Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
nären Häftlingsgesellschaft eines der übelsten Vergehen darstellten. Am ehesten hatten 
sie eine Chance bei jenen, die bereits während der Strafuntersuchung mit der Gendarme­
rie kooperiert hatten. Diese wurden in der Katorga zwar nicht gänzlich gemieden – an­
gesichts der Verhältnisse im Gefängnis wäre das auch kaum möglich gewesen –, hatten 
es aber im Kollektiv sehr schwer, wie Kon für Nižnjaja Kara berichtet.
638
 Die Frage der 
Begnadigung war hochgradig ideologisch besetzt, weil für einen richtigen Revolutionär 
das Leben nicht verloren war, wenn er im Gefängnis saß. Reue zu zeigen, bedeutete, 
dem Sozialismus abzuschwören und sich dadurch von der revolutionären Bewegung ab­
zusetzen.
639
 Wer es trotzdem versuchte oder sich nicht gegen das Angebot der Behörden 
wehrte, wurde später, in der noch stärker politisierten Phase nach der Revolution von 
1905, aus der Kommune ausgeschlossen.
640
 Stets ging es aus der Sicht der Kommunen 
darum, die Linien geschlossen zu halten, weil auch das Leben im Gefängnis als revolu­
tionärer Kampf gesehen wurde.
Eine andere Strategie, die von Häftlingsseite der Obrigkeit unterstellt wurde, war die 
Instrumentalisierung der Kriminellen für die Anliegen der Administration. Die Gleich­
stellung der „Politischen“ mit den Kriminellen 1890 dürfte mit der Hoffnung verbunden 
gewesen sein, die Durchmischung der Häftlingsgesellschaft würde die Macht der wider­
borstigeren, zu allem bereiten politischen Sträflinge schwächen. Bisweilen gelang es der 
Gefängnisleitung, die Kriminellen von Solidarisierungen mit den „Politischen“ abzuhal­
ten oder gar noch gegen diese aufzubringen.
641
 Die Macht der politischen Gefangenen im 
Innern der Gefängnisse konnte dadurch aber nicht gebrochen werden, und Berichte über 
eine  erfolgreiche  folgenschwere  Instrumentalisierung  der  Kriminellen   durch  die   Ad­
ministration fehlen.
Die ineffizienten Verwaltungs- und Befehlsstrukturen sowie eine allzu enge Ver­
zahnung verschiedenster privater und obrigkeitlicher Interessen verhinderten zudem ein 
erfolgreiches Funktionieren des Katorga-Apparats in Transbaikalien. Die lokale Gefäng­
nisadministration ließ sich meist von den Reaktionen der politischen Häftlinge über­
raschen und nahm für jede neue Entwicklung sogleich Rücksprache mit der nächsthö­
heren Instanz.
642
 Eine Bereitschaft der Gefängnisleitung, für ihre Handlungen selbst Ver­
antwortung zu übernehmen, schien nicht vorhanden gewesen zu sein.
643
 Dadurch trafen 
oft jene die Entscheidungen, die nur mittelbar über die tatsächlichen Verhältnisse und 
die leichte Provozierbarkeit der Häftlinge im Bild waren. Auch höhere Chargen zeigten 
sich in außerordentlichen Situationen hilflos, wie die Reaktion des Nerčinsker Katorga-
Kommandanten Zabello nach dem Selbstmord Sazonovs beweist.
644
 Čemodanovs Blick 
638 K
ON
 Pod znamenem, S. 280.
639 K
ON
 Pod znamenem, S. 281f., vergleicht den Sozialismus mit einem religiösen Bekenntnis.
640 Das galt für Gornyj Zerentuj nach 1906, P
LESKOV
 V gody, S. 146f., und P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, 
S. 170.
641 Vgl. F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 92f., und S
LOMJANSKIJ
 V Algačach, S. 143.
642 Auch Čemodanov ließ sich von den Entwicklungen um Sazonov überraschen, vgl. Č
EMODANOV
 Kat­
orga, S. 94.
643 Vgl. die Korrespondenz via Telegramm während der Proteste in Nižnjaja Kara 1888/89, F
OMIN
 Trage­
dija, S. 120–137, und für die Proteste in Zerentuj und Akatuj nach 1907 Ž
UKOV
 Režim, S. 120–129. 
644 Č
EMODANOV
  Katorga, S. 97. Ebenfalls naiv reagierten die Verantwortlichen während der Proteste in 
Nižnjaja Kara 1889, als sie nicht an die Kommunikationskanäle der Häftlinge zwischen dem Frauen- 
und dem Männergefängnis dachten, vgl. K
ON
 Pod znamenem, S. 310f.
