Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
re, im politischen Gefängnis von Nižnjaja Kara, ließ die Gefängnisadministration den 
Sträflingen viel Freiraum, so dass Feliks Kon sogar zu sagen wagt: „Innerhalb des Ge­
fängnisses waren wir die Herren …“
611
 – was die Ausführungen über die Organisation 
des Häftlingsalltags bereits bestätigt haben. Die einzige der obrigkeitlichen Symbol­
handlungen, die zum Unbehagen der katoržane konsequent durchgeführt wurde, war das 
Rasieren der Kopfhälfte, um die Fluchtgefahr zu verringern, wie es offiziell hieß, aber 
ebenso sehr dürfte die Zeichenhaftigkeit dieses Vorgangs den Ausschlag gegeben haben. 
Wegen der Fluchtgefahr war es auch verboten, gewöhnliche Schuhe zu tragen, während 
sonst eigene Wäsche erlaubt war.
612
 Am zufriedensten war Kon über den Umgang mit 
den Fesseln:
„Am besten verhielt es sich mit den Fesseln. Sie waren bei uns im Kleidersack  aufbe­
wahrt … Der Leitung gelang es nicht, uns dazu zu zwingen, sie zu tragen, und sie kapitu­
lierte, indem sie nur durchsetzte, dass wir sie trugen während des Besuchs einer höheren 
Obrigkeit.“
613
Zu einer anderen Einschätzung kommt Leo Deutsch, der sich über die „Härten des Ge­
fängnisregimes“ beklagt und weiterhin anführt: „das Rasieren des Kopfhaares, das mit 
peinlicher Regelmäßigkeit vollzogen wurde, der fortwährende Anblick der verhassten 
Gendarmen, der Appell morgens und abends, die Revisionen usw.“
614
. Über die demüti­
genden Praktiken, welche die Haft mit sich brachte, besteht keinerlei Zweifel; ange­
sichts der Tatsache, dass Deutsch sich im offiziell härtesten Strafvollzug des Zarenrei­
ches befand, und vor dem Hintergrund der durch die Administration geduldeten Freiräu­
me lässt sich allerdings gleichwohl nach der Verhältnismäßigkeit dieser Klage fragen.
615
 
Ob der friedlichen Koexistenz mit der Obrigkeit in den achtziger Jahren fühlte sich der 
Revolutionär Kon jedoch anscheinend beim Abfassen seiner Memoiren – diese erschie­
nen 1926 – unter Rechtfertigungsdruck. Selbstkritisch nennt er die Stimmung im Ge­
fängnis spießbürgerlich. Obwohl sie sich erst spät (1888) aufzulehnen begannen, hätten 
aber spätestens jene Häftlinge, die 1905 an der Revolution beteiligt waren, bewiesen, 
dass ihre „revolutionäre Flamme“ nicht erloschen sei.
616
  Ähnlich rechtfertigend äußert 
sich Vladimir Pleskov für die Zeit nach 1908 in Zerentuj; im Umgang mit der Adminis­
tration hätten die „Politischen“ bewusst vielfach laviert, um nicht unnötig Kräfte zu ver­
brauchen, die für den revolutionären Kampf noch benötigt würden.
617
 Dass ein von Zwi­
schenfällen, Provokationen und Auseinandersetzungen möglichst ungestörter Häftlings­
611 K
ON
 Pod znamenem, S. 274. 
612 K
ON
 Pod znamenem, S. 274.
613 K
ON
 Pod znamenem, S. 274.
614 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 233. Vgl. auch Ž
UKOV
 Iz nedr, S. 75.
615 Der Kommandant des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara, Nikolin, der bis 1887 im Amt war, 
schilderte gegenüber Kennan das Leben der „Politischen“ sehr positiv (K
ENNAN
  Siberia II, S. 178–
181); diese Schilderungen enthalten einige Übertreibungen, gleichen aber jenen, die in den Häftlings­
berichten Deutschs und Kons zu lesen sind. Kennan, der diesem Bild heftig widerspricht, hatte keinen 
Zugang zum politischen Gefängnis, sondern bezog seine Informationen aus zweiter Hand.
616 K
ON
 Pod znamenem, S. 263f. In diesem Zusammenhang betont Kon seine „Objektivität“ in der Schil­
derung der Ereignisse. Die Selbstrechtfertigung wie auch dieser Hinweis ist im Kontext der Ent­
stehungszeit des Erinnerungsberichts festzumachen und zeigt, dass der Standort des Memoiristen bei 
der kritischen Lektüre und Auswertung stets mitgedacht werden muss.
617 P
LESKOV
 V gody, S. 143.
118


