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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
derten   Bürokratie   eine   besonders   große   Willkür   in   der   Behandlung   der   Sträflinge 
herrschte.
695
 
Am eindringlichsten von allen zeitgenössischen Reisenden, deren Interesse die Insel 
der Verbannten geweckt hat, beschrieb Anton Čechov in seiner literarischen Reportage 
„Ostrov Sachalin“ die Zustände auf Sachalin; was er an Atmosphärischem einfing, galt 
für die gesamte Ssylka und Katorga auf der Insel, wenngleich er nur das Schicksal der 
kriminellen Sträflinge nachzeichnen konnte.
696
  Auch die britischen Reisenden Charles 
Hawes und Harry De Windt und der russische Journalist Vlas Doroševič beschränkten 
sich, von wenigen Seitenblicken abgesehen, auf die Katorga der ugolovnye. Um die „an­
dere Katorga“ von Sachalin – in Abgrenzung zur transbaikalischen – vorstellbar zu ma­
chen, sind in diesem Abschnitt allerdings die Bedingungen für die „Politischen“ auf der 
Insel von vordringlichem Interesse.
697
 
Auf Sachalin war das Eiland selbst das Gefängnis – auch für die Katorga-Sträflinge. 
Haftanstalten gab es zwar, wenngleich sie erst im Laufe der Jahre errichtet worden wa­
ren.
698
 Ihr Zustand variierte, nicht anders als auf dem Festland, von Ort zu Ort.
699
 Nur ein 
Bruchteil der in den neunziger Jahren – je nach Quelle – zwischen 5000 und 6000 zu 
Katorga-Strafen Verurteilten (die „Politischen“ machten einen verschwindend kleinen 
Anteil von ihnen aus) saß aber tatsächlich in den Gefängnissen ein.
700
  Die offizielle 
„Karriere“ sah zwar für Häftlinge mit langen Strafen zuerst einen Gefängnisaufenthalt 
unter harten Bedingungen (Fesseln, Kopfrasur) vor, der in einen milderen Strafvollzug 
und zuletzt in die Ansiedlung überging, doch siedelten jene, die mit ihren Familienange­
hörigen auf die Insel gekommen waren, von Anfang an zusammen mit diesen in Bauern­
wirtschaften   und   gab   es   auch   für   alleinstehende  katoržane  mit   kürzeren   Haftfristen 
meist rasch die Möglichkeit, das Gefängnis hinter sich zu lassen und bei Ansiedlern un­
terzukommen.
701
 Das war mit dem Arbeitsregime gekoppelt. In der ersten Phase der Haft 
war schwere Zwangsarbeit, ohne Ausnahme für die „Politischen“, im Wald, in der Koh­
leförderung oder beim Wegebau zu leisten. Im Unterschied zur transbaikalischen Kat­
orga mangelte es auf Sachalin nie an Arbeit, sofern die Sträflinge nutzbringend einge­
setzt wurden, und es war auch die Fluchtgefahr nicht im selben Maß ein Thema wie auf 
dem Festland.
702
 Allerdings ging die Sachaliner Katorga-Verwaltung bald dazu über, die 
695 Vgl. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 110f.
696 Vgl. T
HOMAS
 „Die Insel Sachalin“, S. 149–158, zur Zensur, der Čechov unterworfen war, bes. 152f.
697 Als Beitrag zur dem Verbannungssystem innewohnenden Einseitigkeit ist auch die auf weiteren Me­
moiren und auf Archivmaterialien beruhende Darstellung Ivan Senčenkos (S
ENČENKO
 Revoljucionery) 
nützlich. 
698 K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 110.
699 Č
ECHOV
 Ostrov Sachalin, S. 91–96, schildert das Gefängnis von Aleksandrovsk durchaus positiv; die 
Häftlinge genossen viele Freiheiten – unter anderem waren die Türen und Fenster im Sommer offen – 
und trugen keine Ketten, bis auf jene, die einem speziellen Trakt untergebracht waren, wo es dem­
gegenüber bedeutend unansehnlicher war und harscher zu und her ging. Für andere Gefängnisse, wie 
jenes in der Kohlestadt Duė, fand er weniger positive Worte (S. 137–139).
700 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 53f., und S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 95.
701 S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 103 und 127.
702 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 104f., lobt, dass es hier für alle Arbeit gebe. S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 102, 
vergleicht die Sachaliner Katorga mit jener an der Kara und zieht unter anderem aus dem Umstand, 
dass auf der Insel auch „Politische“ schwere Arbeit leisten mussten, den Schluss, die Katorga an der 
Kara sei leichter zu ertragen gewesen. Kaczynskas unbelegte Aussage, wonach die Mehrheit der 
132


