockij 1910 zu einer 
Protestwelle kam, die im Selbstmord des Pleve-Attentäters Sazonov gipfelte, zirkulierte 
die Nachricht alsbald in St. Petersburg und wurde von dort, dargestellt als Beispiel für 
die Grausamkeit des zarischen Strafsystems, in die Welt hinaus getragen.
592
 Bereits die 
bevorstehende Amtsübernahme Vysockijs in Zerentuj war als Gerücht aus dem Gefäng­
nis gekommen, noch ehe Čemodanov, der interimistische Vorsteher, von seinem Vorge­
setzten davon unterrichtet worden war.
593
 Möglich war dies, weil die „Politischen“ nicht 
nur mit anderen Gefängnissen in Kontakt standen, sondern auch mit ihren Parteileitun­
gen und Duma-Fraktionen an der Neva korrespondierten.
594
 Dabei ergaben sich zuweilen 
auch kuriose Situationen, etwa dann, wenn die Katorga-Häftlinge im Gegensatz zu loka­
len Parteiorganisationen über die einschlägige ausländische Literatur verfügten und die­
se, zusammen mit selbstverfassten politischen Pamphleten, den Parteigenossen in der 
Freiheit zukommen ließen.
595
Mit der Bevölkerung, die in den Dörfern und Städten in der Nähe der Katorga-Ge­
fängnisse siedelte, standen die Häftlinge in der Regel nicht in Kontakt. Ausnahmen gab 
es aber auch hier – etwa die Theatervorstellungen in Zerentuj während des Krieges, von 
denen bereits die Rede war; wie Michlin berichtet, endeten die Aufführungen im Tanz 
der „Schauspieler“ mit den Zuschauern, so dass sich katoržane und Dorfbewohner buch­
stäblich in den Armen lagen.
596
 Eine wichtige Schnittstelle war das „Freie Kommando“, 
wo jene Häftlinge in kleinen eigenen Hütten oder als Untermieter bei Bauernfamilien 
wohnten, die nach Ablauf eines Drittels ihrer Straffrist aus dem Gefängnis entlassen 
worden waren, aber noch dem Gefängnisadministration unterstanden, bevor sie dann zur 
Ansiedlung in ein entfernteres Gebiet geschickt wurden. Den Entfaltungsmöglichkeiten, 
die das freiere Leben bot, stand die Schwierigkeit gegenüber, für sich selbst sorgen zu 
müssen.
597
 Einzelne entwickelten aber bemerkenswerte Eigeninitiative. So richteten Ro­
591 Auch über kurze Distanz konnte es aber zu entscheidenden Verzögerungen kommen. Das politische 
Gefängnis an der Kara stand mit dem „Freien Kommando“ in Kontakt und dadurch indirekt auch mit 
den weiblichen politischen Sträflingen. Eine Nachricht über Vorgänge im Frauengefängnis 1889, die 
zur sogenannten „Tragödie von Kara“ führten, erreichte die Männer aber erst vier Wochen später, vgl. 
K
ON
 Pod znamenem, S. 297. 
592 Davon berichten sowohl Č
EMODANOV
 Katorga, S. 95, als auch P
LESKOV
 V gody, S. 150. Letzterer er­
klärt, nur dank dem „Freien Kommando“ hätten Russland und Europa davon Kenntnis erhalten. 
593 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 80.
594 P
LESKOV
  V gody, S. 149, und  P
LESKOV
  „Vol’nyj universitet“, S. 173. Die Parteizentralen schickten 
manchmal auch Geld, vgl. K
RAMAROV
 Kommuny, S. 138.
595 P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 173. 
596 M
ICHLIN
 Teatr, S. 98 mit Anmerkung 2.
597 Vgl. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 96f., sowie für die neunziger Jahre K
OVAL

SKAJA
 V Gornom Zerentue, S. 
154–160, und I
VANOVSKAJA
 Pis’ma, S. 144–150; für Mal’cevskaja und Akatuj R
ADZILOVSKAJA
 Koman­
da, und O
RESTOVA
 Komanda, sowie ein Brief vom 9. November 1909 einer mit „R.“ zeichnenden „Po­
litischen“ über die ersten Erfahrungen im „Freien Kommando“; der Brief ist von Vera Figner ediert 
worden, vgl. F
IGNER
 Pis’ma, S. 219–221. Das „Freie Kommando“ wurde gleichwohl zumeist als Privi­
leg wahrgenommen. Die Möglichkeit stand den „Politischen“ erst durch die Gleichstellung mit den 
Kriminellen 1890 rechtmäßig zu (wenngleich auch Mitte der achtziger Jahre bereits ein „Freies Kom­
mando“ an der Kara bestand (K
ENNAN
 Siberia II, S. 187–195), und war, neben dem Negativum des ge­
meinsamen Alltags mit den Verbrechern, eines der „Zuckerbrote“ dieser Neuorganisation; vgl. die 
entsprechende Dokumentation bei F
OMIN
 Katorga, S. 20. 1880/81, im Zuge der Verschärfungen der 
114


