Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
tischen“ vor allem nach 1905 über Mittelspersonen im Austausch standen, bildeten aber 
ein Netz möglicher Fluchthelfer. Das mochte zwar auch für katoržane gelten; von gro­
ßer Bedeutung waren die Dorfbewohner und hilfsbereiten Beamten jedoch vor allem für 
die zur Flucht entschlossenen ssyl’nye.
686
 Gerade für die Fluchtversuche waren die Dräh­
te zur Außenwelt daher entscheidend. Mit dem politischen „Roten Kreuz“  („Krasnyj 
krest“)  besaßen  die Revolutionäre eine Organisation, die ihre Fluchtvorhaben zu un­
terstützen trachtete, unter anderem mit Geldspenden.
687
  Dass nicht jede Flucht an der 
fehlenden Bereitschaft der Bevölkerung scheitern musste, belegt das Beispiel des unter 
absolut willkürlichen, mysteriösen Umständen in die Katorga zum Eisenbahnbau ge­
langten jungen Schweizers Mark Séchaud, der nach vielen Jahren zusammen mit einem 
Mithäftling erfolgreich quer durch Russland fliehen und immer wieder in Häusern Un­
terschlupf finden konnte.
688
4.7. Sachalin – die andere Katorga
Kein Ort in der Katorga verdient die Bezeichnung „andere Welt“ eher als die fernöstli­
che Insel Sachalin. Das Eiland am östlichen Ende der eurasischen Landmasse des Russi­
schen Reiches war eine „andere Welt“ in mehrfacher Hinsicht: als Teil der Topographie 
der Katorga, als ein Stück Erde mit hervorstechenden klimatischen Eigenschaften und, 
vor allem, als eine „Katorga in der Katorga“. Die Katorga-Welt von Sachalin gehorchte 
spezifischen Regeln – das hat bereits die „Weltreise“ nach Sachalin, der Transport, ge­
zeigt. Und nicht ohne Grund ist die Liste der Bezeichnungen, mit der die Insel im Laufe 
der relativ kurzen Geschichte als Strafkolonie (1868 bis 1906) bedacht wurde, lang – 
„Insel der Verbannung“ („ostrov izgnanija“), „Insel der Verzweiflung“ („ostrov otčaja­
nija“), „Insel der Tränen“ („ostrov slez“) sind nur ein Auszug daraus.
689
 Man muss kein 
Legendenbildner sein, um festzuhalten, dass Sachalin, neben der Festung Schlüsselburg 
(Šlissel’burg) bei Petersburg, der wohl berüchtigteste Ort der Katorga war. Die Zahl je­
ner Verurteilten, die, wie der politische Häftling Anatolij Ermakov, aktiv danach trach­
nach kurzem Beisammensein als Entlaufene überführt und der Gendarmerie übergeben wurden.
686 P
LESKOV
 Pobegi, S. 192, und C
HASIACHMETOV
 Organizacija, S. 65. Letzterer nennt Fluchthilfeorganisa­
tionen auch für Gornyj Zerentuj und Akatuj für 1906/07, ohne aber einen konkreten Fluchtversuch zu 
erwähnen.
687 K
RAMAROV
  Kommuny, S. 138, sowie  A
NDREEV
  Revoljucionery-narodniki, S. 27, und  C
HASIACHMETOV
 
Organizacija, S. 63. Vgl. auch D
ALY
 Political Crime, S. 92, der die Flucht auch aus dem Gefängnis für 
relativ leicht und erfolgreich hält wegen der Transsibirischen Eisenbahn. Allerdings wiegen die Ge­
genargumente, die den Quellen zu entnehmen sind (vgl. Fußnote 670), namentlich die abgelegene Si­
tuierung der Nerčinsker Katorga, wohl stärker. C
HASIACHMETOV
 Organizacija, S. 65, nennt als Flucht­
route aus der Nerčinsker Katorga den Weg über Vladivostok und Harbin. Das erste Fluchtpaar der 
„Acht“ aus Nižnjaja Kara war in Vladivostok beim Besteigen des Schiffes, das die Sicherheit ge­
bracht hätte, verhaftet worden, vgl. die Nacherzählung der Ereignisse bei  D
EUTSCH
  Sechzehn Jahre, 
S. 221.
688 S
ÉCHAUD
 28 Jahre, S. 20–27, schildert die Flucht der beiden Katorga-Sträflinge.
689 Zu finden bei S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 102, und D
OROŠEVIČ
 Sachalin, S. 6. Senčenko nennt den 
zweiten Teil seiner Monographie zu den russischen Revolutionären auf Sachalin „Na ostrove otver­
žennych“ („Auf der Insel der Ausgestoßenen“); die Überschrift ist dem Titel von Petr Jakubovičs (L. 
Mel’šins)   literarischen   Erinnerungen  „V   mire   otveržennych“  („In   der   Welt   der   Ausgestoßenen“) 
nachempfunden.
130