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
alltag allen Beteiligten zugute kam, musste hinter der ideologischen Argumentation ver­
schwinden. Eine zentrale Rolle in der Kommunikation zwischen dem Häftlingskollektiv 
und der Obrigkeit kam dem starosta, dem Vorsteher der Kommune, zu. Er musste die 
Interessen der Häftlinge bei der Gefängnisleitung vorbringen, ohne diese zu provozie­
ren.
618
Die Änderung der Strafpolitik 1890 führte, wie bereits in anderen Zusammenhängen 
dargestellt, wenigstens für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einer strikteren 
Anwendung einiger Zwangsmaßnahmen.
619
  Die Fußfesseln waren nun bei allen Sträf­
lingen wieder Pflicht, ebenso die offizielle Gefängniskleidung. Nach Auseinanderset­
zungen zwischen der Gefängnisadministration und den „Politischen“ erwirkten diese 
aber, dass bei den umstrittenen Begrüßungsformeln vom Reglement abgewichen wur­
de.
620
  Die rechte Kopfhälfte wurde weiterhin regelmäßig rasiert, bei harschem Regime 
sogar dann, wenn es sich um einen Epileptiker handelte, der eigentlich von der Maßnah­
me befreit sein sollte.
621
Nach der Revolution von 1905, als die Zahl der politischen Häftlinge wieder stark 
anstieg und revolutionär gestimmte, breite Bevölkerungssegmente in der Katorga Ein­
zug hielten, herrschte, je nach Gefängnis unterschiedlich lange, die insgesamt wohl frei­
heitlichste Zeit in den Haftanstalten des Nerčinsker Kreises.
622
 Der glücklose Vorsteher 
der Nerčinsker Katorga Metus (er wurde später ermordet) sprach bei seinem Amtsantritt 
vom „Regime eines Klubs“ und von einer „empörenden Verhöhnung des Gesetzes“; so 
wurden in Zerentuj damals keine Fesseln getragen, die Zellentüren standen offen, die 
Häftlinge trugen ihre eigene Kleidung, kommunizierten mit der Außenwelt und hatten 
freie Hand bei der Organisation ihres Kollektivs.
623
  Wenngleich ab 1907 das Regime 
wieder anzog, blieben viele Freiräume bis 1910 offen, zumal in Gornyj Zerentuj – und 
im Frauengefängnis Mal’cevskaja, obwohl das vermutlich in besonderem Maße unbeab­
sichtigt war. Denn die weiblichen politischen Katorga-Sträflinge wurden 1907 auf An­
ordnung des Generalgouverneurs von den Männern in Akatuj separiert und sollten unter 
strengen Bedingungen in einem eigenen Gefängnis ihre Haft verbüßen.
624
 In Mal’cevska­
ja bestanden jedoch bis 1911 (als die Überführung von 1907 unter umgekehrten Vorzei­
chen rückabgewickelt wurde) besonders große Freiräume. Die demütigenden Symbol­
handlungen der Obrigkeit waren auf ein Minimum beschränkt – es gab keine Fesseln, 
618 Das galt über die ganze Zeit der Katorga hinweg; vgl. für Nižnjaja Kara in den achtziger Jahren K
ON
 
Pod znamenem, S. 269, für Akatuj 1890 Č
UJKO
 God, S. 112f., und für Zerentuj 1908–1910 P
LESKOV
 
„Vol’nyj universitet“, S. 166, und Č
EMODANOV
 Katorga, S. 57f. aus Sicht des Gefängnisdirektors. Vgl. 
die Ausführungen im Kap. 4.2.2. (S. 79) zur politischen Organisation in der Kommune.
619 Vgl. das Reglement bei F
OMIN
 Katorga, S. 20–24. 
620 O
RLOV
 Ob Akatue, S. 106f.
621 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 98.
622 Vgl. R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 19, und Ž
UKOV
 Režim, S. 120f.
623 Ž
UKOV
 Režim, S. 120. Vgl. auch F
OMIN
 Katorga, S. 25. Zur Ermordung Metus’ vgl. Ž
UKOV
 Režim, S. 
123.
624 Bei F
OMIN
 Katorga, S. 25, ist das Telegramm von Metus an den Gefängniskommandanten von Akatuj 
vom 2. Februar 1907 abgedruckt, worin Metus die Überführung der Frauen nach Mal’cevskaja ver­
fügt; ebd., S. 24, findet sich die Anweisung des Generalgouverneurs Ėbelov an Metus vom 6. Januar 
1907 zur Verschärfung der Haftbedingungen in Akatuj sowie im künftigen Frauengefängnis von Mal’­
cevskaja.
119


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