4.7. Sachalin – die andere Katorga
oft einigermaßen gebildeten „Politischen“ vorwiegend in der Administration zu beschäf­
tigen. Senčenkos Einwand, die Obrigkeit habe dies nur getan, um die politischen Häft­
linge noch besser, nämlich buchstäblich mit eigenen Augen, kontrollieren zu können, 
wirkt etwas konstruiert.
703
 Wer für Schreib- oder Buchhaltungsaufgaben eingesetzt wur­
de, war nur noch auf dem Papier ein katoržanin. Ermakovs Gefährte Anatolij Gavrilov 
etwa besorgte sich, nachdem er sich um eine ihm passende Stelle als Verwaltungsmitar­
beiter bemüht hatte, umgehend ein Zimmer außerhalb des Gefängnisses und befand sich 
damit in nicht viel anderen Umständen, als wenn er sich in der Ssylka befunden hätte.
704
 
Ermakov selber, ein Arbeiter, sollte nach Ansicht des sehr zuvorkommenden Gefängnis­
kommandanten von Rykovskoe, Sobolev, ebenfalls administrative Arbeiten überneh­
men, zog aus ideologischen Gründen – er wollte als Revolutionär nicht in den Dienst 
des Staates treten – stattdessen aber schwere Holzfällertätigkeit vor und blieb vorerst im 
Gefängnis. Weil er sich aber der Arbeit im Wald bald verweigerte, schickte ihn Sobolev 
als Schreibgehilfen zu einem „Politischen“, der eine Mühle betrieb und eigentlich gar 
keiner zusätzlichen Hilfskraft bedurft hätte; die beiden richteten es sich gemütlich ein.
705
 
Auf diese Weise – und diese Beispiele waren keine Einzelfälle – verflossen die Grenzen 
zwischen Katorga und Ssylka. Die dem Verhalten der Behörden ohnehin, auch auf dem 
Festland, innewohnende Willkür war dadurch noch um eine Komponente reicher – wer 
wie lange oder überhaupt im Gefängnis einsitzen musste, lag letztlich im Ermessens­
spielraum der lokalen Beamten und führte zwingend zu einer Chancenungleichheit.
Ermakovs Erinnerungsbericht erscheint in weiten Teilen als ein Gegenbild zur Dar­
stellung und Quelleninterpretation Senčenkos; die Sachaliner Katorga wird zwar als kor­
ruptes, schlecht geführtes, ineffektives und leicht aushöhlbares Zwangsarbeitssystem ge­
schildert, nicht aber als ausgesprochen unmenschliches Regime, wie dies Senčenko im­
mer und immer wieder, gerade für die „Politischen“, betont. Wichtige Ursache für die­
sen deutlichen Akzentunterschied dürfte, neben dem ideologisch bedingten Interesse 
Senčenkos an einer drastischen Darstellung der Zustände, der Umstand sein, dass Erma­
kov erst nach der Jahrhundertwende auf der Insel weilte. Besonders die ersten andert­
halb Jahrzehnte der bloß zwei Dekaden dauernden politischen Katorga auf Sachalin (die 
ersten „Politischen“ waren 1886 in den Fernen Osten geschickt worden
706
) waren von ei­
nem harten Regime geprägt. Diesem lag vor allem die Furcht der Behörden zugrunde, 
die politischen Sträflinge könnten unter den Kriminellen, aber auch unter den Verbann­
ten  (ssyl’nye) revolutionär agitieren und diese zu Aufständen animieren.
707
 Gleichwohl 
Sträflinge im Kohleabbau beschäftigt gewesen sei, ist angesichts der geringen Fördermengen und der 
damit verbundenen vergleichsweise wenigen Arbeitsplätzen, wie es G
ENTES
 Sakhalin Policy, S. 6, dar­
legt, abzulehnen (K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 110).
703 S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 100. Positiver seine Einschätzung S. 146.
704 E
RMAKOV
 Dva goda, S. 162f. D
OROŠEVIČ
 Sachalin, S. 265, verweist ebenfalls darauf, dass die „Politi­
schen“ oft leichte (administrative) Zwangsarbeitsaufgaben bekleidet und daher in einer „anderen Kat­
orga“ gelebt hätten.
705 E
RMAKOV
  Dva goda, S. 163–167. Ermakovs Hauptbeschäftigung lag darin, seinem Genossen jeden 
Abend Bücher vorzulesen. 
706 S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 89.
707 Diese Furcht war in der gesamten Katorga sehr stark verbreitet, vgl. G
ENTES
 Sakhalin Policy, S. 19. 
Vgl. auch S
ENČENKO
 Revoljucionery, S. 99f. und 120. Ganz am Schluss, während des russisch-japani­
schen Krieges, der auch auf der Insel ausgefochten wurde, nahm angeblich die Härte nochmals zu.
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