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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Katorga, Zabello, nahe, der in seinem Rapport über die Ereignisse in Zerentuj 1910 fest­
hält, Vysockijs Vorgänger Čemodanov habe es geschafft, auch bei korrekter Umsetzung 
der Vorgaben die Ruhe unter den „Politischen“ zu bewahren. Vysockij habe sich hinge­
gen seinem, Zabellos, Rat widersetzt.
663
  Das verdeutlicht nicht nur den Spielraum, der 
den Gefängniskommandanten offenstand, und damit die Dehnbarkeit des obrigkeitli­
chen Auftrags. Es verweist auch auf den Stellenwert der beiderseitigen Kooperationsbe­
reitschaft. Dass, einerseits, die Voraussetzungen dafür fehlten, wenn Vysockij in Zeren­
tuj und der Generalgouverneur Kijaško später in Algači und Kutomara zielsicher von 
Anfang an genau jene Verhaltensweisen an den Tag legten, die bekanntermaßen von den 
„Politischen“ nicht toleriert wurden (es ging insbesondere um das Duzen, die Begrü­
ßungsformeln und die Androhung von Körperstrafe),
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 lässt sich nicht leugnen. Ander­
seits waren die politischen Sträflinge vor allem nach 1905 bereit, auf praktisch jede Pro­
vokation einzutreten, jeden – auch vergleichsweise kleinen – Anlass als hingeworfenen 
Fehdehandschuh zu interpretieren oder, bei handfesteren Gründen, die Spirale der Eska­
lation kräftig weiterzudrehen. Kon, der in seiner Schrift stets darum bemüht ist, die län­
gere ruhige Periode in Nižnjaja Kara zu rechtfertigen, äußert sich besonnen, ohne aber 
die radikale Bereitschaft zum Äußersten zu leugnen:
„Dort, wo Hunderte auf einen unbedachten oder unbeabsichtigten Schritt eines einzelnen 
blicken, gewöhnen sich die Leute an die Gefahr, lernen sich zu beherrschen und sich 
nicht in ausgelegte Netze ziehen zu lassen; spät, aber manches Mal auch stürmisch, er­
örtern sie die Frage nach dem Protest, ehe er beginnt; aber hat er einmal begonnen, füh­
ren sie den Protest bis zum Ende und fliehen entweder oder sterben.“
665
Die Schwelle zum Protest und durchaus auch zur Gegenprovokation war in Zerentuj, 
Algači und Kutomara bedeutend tiefer. So löste die Bestrafung eines Häftlings mit Spa­
ziergangsverbot wegen angeblicher Beleidigung von Čemodanovs Stellvertreter in Ze­
rentuj einen Hungerstreik aus Solidarität aus.
666
 Bei den Zusammenstößen ab 1910 ging 
es zwar um mehr – letztlich, wie immer, um die Würde der „Politischen“. Aber der 
Zweck ging über die Verteidigung der eigenen Integrität hinaus. Geschickt nutzten die 
katoržane ihre Drähte zur Außenwelt, um die Vorgänge in der Nerčinsker Katorga pu­
blikumswirksam innert kürzester Zeit an die Neva und in die Öffentlichkeit zu tragen. 
Die Fortsetzung des revolutionären Kampfs im Gefängnis war insofern mehr als nur 
eine rhetorische Floskel.
667
 War diese Episode mehr als ein Hilferuf und kann sie als eine 
Instrumentalisierung der (erst in Rudimenten im Zarenreich bestehenden) Öffentlichkeit 
663 Der Rapport findet sich bei F
OMIN
 Katorga, S. 32f. Er ist an Generalgouverneur Kijaško gerichtet und 
datiert vom 30. November 1910.
664 Für Kutomara vgl. bes.  Ž
UKOVSKIJ

UK
 V dni, S. 177–180, für Zerentuj und Algači  O
ZEROV
 Put’, S. 
152–162, und S
LOMJANSKIJ
 V Algačach, S. 139–148.
665 K
ON
 Pod znamenem, S. 287.
666 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 76f. Hier konnte Čemodanov mit dem Appell an die Verhältnismäßigkeit und 
erforderliche Besonnenheit auf beiden Seiten die Situation vor einer Eskalation bewahren.
667 Interessanterweise möchte T
AGAROV
 Protesty, S. 81, den Umstand betonen, dass die „Politischen“ den 
Protest auch zur Verbreitung der Vorkommnisse in der Katorga nutzten. Er bemängelt dabei die Me­
moirentexte, die den Protest allein mit der Würde des Menschen begründeten und darob den „großar­
tigen Akt der politischen Erziehung der Massen“ vergessen ließen. Er streicht also die kommunikative 
Leistung heraus und geht nicht darauf ein, dass die Instrumentalisierung des Protestes diesen in sei­
nem Wesen auch veränderte. 
126


