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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
schwert, da der Administration der Umstand nicht behagte, dass Ärzte oft sehr rasch 
dem Wunsch der Häftlinge nach einem Aufenthalt in der Krankenstation nachkamen.
653
 
Eine sehr bedeutende Rolle kam den Ärzten schließlich im Zusammenhang mit der 
Körperstrafe zu. Sie mussten vor der Vollstreckung konsultiert werden, und nur sie hat­
ten die Möglichkeit, den – politischen, aber auch kriminellen – Häftlingen die qualvolle
lebensgefährdende   und   erniedrigende   Strafe   zu   ersparen,   indem   sie   ihren   Gesund­
heitszustand   als   zu   kritisch   für   deren   Vollzug   beschrieben.
654
  Allerdings   geschah   es 
auch, dass die Gefängnisleitung – unrechtmäßig – an den Ärzten vorbei handelte.
655
 So 
ergriffen die Ärzte oft, im Sinne der Menschlichkeit, Partei für die „Politischen“, mit 
denen manche auch einen vertraulichen Umgang pflegten.
656
 Dadurch schwächten sie die 
Position der Gefängnisadministration in deren mitunter fast verzweifeltem Kampf um 
die Kontrolle über das Gefängnis.
4.6.3. Die „Tragödien“ – Zusammenstöße von Obrigkeit und Häftlingsgesellschaft
Jede der Symbolhandlungen, welche die Gefängnisadministration vornahm oder die von 
einer höheren Verwaltungsinstanz eingefordert wurde, barg die Gefahr eines Zusam­
menstoßes mit  der gut organisierten, stets entschlossen auftretenden Häftlingsgesell­
schaft  der  „Politischen“  in  sich.  In  der Regel  wussten  die  örtlichen  Gefängniskom­
mandanten um die Sensibilität dieser Fragen, und auch dann, wenn ihre Verachtung ge­
genüber den politischen Häftlingen größer war als der Respekt, suchten die meisten von 
ihnen das Einvernehmen mit den Insassen – denn es lag auch in ihrem Interesse, Auf­
ruhr zu vermeiden, der ihre eigene Position in Frage gestellt hätte.
657
 Gleichwohl kam es 
im Laufe der vier Jahrzehnte zwischen 1877 und 1917 zu mehreren Protestwellen, die 
stets mit Todesopfern unter den „Politischen“, aber auch mit einem Wechsel in der zu­
ständigen Administration endeten. Alle diese als „Tragödien“ in die Geschichte einge­
gangenen Zusammenstöße – 1889 im Kara-Tal, 1910 bis 1912 in Gornyj Zerentuj, Al­
gači und Kutomara – sowie die ebenfalls turbulente und blutige Zeit des harten Regimes 
an der Kara 1880 bis 1885 wurden durch höhere Amtsträger (Generalgouverneure) oder 
durch neue, mit dem Auftrag der Härte ausgestattete Kommandanten ausgelöst und kor­
relierten stets zu politischen Entwicklungen auf Reichsebene. Die direkten Auswirkun­
gen der als „Reaktion“ bezeichneten Phase unter Alexander III. in den achtziger Jahren 
des 19. Jahrhunderts auf die Katorga sind nicht ganz klar.
658
 Hingegen war die Zeit nach 
653 Ein entsprechender Befehl des Generalgouverneurs vom 12. Oktober 1907 ist bei F
OMIN
 Katorga, S. 
27, abgedruckt.
654  Beispiele finden sich für die Zeit der Proteste in Gornij Zerentuj, als der Arzt Dr. Krukovskij „Poli­
tische“ vor der Prügelstrafe bewahrte, vgl. F
OMIN
 Katorga, S. 35. Auch der Feldscher von Šamanka 
stellte   sich den  –  vor  allem Kriminellen  –  angedrohten  Körperstrafen  konsequent   entgegen, vgl. 
G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 185.
655 F
OMIN
 Katorga, S. 44, für Kutomara.
656 Zum Arzt als Kommunikationsfigur vgl. das Kap. 4.5.4. (S. 111); vgl. auch V
ASIL

EV
 Krukovskij, S. 
163f.
657 Auf den Umstand, dass die örtlichen Verantwortlichen bewusste Provokationen scheuten, weil sie die 
Reizbarkeit der Gefangenen kannten, verweist auch K
ON
 Pod znamenem, S. 287.
658 Vgl. Kap. 2.2 (S. 25). K
ON
 Pod znamenem, S. 285, begründet die Haftverschärfungen in der zweiten 
Hälfte der 1880er Jahre mit einem neuen, schärferen Kurs in Petersburg. 
124


