Osteuropa-institut



Yüklə 2,05 Mb.
Pdf görüntüsü
səhifə67/77
tarix19.07.2018
ölçüsü2,05 Mb.
#56870
1   ...   63   64   65   66   67   68   69   70   ...   77

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
neunziger Jahren – Häftlinge zur besonderen Demütigung Tag und Nacht an Schubkar­
ren gekettet, eine Strafmethode, die in der Nerčinsker Katorga zwei Jahrzehnte vorher 
abgeschafft worden war.
723
 Im direkten Umgang zwischen den „Politischen“ und den Be­
hörden waren die Muster von demütigenden Forderungen und Symbolhandlungen und 
von Provokationen und Gegenprovokationen dieselben wie in Transbaikalien. Auch auf 
Sachalin versuchte die Obrigkeit, die Sträflinge zu duzen und zu zwingen, zur Ehrerbie­
tung die Mütze beim Gruß zu heben, und auch hier kam es zu Protesten, die sich rasch 
über den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus ausweiteten und mit harten Strafen be­
antwortet wurden.
724
 Allerdings herrschte nicht selten ein durchaus vertrauensvoller Um­
gang von „Politischen“ und Vertretern der Staatsmacht – ein Umstand, der in der beson­
deren Prägung der Insel als Strafkolonie und ihrer mehrheitlich aus Verbannten beste­
henden Gesellschaft wurzelte. Ermakov berichtet davon, dass die Aufseher von den Kri­
minellen Ehrbezeugungen erwarteten, den „Politischen“  aber selbst fast unterwürfig be­
gegneten.
725
 Diese Beobachtung deutet an, was Čechov und Doroševič in ihren ausführli­
chen Schilderungen der Sachaliner Lebensumstände für kriminelle Verbannte panora­
maartig ausbreiten: dass die eingangs zitierten negativen Bezeichnungen der Strafkolo­
nie für die Mehrheit der Inselbewohner, die Kriminellen, erst recht jener „menschenge­
machten Hölle“ entsprach, von der Gentes spricht.
Die Flucht, schließlich, bot sich, wenngleich sie immer wieder versucht wurde, als 
Ausweg nicht an;
726
  insofern erfüllte sich zumindest eine Erwartung jener Kreise, die 
sich Ende der sechziger Jahre für Sachalin als Strafkolonie ausgesprochen hatten. Ein 
Eiland ohne Wiederkehr war Sachalin jedoch, zumindest für die „Politischen“ (deren 
Schwerarbeit begrenzt war), nicht. Viele durften sich nach einigen – zuweilen: vielen – 
Jahren des Aufenthalts auf der Insel auf dem russischen Festland im Fernen Osten nie­
derlassen und später auch in den europäischen Teil des Imperiums zurückkehren.
722 Vgl. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 111, und S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 108 (Vollstreckung der Prügel­
strafe).
723 D
E
 W
INDT
 Sachalin, S. 61 und 64, und Č
ECHOV
 Ostrov Sachalin, S. 148f., zu den in Voevodsk an Kar­
ren gefesselten Sträflingen (Kriminelle). Vgl. Anhang Bild 7 (S. 164).
724 S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 106–111. 
725 E
RMAKOV
 Dva goda, S. 171. In seinem historischen Rückblick erwähnt auch D
ALOS
 Reise, S. 52f., die 
oft vergleichsweise zuvorkommende Art des Umgangs der Behördenvertreter mit den politischen Ver­
bannten.
726 S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 95 und 121.
136


