Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
keine Häftlingskleidung, keine erniedrigenden Anreden. Die Frauen seien der Adminis­
tration mit Stolz gegenübergetreten, aber ohne zu provozieren, schreiben Fanni Radzi­
lovskaja und Lidija Orestova.
625
 Auch Irina Kachovskaja resümiert: „Die weibliche Kat­
orga entbehrte der blutigen Dramatik der Männergefängnisse, aber unser Mal’cevskaja 
zeichnete sich ganz besonders durch ein ausgesprochen ruhiges, tatsächlich durch nichts 
aufgewühltes Leben aus.“
626
Im Zuge der Protestwellen mit blutigen Folgen (Selbstmorde, Körperstrafen) nach 
1910 in den Männergefängnissen, die Kachovskaja indirekt anspricht, endete auch für 
die Frauen – allerdings ohne dass es zu einem Zusammenstoß gekommen wäre – die 
Zeit der relativen Freiheit. In Akatuj herrschte fortan ein anderer Umgangston, aber zu 
größeren Auseinandersetzungen kam es, trotz Restriktionen und zeitweiligen Schikanen, 
auch hier nicht.
627
 
4.6.2. Typologien und Strategien der Obrigkeit
In der Haltung der Gefängniskommandanten (und ihrer Vorgesetzten) zu den politischen 
Sträflingen waren Ambivalenzen selten. Das bedeutete nicht zwingend, dass ihr Regi­
ment besonders unerträglich und ihr Auftreten besonders demütigend gewesen wäre, 
aber die meisten brachten – was angesichts ihrer Position im Staatsdienst nicht zu ver­
wundern vermag – den „Politischen“ keine Sympathie entgegen.
628
 Oft unterschieden sie 
aber auch nicht zwischen Staatsgegner und Mensch. Die Verachtung, die daraus folgte, 
bereitete den Boden für Provokationen gegenüber den Häftlingen. Einer der wenigen, 
die den Menschen und nicht den politischen Delinquenten herausstellten, war, nach der 
Einschätzung vieler, der Kommandant an der Kara bis 1881, Kononovič, der die „Politi­
schen“ arbeiten ließ und frühzeitig ins „Freie Kommando“ schickte.
629
Plakativ und auf die Glaubwürdigkeit hin nicht überprüfbar hat Gennadij Čemoda­
nov, der zur Katorga abkommandierte Armeeoffizier, Kommandant militärischer Ge­
fängnisbewachungseinheiten   und   interimistische   Gefängnisdirektor,   die   fehlende 
Menschlichkeit am Beispiel seines Nachfolgers an der Spitze  des Gefängnisses von 
Gornyj Zerentuj, Vysockij, herausgestrichen. Dieser brachte in zwei Käfigen seine sechs 
Kanarienvögel aus Russland mit in die Nerčinsker Katorga – dem beschwerlichen Weg 
zum Trotz. Vysockij sorge sich sehr um die Vögel und könne nicht ohne sie leben, er­
klärte der mitgereiste Aufseher dem verdutzten Čemodanov.
630
 Vysockij erwies sich aber 
– dieser zweifelhafte Ruhm war ihm bereits vorausgeeilt – als besonders unerbittlicher, 
Provokationen und Beleidigungen nicht scheuender Gefängnisdirektor, in dessen kurzer 
625 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 45.
626 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77.
627 P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 155–157.
628 Ein Beispiel dafür ist der Kommandant des politischen Gefängnisses von Nižnjaja Kara bis 1887, Ni­
kolin, der als unangenehm geschildert wird, von den „Politischen“ erklärtermaßen wenig hielt, aber 
trotzdem den Gefangenen Freiräume ließ, vgl. D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 223f., K
ON
 Pod znamenem, 
S. 260 sowie Fußnote 604.
629 Kononovič wird in zahlreichen Quellentexten gewürdigt, vgl. Fußnote 431. Aufgrund der Verschär­
fungen von 1881 und nach deren Folgen trat Kononovič zurück und wurde später Inselkommandant 
auf Sachalin.
630 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 86. 
120