4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
mual’d Maleckij und Vladimir Pleskov am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahr­
hunderts im „Freien Kommando“ von Zerentuj eine Schule für die Kinder der Gefäng­
nisangestellten und des Ortes ein; auch sie war ein Ort der Kommunikation, wo Eltern, 
Schüler und die außerhalb des Gefängnisses lebenden Häftlinge sich austauschen konn­
ten.
598
 Die Schule war verbunden mit einem Heim für Kinder der Häftlinge, das in einem 
stattlichen Gebäude untergebracht war. Gegründet einst von einer Petersburgerin mit hu­
manitärer Ader, war es aus der Hauptstadt lange unterstützt worden und musste später 
um seine Existenz kämpfen. Čemodanov nennt es in seinen Memoiren eine „leuchtende 
Oase“.
599
Pauschal für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem „Regime vollständiger 
Isolierung“ der politischen Häftlinge von der Gesellschaft zu sprechen, wie dies Moški­
na tut, ist trotz den Verschärfungen nach 1880 unhaltbar.
600
 Dasselbe gilt für die letzte 
Periode der Katorga nach der Jahrhundertwende, obwohl immer wieder versucht wurde, 
die Freiräume einzuschränken. Diese blieben aber auch in Bezug auf die Möglichkeiten, 
mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, bestehen; ihre Dimension korrelierte frei­
lich mit den Haftbedingungen. Die „Politischen“ hatten, übers Ganze gesehen, regelmä­
ßigen Zugang zu persönlichen und allgemeinen Nachrichten, und die illegalen Kanäle 
funktionierten dank zahlreichen Intermediären bis in die Parteizentralen – in beide Rich­
tungen. Die Drähte zur Außenwelt waren ziemlich dicht. Die Welt der Katorga lag ab­
seits, aber nicht auf einem anderen Planeten.
4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die 
Gefängnisadministration
Die Welt der Katorga war eine Welt der Demütigungen und Schikanen. Diese waren ei­
ner Strafform inhärent, die einem vergangenen Disziplinierungsverständnis entstammte 
und erst spät von den Marter- und Brandmarkungsvorgängen geschieden worden war. 
Einzelne Teile davon hatten überlebt: die Rasur der einen Kopfhälfte, das Anschmieden 
eiserner Fesseln an den Füßen und bisweilen auch den Händen, die Prügelstrafe.
601
 Mit 
verbalen Schikanen, Einschränkungen der Freiräume und drohenden demütigenden Stra­
fen versuchten die Verantwortlichen des Verbannungssystems – vom Minister in Peters­
burg über den zuständigen Generalgouverneur bis zu den Gefängnisdirektoren und Auf­
sehern – die Macht zu demonstrieren, mit der sie die Ordnung in den Katorga-Gefäng­
nissen aufrechterhalten wollten. Oft zeigte sich gerade darin ihre Ohnmacht. Die Demü­
tigungen unterschiedlichen Grades wurden von den Häftlingen als Provokation verstan­
Haftbedingungen für politische Gefangene, waren Sträflinge, die durch den damaligen Kommandan­
ten Kononovič eigenmächtig ins „Freie Kommando“ geschickt worden waren, ins Gefängnis zurück­
geholt worden. Vgl. K
ENNAN
 Siberia II, S. 207–210.
598 P
LESKOV
 V gody, S. 150. Die Schule wurde vom Gefängnisdirektor Vysockij geschlossen und später 
von Pleskov in der Ansiedlung am Baikalsee fortgeführt. Ausführliche Würdigung bei  Č
EMODANOV
 
Katorga, S. 68.
599 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 67f. Erwähnt auch bei F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 105.
600 M
OŠKINA
 Katorga, S. 48.
601 Vgl. S
CHRADER
 Languages, S. 111, zur Körperstrafe im Verbannungssystem und D
ALY
 Punishment, S. 
355, zum Verhältnis von Rückständigkeit und Verbannungssystem im Russischen Reich.
115


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