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
der Revolution 1905 in doppelter Hinsicht ein Nährboden für ernste Konflikte in der 
Katorga. Auf der einen Seite folgten auf die Revolution die wohl blutigsten Jahre des 
russischen Zarenreichs überhaupt mit einer unzimperlichen Strafpolitik. Auf der anderen 
Seite hatte sich, wie bereits mehrfach dargestellt, die Häftlingsgesellschaft nach 1905 
drastisch vergrößert und bezüglich ihres sozialen Hintergrunds und des Grads ihrer Poli­
tisierung stark verändert. Die neue Generation der katoržane war entschlossener denn je, 
auch in den Katorga-Gefängnissen alles dem revolutionären Geist unterzuordnen.
659
 Die 
Petersburger Vorgaben der Ära Stolypin erreichten die Nerčinsker Katorga mit Verzöge­
rung, weil diese erst den Ansturm bewältigen musste und überdies in den Gefängnissen 
Kommandanten amtierten, denen an Auseinandersetzungen mit den Insassen wenig ge­
legen war.
660
 Diese freiheitliche Zeit verschärfte auf beiden Seiten die Reaktion, als, je 
nach Gefängnis, zwischen 1907 und 1910 der Wind drehte und die Obrigkeit mittels neu 
eingesetzter, Härte demonstrierender Gefängnisvorsteher die an die Häftlingskollektive 
übergegangene Macht zurückzuholen versuchte. Gerade jene Gefängniskommandanten, 
die ihren Gefangenen keinen Respekt entgegenzubringen bereit waren, bewiesen jedoch 
letztlich die Ohnmacht des Systems und ihre eigene Hilflosigkeit gegenüber protestie­
renden Sträflingen, wenn sie zu radikalen Strafmaßnahmen – von Karzer- bis zu Kör­
perstrafen – greifen mussten. Damit perpetuierten sie den Konflikt, den die Häftlinge in­
sofern beherrschten, als sie zu allem bereit waren. Nach dem Hungerstreik war ihre letz­
te Waffe der (kollektive) Selbstmord, der als Protest für die Behandlung einer weibli­
chen „Politischen“ 1889 in Nižnjaja Kara von den Männern gewählt wurde und der 
1910 auch in Zerentuj (Sazonov) und 1911/12 in Algači und Kutomara den Höhepunkt 
der Eskalation bildete.
661
 
Die Tatsache, dass in Mal’cevskaja zu jener Zeit, da die Situation im nahe gelegenen 
Männergefängnis von Zerentuj eskalierte, die friedlichen Beziehungen zwischen den 
„politischen Frauen“ und der Leitung fortdauerten, ist bemerkenswert. Geschlechtsspe­
zifisches Verhalten dürfte dabei aber weniger den Ausschlag gegeben haben als Beson­
nenheit auf beiden Seiten
662
 sowie der Umstand, dass es entscheidend vom Gefängnis­
kommandanten abhing, wie strikt die Vorgaben umgesetzt wurden. Das Wechselspiel 
von Provokation und Gegenprovokation konnte, bei geschickter Amtsführung, vermie­
den werden. Das legen auch Einschätzungen des damaligen Vorstehers der Nerčinsker 
659 Vgl. Ž
UKOV
 Režim, S. 121, und P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 164f. und 176 (Beschwörung des re­
volutionären Kampfs unter allen Bedingungen).
660 Ž
UKOV
 Režim, S. 121, führt als Beispiel für jene Gefängnisdirektoren, die eher auf ihre eigenen Vor­
teile als auf die Umsetzung der Bestrafungs- und Besserungskriterien bei den Häftlingen bedacht wa­
ren, den damaligen Kommandanten von Akatuj, Zubkovskij, an.
661 Zusammenfassend: F
OMIN
 Katorga, S. 32–37 (Zerentuj), 38–49 (Kutomara), 49–53 (Algači). Für Kara 
vgl. zusammenfassend P
ATRONOVA
 Karijskaja tragedia, S. 81–103, sowie K
ON
 Pod znamenem, S. 287–
320. Kon unternahm zweimal aus Solidarität und als Protestsignal zusammen mit Mithäftlingen einen 
Selbstmordversuch. Die Selbstmorde und Selbstmordversuche erfolgten mittels Opium in Nižnjaja 
Kara, Morphium in Zerentuj (Sazonov).
662 Nach seinem Besuch in Mal’cevskaja macht sich Č
EMODANOV
 Katorga, S. 74, Gedanken über den Um­
stand, dass ihm, nach seinem Eindruck, die weiblichen Gefangenen zutraulicher gegenübertraten als 
die männlichen in Gornyj Zerentuj. Er verbietet sich eine einfache, auf ihn selbst gemünzte Erklärung, 
fragt sich aber, ob es mit einem frauenspezifischen Charakterzug zu tun haben könnte.  R
ADZILOV
­
SKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 45, erklären, ein Direktor vom Schlage Vysockijs hätte auch in Mal’cevs­
kaja für Proteste gesorgt.
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