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
gelesen werden, die noch zusätzlich die These vom Wechselspiel zwischen Häftlingsge­
sellschaft und Obrigkeit belegen, das die „Tragödien“ bedingte?
4.6.4. Flucht und Fluchtversuche
Unabhängig von der Härte des Regimes im Katorga-Gefängnis existierten im Leben der 
Häftlinge Momente, die den Gefängnisaufenthalt zur schieren Qual werden ließen. Das 
Gefühl des Eingesperrtseins, der auf Jahre hinaus festgeschriebenen Trennung von der 
Landschaft, die das Gefängnis umgab, und von dem Lebensumfeld der Vergangenheit 
beschränkte sich nicht auf die Anfangszeit, als die Eindrücke vom Transport noch frisch 
und die Eingrenzung der Welt noch neu war.
668
 Jedes Frühjahr, wenn die Natur in Trans­
baikalien spät und zögerlich, dann explosionsartig erwachte, ergriff die Sträflinge die 
große Sehnsucht nach der Freiheit. „Der Frühling war allgemein die schwierigste Zeit 
im Gefängnis“
669
, schreibt Ivan Starodubcev, und Leo Deutsch hält fest, im Frühling sei 
das Leben im Gefängnis kaum noch zu ertragen gewesen.
670
 
Das Frühjahr war daher auch die Jahreszeit der Fluchtgedanken und der Fluchtversu­
che. Was auch immer die Gefängnisadministration unternahm, um die Fluchtgefahr zu 
minimieren – die Flucht blieb, als Erzähltopos, Traum und in der konkreten Erwägung 
und Vorbereitung, unter den Häftlingen dauernd präsent.
671
 Das betraf ausnahmslos alle 
Jahrzehnte des ausgehenden Zarenreichs; dennoch lassen sich innerhalb dieser Periode 
Unterschiede zwischen einer früheren Phase – die achtziger und neunziger Jahre – und 
einer späteren Phase – die Zeit nach 1905 – festmachen. „Sich auf die Flucht vorzube­
reiten in dieser Zeit war nicht nur ein Verlangen der Seele, sondern auch Ausdruck gu­
ten Tons“
672
, schreibt Vitaševskij für die 1880er Jahre. Die Flucht in den achtziger Jah­
ren aus dem politischen Gefängnis an der Kara und später in den neunziger Jahren aus 
Akatuj war, zum einen, ein alternativer Vorgang der Auflehnung gegen das herrschende 
harte Gefängnisregime. Der als „Flucht der Acht“ in die Geschichte der politischen Kat­
orga eingegangene Fluchtversuch vom April 1882 aus Nižnjaja Kara wurzelte wesent­
lich in der Verschärfung der Haftbedingungen 1881, als das „Freie Kommando“ ge­
schlossen und den politischen Häftlingen die Arbeitsmöglichkeit geraubt worden war.
673
 
Zum   andern   zeigte  sich  die   darüber   hinausgehende,  persönliche   Motivation   der  zur 
Flucht unbedingt bereiten Sträflinge deutlich disparater als in den Jahren nach 1905. 
Während Levčenko im Vorfeld des Ausbruchs vom April 1882 schlicht das geringe Al­
ter der meisten katoržane und deren natürlichen Wunsch nach der Rückkehr in die Hei­
668 Vgl. K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77, sowie die Ausführungen dazu zu Beginn von Kap. 4.1 (S. 
65).
669 S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 213.
670 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 231.
671 Vgl.  M
ELSCHIN
  Im Lande 2, S. 351. Mel’šin-Jakubovič lässt den Gefängnisdirektor „Lutschesarow“ 
(Archangel’skij) im Frühjahr an den Verstand der Sträflinge appellieren, auf die seiner Ansicht nach 
wenig aussichtsreichen Fluchtversuche zu verzichten. Der Erfolg blieb aus. Vgl. auch R
ADZILOVSKAJA
/
O
RESTOVA
 Katorga, S. 44.
672 V
ITAŠEVSKIJ
 Na Kare, S. 110.
673 Vgl. K
ENNAN
 Siberia II, S. 229, D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 219f., und B
OGDANOVIČ
 Posle pobega, S. 
75, wo es heißt: „Die Situation der Gefangenen wurde mit jeder Woche schwieriger […]. […] Als 
einzige Rettung erschien die Flucht.“
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