Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
mat erwähnt,
674
  beschreibt Vitaševskij eine Vielzahl unterschiedlicher Haltungen und 
Beweggründe, wie sie damals im Gefängnis aufgetreten waren: vom glühenden Revolu­
tionär, der alles daran setzen wollte, in den Schoss der Bewegung zurückzukehren, über 
Häftlinge, die sich im Stillen einen geruhsamen Alltag in der Freiheit vorstellten oder 
aus hoffnungslos langen Strafen ausbrechen wollten, bis hin zu Abenteurerseelen, die 
wenig Rücksichten auf sich und andere zu nehmen gewillt waren. Schließlich gab es 
jene, die aus verschiedenen Gründen kein Interesse an einer Flucht zeigten.
675
 Die unter­
schiedlichen Ansichten führten zwingend zu Spannungsmomenten unter den Häftlin­
gen.
676
In der Katorga nach 1905 bewegte sich die Diskussion über die Flucht in einem ande­
ren Kontext. Das schlägt sich auch in den Erinnerungsberichten nieder, die, wie alle der 
zwischenrevolutionären Zeit, im Ton schärfer und in der ideologischen, die Fortsetzung 
der   revolutionären   Arbeit   im   Gefängnis   repetierenden   Darstellung   penetranter   sind. 
Ebenso hebt ein sowjetischer Aufsatz über die Flucht aus der Verbannung in der Zeit 
von 1906 bis 1917 die beispiellose Selbstaufopferung der Verbannten hervor, die alles 
unternommen hätten, um in den Kampf zurückzukehren.
677
  Trotz dieser ideologischen 
Überzeichnung in den Quellen und der Rezeption ist unbestritten, dass die „Politischen“ 
nun eine um ein Vielfaches größere Zahl darstellten als noch zehn oder zwanzig Jahre 
zuvor und dass der Fluchtdiskurs unter dem Einfluss der ausgeprägten, deutlich konse­
quenteren Politisierung stand, die sich auch in der sehr straffen Organisation der Kom­
munen manifestierte. Individuelle Fluchtmotivationen zählten nun nichts mehr; das Ziel 
einer Flucht konnte nur ein revolutionäres sein. Als es in Gornyj Zerentuj 1907 zu den 
bereits beschriebenen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Sozialre­
volutionären um den Fluchthilfe-Fonds kam, musste auch Grigorij Kramarov den Letzt­
genannten insofern Recht geben, als die Flucht „kein persönlicher, sondern ein poli­
tischer Akt“ sei und daher nicht jeder, der es wünsche, mit der Unterstützung des Kol­
lektivs fliehen dürfe.
678
 
Dieser „politische Akt“ stand im Vordergrund; die Fluchtversuche der „Politischen“ 
aus der Katorga waren nach 1905 nicht primär eine andere Form der Auflehnung gegen 
das Gefängnisregime – zumindest in Gornyj Zerentuj nutzten die Häftlinge gerade die 
Phase der großen Freiräume, um Anstalten für eine Flucht zu treffen. 1908 gruben die 
zu lebenslänglicher Haft verurteilten „Politischen“ (die bei einer Flucht nur eine Haft­
verlängerung riskierten) einen Tunnel, der ingenieurtechnisch eine Meisterleistung war 
– was sogar der Gefängnisdirektor eingestehen musste –, führte er doch vom ersten 
Stock des zweistöckigen Steinbaus ins Erdreich und von dort unter dem Fundament des 
674 L
EVČENKO
 Pobeg, S. 56.
675 V
ITAŠEVSKIJ
  Na Kare, S. 110f. Eine – nicht direkt auf die Flucht bezogenen – Typologie der „Poli­
tischen“ in Nižnjaja Kara stellt auch K
ON
 Pod znamenem, S. 264f., auf. Er unterscheidet vier Häft­
lingstypen: jene, die allen revolutionären Eifer abgelegt haben und auf eine Begnadigung warten; 
jene, die sich zwar nicht begnadigen lassen wollen, aber nur noch auf die Ansiedlung (poselenie) war­
ten; jene, die sich im Gefängnis vielen Situationen einfach stellen und sich möglichst gut für die revo­
lutionäre Bewegung zu erhalten versuchen; jene, die auf jede Erniedrigung reagieren und ebenfalls 
voller revolutionären Feuers sind.
676 B
OGDANOVIČ
 Posle pobega, S. 76.
677 C
HASIACHMETOV
 Organizacija, S. 54.
678 Vgl. K
RAMAROV
 Kommuny, S. 136. Zur Spaltung in der Kommune Kap. 4.2.2 (S. 79).
128


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
Gebäudes hindurch, wo er, wäre er rechtzeitig fertig geworden, ins Freie geführt hätte.
679
 