5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
Um nach Sachalin zu gelangen, reiste Anton Čechov 1890 auf dem Land- und Flussweg 
von Moskau bis an die Mündung des Amur. Die beschwerliche Fahrt auf dem sibirskij 
trakt ostwärts war seine persönliche Erschließung Sibiriens. Seine Briefe, vor allem aber 
seine in der Zeitschrift „Novoe Vremja“ abgedruckten, während der Reise entstandenen 
und von unterwegs an die Redaktion übermittelten Notizen unter dem Titel „Iz Sibiri“ 
(„Aus Sibirien“) dokumentieren die Annäherung an die „andere Welt“ – auch an jene 
der Verbannten.
727
 Mit deren Schicksal hatte sich Čechov noch vor Antritt seiner Unter­
nehmung intensiv auseinandergesetzt; auf der Fahrt mischte sich nun das Gelesene mit 
der Anschauung, die ihn in seiner tiefgreifenden Kritik des Verbannungssystems erst 
recht bestärkte, wie unter anderem aus dem folgenden Notat hervorgeht:
„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man in fünfzig bis hundert Jahren auf unsere le­
benslänglichen  Strafen mit dem gleichen Unverständnis und dem gleichen Gefühl der 
Peinlichkeit zurückblicken wird, mit dem wir heute auf das Abhacken eines Fingers der 
linken Hand zurückblicken. Und ich bin ebenfalls zutiefst davon überzeugt, dass wir, ob­
wohl wir aufrichtig und klar erkannt haben mögen, dass die lebenslange Dauer von Stra­
fen überholt und mit Vorurteilen behaftet ist, trotzdem nicht imstande sind, dem Elend 
abzuhelfen.“
728
Čechov   fand   sich   als   Kritiker   des   Verbannungssystems  im   ausgehenden   Zarenreich 
nicht allein. Über der Frage nach dem Sinn der Ssylka und der Katorga entspann sich 
eine jahrzehntelange, bis zum Zusammenbruch des zarischen Staates dauernde Debatte, 
die von verschiedenartigen Reformvorschlägen bis zur vollständigen Abschaffung ein 
breites Spektrum an Beiträgen hervorbrachte. Čechovs zitierte Reflexion  erfasst  mit 
dem Argument der Rückständigkeit einerseits und mit dem Verweis auf die Unfähigkeit 
zum entscheidenden Bruch mit dem System anderseits zwei der Kernfragen in der Dis­
kussion. 
Drei   Perspektiven   beherrschten   die   Frage  nach   dem   Sinn   der   Verbannungs-   und 
Zwangsarbeitsstrafe in Sibirien. Erstens wurden im Zuge der immer größere Ausmaße 
annehmenden Verbannung die Stimmen derer laut, welche die negativen Folgen für die 
sibirische Bevölkerung beklagten. Denn viele der Tausenden von Verschickten fanden 
in Sibirien kein Auskommen, zogen als Landstreicher herum und wurden erst recht kri­
minell.
729
 Zweitens wuchs, im Zusammenhang mit der Frage der Rückständigkeit gegen­
über dem Westen und der neuen Sensibilität für westeuropäische Strafpraktiken, insbe­
sondere für den darin zentralen Aspekt der Besserung, auch mit Blick auf die Bestraften 
das Unbehagen über die Verbannungsstrafe. Die Verbannung in die „Wildnis“ wurde 
zusehends als geradezu kontraproduktiv für die Besserung der Individuen angesehen.
730
 
In diese doppelte Kritik mischte sich, drittens, die Wahrnehmung der Missstände und 
der Überforderung der Verwaltung bei der Umsetzung der Strafe, die von der Organisa­
tion und Finanzierung des Transports über die Schwierigkeit, geeignete Orte und – im 
727 Zur Entstehungsgeschichte der Reisenotizen „Iz Sibiri“ vgl. T
HOMAS
 „Die Insel Sachalin“, S. 152.
728 Č
ECHOV
 Aus Sibirien, S. 422 (im russischen Original Č
ECHOV
 Iz Sibiri, S. 27).
729 Detaillierte Kritik in diesem Sinne findet sich bei Nikolaj Jadrincev, vgl.  J
ADRINCEV
  Sibir’, S. 171–
227, bes. 225–227. Vgl. zusammenfassend W
OOD
 Crime, S. 227, und D
ALY
 Punishment, S. 356.
730 Zur Diskussion im Rahmen der Gefängnisreformen vgl. A
DAMS
 Politics, S. 135–137.
137


Yüklə 2,05 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   63   64   65   66   67   68   69   70   ...   77




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə