4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
Gebäudes hindurch, wo er, wäre er rechtzeitig fertig geworden, ins Freie geführt hätte.
679
Obwohl die Häftlinge mithin ziemlich stark in die Bausubstanz des Gefängnisses ein
griffen (und dies mit wenig Hilfsmitteln), wurde der Tunnel mehrere Monate lang nicht
entdeckt.
680
Ähnliche Fluchtstollen kamen 1907 in Algači und Akatuj zum Vorschein,
was die Überführung von als besonders gefährlich eingestuften Häftlingen – unter ande
rem Sazonov – nach Gornyj Zerentuj zur Folge hatte. Die Installation von Fackeln rund
um das Gefängnis als Sofortmaßnahme der Obrigkeit gegen potentielle Ausbrecher er
scheint eher als Ausdruck der Hilflosigkeit denn als wirksame Maßnahme.
681
Auch die Fluchtpläne an der Kara in den achtziger Jahren waren ursprünglich von ei
nem Tunnel ausgegangen; das sumpfige Gelände rund um das politische Gefängnis so
wie Unstimmigkeiten unter den Häftlingen verhinderten aber die Fertigstellung eines
Stollens.
682
Die „Flucht der Acht“ gelang über die Werkstätten, die sich direkt neben
dem Gefängnis befanden; die Gefangenen flüchteten in vier Staffeln paarweise. Zwi
schen dem ersten und dem letzten Paar, dessen Flucht bemerkt wurde und zur Aufde
ckung der Aktion führte, vergingen, je nach Quelle, zwei bis vier Wochen, während de
nen die Gefängnisadministration vom Ausmaß der Flucht keine Ahnung hatte. Die höl
zernen „Mannequins“, die anstelle der Geflohenen auf deren Schlafplätze gelegt wur
den, taten ihre Wirkung: Beim Appell wurden sie stets – als handle es sich um schlafen
de Häftlinge – mitgezählt …
683
Die Reaktion der auf peinlichste Weise an der Nase her
um geführten Verwaltung nach der Entdeckung war umso härter; alle Flüchtigen
wurden
wieder gefangen, und das überaus harsche Regime dauerte bis 1885.
684
Die Ohnmacht der vermeintlich Mächtigen zeigt sich in den Episoden von vor und
nach 1905 drastisch: Weder gelang es der Administration, regelrechte Bauarbeiten am
Gefängnis innerhalb nützlicher Frist aufzudecken oder überhaupt erst zu verhindern,
noch vermochte sie den Überblick über die ihr anvertrauten Häftlinge zu bewahren;
stattdessen fiel sie auf ziemlich plumpe Täuschungsmanöver (Holzpuppen) herein.
Trotz diesen äußerst aufschlussreichen, ebenso erstaunlichen Lücken in der Überwa
chung der Gefangenen waren Fluchtversuche aus der Katorga aber selten erfolgreich. In
Mal’cevskaja blieben die Fluchtgedanken, wie es heißt, „platonisch“, weil sich die Frau
en über den logistischen Aufwand im klaren waren. Die Nerčinsker Katorga lag zu sehr
abseits der Schienenstränge, und die umliegende Bevölkerung, die stark kosakisch do
miniert und daher mit dem Staatsdienst verwoben war, wusste, was sie mit Flüchtigen
zu tun hatte.
685
Jene nahe dem Gefängnis lebenden Dorfbewohner, mit denen die „Poli
679 Bei P
LESKOV
Pobegi, S. 196f., ist der Rapport des Gefängnisdirektors Pokrovskij an den Komman
danten der Nerčinsker Katorga, Zabello, datiert vom 23. August 1908, abgedruckt.
680 P
LESKOV
Pobegi, S. 201.
681 Ž
UKOV
Režim, S. 123–126.
682 B
OGDANOVIČ
Posle pobega, S. 75f.
683 B
OGDANOVIČ
Posle pobega, S. 73–91 (nennt zwei Wochen als Zeitraum zwischen Fluchtbeginn und
-ende), L
EVČENKO
Pobeg, S. 55–72 (selbst unter den Flüchtenden), sowie V
ITAŠEVSKIJ
S. 110–119 (vier
Wochen), berichten über die „Flucht der Acht“. Dokumente (Rapporte, Häftlingsnotizen, Telegram
me) finden
sich bei J
AKIMOVA
Dokumenty, S. 92–100.
684 Vgl. bes. B
OGDANOVIČ
Posle pobega, S. 76–91, sowie
sehr ausführlich K
ENNAN
Siberia II, S. 230–261.
685 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 44, B
OGDANOV
Smert’, S. 107, und P
LESKOV
Pobegi, S. 194. Vgl.
auch C
HASIACHMETOV
Organizacija, S. 78, der die Bedeutung der Verbindungen zu lokalen Helfern her
vorhebt. L
EVČENKO
Pobeg, S. 67–70, schildert, wie er und sein Fluchtpartner von Jägern in der Taiga
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