4.7. Sachalin – die andere Katorga
teten, auf der Insel statt auf dem Festland die Katorga-Strafe zu verbüßen, war ver­
schwindend klein; eher noch verstümmelten sich die Gefangenen selbst, um nicht an 
diesen Ort verschickt zu werden, von dem es angeblich keine Rückkehr gab.
690
 
Die Katorga von Sachalin war eine „andere Katorga“, aber in gewissem Sinne war 
sie das ins Extreme gewendete Beispiel für die Zwangsarbeit und das Verbannungssys­
tem im ausgehenden Zarenreich. Nirgendwo waren die Missstände des Verbannungssys­
tems, die Überforderung, die Ohnmacht, die Korruption und die Brutalität, größer und 
augenfälliger als auf der Insel. Das war, wie Andrew Gentes in einem Beitrag zu den 
Anfängen der Sachaliner Verbannung besonders nachdrücklich herausgestrichen hat,
691
 
insofern ein bitteres Paradoxon, als der Einrichtung der Strafkolonie auf der Insel Sa­
chalin die Hoffnung zugrunde lag, das nicht mehr zeitgemäße und nicht mehr richtig 
funktionierende System von Katorga und Ssylka im Rahmen der Reformbestrebungen 
der sechziger Jahre exemplarisch auf eine neue Grundlage zu stellen. Dieses Vorhaben 
musste aber scheitern, weil der Entscheid von 1871, Sachalin – analog den insularen 
Strafkolonien der Briten und Franzosen und auch aus strategischen Gründen – durch den 
Strafvollzug zu kolonisieren, wider besseres Wissen um die klimatischen Verhältnisse 
und die wirtschaftlichen Möglichkeiten gefällt worden war.
692
  Das harsche Klima mit 
großen Temperaturschwankungen im Jahresverlauf und hoher Feuchtigkeit (mit hartnä­
ckigem Nebel und Dunst als Folge) sowie die für die Landwirtschaft ungeeigneten Bö­
den verhinderten eine agrarbasierte Kolonisierung, die angesichts der nur bescheidenen 
Ausbeutungsmöglichkeiten   der   Kohlevorkommen   im   Mittelpunkt   des   Vorhabens 
stand.
693
 Anstatt, wie beabsichtigt, die Katorga in einer neuen Form – jener der Strafko­
lonie – zukunftsfähig zu machen, verkam das Experiment Sachalin durch die Ignoranz 
gegenüber der Realität zu einem Desaster, wurde die Insel zu einer „menschengemach­
ten Hölle“ (Gentes), in der nicht zuletzt aufgrund der großen Kompetenzen des Insel­
kommandanten – dieser verfügte auch über die juristische Gewalt
694
 – und einer überfor­
690 E
RMAKOV
 Dva goda, S. 153–155. Er interessierte sich für die Sachaliner Katorga so sehr, dass er sich 
nicht damit abzufinden bereit war, dass die zuständige Kommission für ihn das Katorga-Zentralge­
fängnis Aleksandrovsk bei Irkutsk vorsah. Sein Wille wurde schließlich, trotz der ihm bescheinigten 
angeschlagenen Gesundheit, respektiert.
691 G
ENTES
 Sakhalin Policy, S. 1–31, für die unmittelbar folgenden Ausführungen bes. S. 14–20 zu den 
Problemen der Katorga allgemein als Hintergrundfolie für die Ausweitung auf Sachalin. Vgl. auch die 
Bemerkungen im Kap. 3.1.2 (S. 46) sowie zur Debatte über das Verbannungssystem Kap. 5 (S. 137).
692 G
ENTES
  Sakhalin Policy, S. 1, 7–13 und 20–23, zeichnet den Entscheidungsprozess detailliert nach 
und legt dar, wie die gewonnen Daten über die meteorologischen Verhältnisse und über die daraus re­
sultierenden Bedingungen für die Landwirtschaft entweder völlig realitätsfern interpretiert oder ein­
fach ignoriert wurden. Die Entscheidung für die Errichtung der Strafkolonie wurde offiziell von einer 
Kommission 1871 gefällt, war aber bereits von oben (vom Innenminister, vom Generalgouverneur, 
vielleicht auch vom Zaren selbst) vorbestimmt. Bereits zuvor (1868/69) waren erste Sträflinge, gleich­
sam probehalber, auf die Insel geschickt worden. Erst 1875 wurde aber begonnen, die Umsetzung der 
Katorga-Strukturen auf Sachalin anzugehen (S. 23f.).
693 G
ENTES
 Sakhalin Policy, S. 1 und 6 zum Klima und zu den Kohlevorkommen; ebenfalls D
E
 W
INDT
 Si­
beria, S. 57f., sowie Č
ECHOV
 Ostrov Sachalin, S. 117f., zu den meteorologischen Verhältnissen (Tem­
peraturtafel) und den Folgen für die landwirtschaftliche Nutzbarkeit der Insel.
694 G
ENTES
 Sakhalin Policy, S. 26f.
131


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