Obwohl die Häftlinge mithin ziemlich stark in die Bausubstanz des Gefängnisses ein­
griffen (und dies mit wenig Hilfsmitteln), wurde der Tunnel mehrere Monate lang nicht 
entdeckt.
680
  Ähnliche Fluchtstollen kamen 1907 in Algači und Akatuj zum Vorschein, 
was die Überführung von als besonders gefährlich eingestuften Häftlingen – unter ande­
rem Sazonov – nach Gornyj Zerentuj zur Folge hatte. Die Installation von Fackeln rund 
um das Gefängnis als Sofortmaßnahme der Obrigkeit gegen potentielle Ausbrecher er­
scheint eher als Ausdruck der Hilflosigkeit denn als wirksame Maßnahme.
681
Auch die Fluchtpläne an der Kara in den achtziger Jahren waren ursprünglich von ei­
nem Tunnel ausgegangen; das sumpfige Gelände rund um das politische Gefängnis so­
wie Unstimmigkeiten unter den Häftlingen verhinderten aber die Fertigstellung eines 
Stollens.
682
  Die „Flucht der Acht“ gelang über die Werkstätten, die sich direkt neben 
dem Gefängnis befanden; die Gefangenen flüchteten in vier Staffeln paarweise. Zwi­
schen dem ersten und dem letzten Paar, dessen Flucht bemerkt wurde und zur Aufde­
ckung der Aktion führte, vergingen, je nach Quelle, zwei bis vier Wochen, während de­
nen die Gefängnisadministration vom Ausmaß der Flucht keine Ahnung hatte. Die höl­
zernen „Mannequins“, die anstelle der Geflohenen auf deren Schlafplätze gelegt wur­
den, taten ihre Wirkung: Beim Appell wurden sie stets – als handle es sich um schlafen­
de Häftlinge – mitgezählt …
683
 Die Reaktion der auf peinlichste Weise an der Nase her­
um geführten Verwaltung nach der Entdeckung war umso härter; alle Flüchtigen wurden 
wieder gefangen, und das überaus harsche Regime dauerte bis 1885.
684
 
Die Ohnmacht der vermeintlich Mächtigen zeigt sich in den Episoden von vor und 
nach 1905 drastisch: Weder gelang es der Administration, regelrechte Bauarbeiten am 
Gefängnis innerhalb nützlicher Frist aufzudecken oder überhaupt erst zu verhindern, 
noch vermochte sie den Überblick über die ihr anvertrauten Häftlinge zu bewahren; 
stattdessen   fiel   sie   auf   ziemlich   plumpe   Täuschungsmanöver   (Holzpuppen)   herein. 
Trotz diesen äußerst aufschlussreichen, ebenso erstaunlichen Lücken in der Überwa­
chung der Gefangenen waren Fluchtversuche aus der Katorga aber selten erfolgreich. In 
Mal’cevskaja blieben die Fluchtgedanken, wie es heißt, „platonisch“, weil sich die Frau­
en über den logistischen Aufwand im klaren waren. Die Nerčinsker Katorga lag zu sehr 
abseits der Schienenstränge, und die umliegende Bevölkerung, die stark kosakisch do­
miniert und daher mit dem Staatsdienst verwoben war, wusste, was sie mit Flüchtigen 
zu tun hatte.
685
 Jene nahe dem Gefängnis lebenden Dorfbewohner, mit denen die „Poli­
679 Bei  P
LESKOV
  Pobegi, S. 196f., ist der Rapport des Gefängnisdirektors Pokrovskij an den Komman­
danten der Nerčinsker Katorga, Zabello, datiert vom 23. August 1908, abgedruckt.
680 P
LESKOV
 Pobegi, S. 201.
681 Ž
UKOV
 Režim, S. 123–126.
682 B
OGDANOVIČ
 Posle pobega, S. 75f.
683 B
OGDANOVIČ
  Posle pobega, S. 73–91 (nennt zwei Wochen als Zeitraum zwischen Fluchtbeginn und 
-ende), L
EVČENKO
 Pobeg, S. 55–72 (selbst unter den Flüchtenden), sowie V
ITAŠEVSKIJ
 S. 110–119 (vier 
Wochen), berichten über die „Flucht der Acht“. Dokumente (Rapporte, Häftlingsnotizen, Telegram­
me) finden sich bei J
AKIMOVA
 Dokumenty, S. 92–100.
684 Vgl. bes. B
OGDANOVIČ
 Posle pobega, S. 76–91, sowie sehr ausführlich K
ENNAN
 Siberia II, S. 230–261. 
685 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 44, B
OGDANOV
 Smert’, S. 107, und P
LESKOV
 Pobegi, S. 194. Vgl. 
auch C
HASIACHMETOV
 Organizacija, S. 78, der die Bedeutung der Verbindungen zu lokalen Helfern her­
vorhebt. L
EVČENKO
 Pobeg, S. 67–70, schildert, wie er und sein Fluchtpartner von Jägern in der Taiga 
129


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