122


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
hinter die Kulissen der Katorga-Verwaltung legt die Substrukturen der Administration 
offen. Zabellos Gattin spielte darin, seinen Schilderungen nach zu urteilen, eine nicht 
unwichtige Rolle, indem sie gute Beziehungen zum Gefängnisapparat unterhielt und 
sich unter anderem auch erfolgreich für Čemodanovs Stellvertreter, den dieser gerne 
losgeworden wäre, einsetzte.
645
 Gute Beziehungen zwischen der Gattin des Gefängnisdi­
rektors von Akatuj in den neunziger Jahren und den „Politischen“ – Lev Frejfel’d war 
als Arzt maßgeblich an ihrer Genesung beteiligt – beförderten umgekehrt den Abgang 
des bei den politischen Gefangenen besonders verhassten Vizekommandanten.
646
  Per­
sönliche Verbindungen zählten oft mehr als Kompetenz, und mitunter war die Gefäng­
nisverwaltung – etwa in Kutomara 1912 – vor allem mit Intrigen beschäftigt.
647
 Am Bei­
spiel der Nerčinsker Katorga-Strukturen zeigt sich mithin ein weit verbreitetes und ge­
fährlich blockierendes Übel des gesamten Reiches, die Schwerfälligkeit der Bürokratie 
und ihre Anfälligkeit für Korruption.
648
Ein düsteres Kapitel obrigkeitlicher Härte betraf die medizinische Versorgung der 
Häftlinge. Im politischen Gefängnis an der Kara litten viele Häftlinge an Tuberkulose 
und anderen chronischen Krankheiten, wurden aber nicht adäquat betreut und von den 
übrigen Gefangenen auch nicht separiert.
649
 Dasselbe galt für die psychisch Kranken. Die 
Betreuung war in den achtziger Jahren ebenso wie auch später meist unzureichend, weil 
viele Gefängnisse bloß über eine Hausapotheke und einen schlecht ausgebildeten Feld­
scher verfügten. Mitunter konnte sich dadurch ein Häftling mit medizinischem Hin­
tergrund als Ersatz für einen nicht existenten „freien“ Arzt empfehlen; so übernahm 
Frejfel’d in den neunziger Jahren erst in Akatuj und anschließend in Zerentuj die Auf­
gaben des Gefängnisarztes.
650
 In Mal’cevskaja fehlte aber ein Arzt, obwohl im Gefängnis 
160 Frauen einsaßen; der Feldscher konnte wenig helfen, und der den „Politischen“ 
wohlgesonnene Arzt des Gefängnisses Zerentuj, Rogalev, kam nur sporadisch vorbei. 
Auch bei sich rasch ausbreitenden, grippeartigen Erkrankungen blieb die medizinische 
Hilfe dürftig.
651
 Als eine politische Gefangene an einer Blinddarmentzündung erkrankte 
und eine Operation nötig wurde, mussten ihre Mitgenossinnen um ihren Transport nach 
Gornyj Zerentuj kämpfen; Čemodanov, der damals dort als Gefängnisdirektor amtete, 
erwirkte, dass sie nach Irkutsk zur Operation gebracht werden konnte.
652
 1907 wurde in 
Akatuj auf Anordnung des Generalgouverneurs die Aufnahme ins Gefängnislazarett er­
645  Č
EMODANOV
 Katorga, S. 59.
646 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 100. Vgl. auch O
RLOV
 Ob Akatue, S. 108.
647 Ein Beispiel dafür liefert  Č
EMODANOV
  Katorga, S. 109f., der Kommandant der militärischen Bewa­
chung war (konvojnaja komanda) und, weil er die Praktiken des neuen Gefängniskommandanten Go­
lovkin in Kutomara kritisierte, von diesem telephonisch abgehört wurde; Golovkin erreichte auch die 
Entlassung von Čemodanovs Sekretär, weil dieser ihm zu gefährlich wurde.
648 Vgl. zum Russischen Reich insgesamt R
OGGER
 Russia, S. 22 und 64.
649 M
OŠKINA
 Katorga, S. 34f. Vgl. auch R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 27.
650 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 94, 99, 102–104. Auch an der Kara übernahmen Häftlinge die 
ärztliche Betreuung, vgl. M
OŠKINA
 Katorga, S. 34, und D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 230.
651 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 26f. Nach der Überführung der politischen Gefangenen aus Mal’­
cevskaja nach Akatuj 1911 änderte sich daran nichts; der Arzt kam, wie P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, 
S. 167, erklärt, nur einmal pro Monat vorbei.
652 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 69–72, und M
ETTER
 Stranička, S. 104–108.
123


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