4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
Amtszeit der Terrorist Egor Sazonov Selbstmord beging und Zerentuj von einer Protest­
welle erfasst wurde. In den Erinnerungsberichten erscheint er als Inbegriff des „Bö­
sen“.
631
 Čemodanovs Botschaft ist klar: Vysockij waren seine Kanarienvögel mehr wert 
als die Menschen – namentlich die „Politischen“ – im Gefängnis.
632
 Gleichzeitig positio­
niert sich Čemodanov mit seinen Bemerkungen zu Vysockij und überhaupt mit seinen 
Memoiren als Gegenpol – als einer jener raren tjuremščiki (Gefängnisbeamte), die den 
„Politischen“ Respekt, ja Wertschätzung entgegenbrachten.
633
  Dadurch gelang es ihm, 
Proteste klein zu halten und mit Erfolg an die Besonnenheit und Verhältnismäßigkeit 
beider   Seiten   zu   appellieren;   dass   er   keine   gewöhnliche   Gefängnisbeamten-Karriere 
durchlaufen hatte, sondern einen soldatischen Hintergrund besaß, kam ihm dabei ver­
mutlich zustatten.
634
 Dennoch muss offen bleiben, inwieweit Čemodanov den Herausge­
bern seiner Memoiren als Beispiel für einen „guten Gefängnisdirektor“ gelegen kam und 
sich mithin hinter seinen Schilderungen auch eine Portion Selbst- oder Fremdstilisie­
rung verbirgt.
635
 
Das Verhältnis der Obrigkeit zu den „Politischen“ war letztlich durch den immer 
wiederkehrenden Versuch geprägt, die Macht über diese Häftlingsgruppe zu gewinnen, 
die sehr selbstbewusst agierte. Ihre straffe Organisation im Kollektiv verlieh ihnen eine 
vergleichsweise große Schlagkraft, zumal bei Konflikten mit der Obrigkeit die politi­
schen und sozialen Brüche innerhalb der Kommunen durch den gemeinsamen Wider­
stand überdeckt wurden.
636
 So versuchten die Behörden mitunter, politische Gefangene 
zu Begnadigungsgesuchen mit Reuebekenntnissen zu bewegen, um dadurch die Fronten 
aufzuweichen und Beweise für den Besserungscharakter der Strafe zu gewinnen.
637
 Die­
se Versuche fruchteten nur sehr partiell, weil Begnadigungsschreiben in der revolutio­
631 Vgl.  F
OMIN
  Katorga,  S. 32f.,  sowie  O
ZEROV
  Put’,  S. 152–154,  und  den  bei  V
ASIL

EV
  Krukovskij,  S. 
163–167,  abgedruckten Bericht des damals in Zerentuj aktiven Arztes Dr. Krukovskij. Zu Vysockij 
und Zerentuj auch Č
EMODANOV
 Katorga, S. 80–100.
632 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 89, schreibt nach einer ersten ausführlicheren Begegnung mit Vysockij, wäh­
rend der  dieser sich für das Duzen aller Häftlinge stark gemacht hatte: „Offensichtlich waren die 
Nachrichten des Gefängnisses über diesen Herrn richtig und nicht übertrieben. Die Hoffnung, die bei 
mir aufkam, als ich seine Zärtlichkeit gegenüber seinen Kanarienvögeln sah, brach zusammen.“
633 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 66 und 73. Beim Besuch der weiblichen politischen Häftlinge in Mal’cevskaja 
stellte er anerkennend fest, man merke auf den ersten Blick, dass es sich um „Politische“ handle, weil 
sie sich ordentlich präsentierten. 
634 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 66, stellt sich vor den Häftlingen als ein Neuling im Gefängniswesen vor, der 
aber aus seiner militärischen Erfahrung Respekt und Ordnung durchsetzen wolle. Vgl. auch ebd., S. 
76f., als er die „Politischen“ zum Abbruch eines Protestes bewegen konnte, sowie seine Unterredung 
mit dem starosta der „Politischen“, ebd., S. 57f. Auch der Nerčinsker Katorga-Kommandant Zabello 
würdigte Čemodanovs Amtsführung, die zu einer vielleicht nicht vorbildlichen, aber genügenden und 
ohne unnötige Härte erzeugten Ordnung geführt habe, vgl. den Rapport Zabellos, abgedruckt bei 
F
OMIN
 Katorga, S. 32f. Er ist an Generalgouverneur Kijaško gerichtet und datiert vom 30. November 
1910. Positiv schildert ihn auch M
ETTER
 Stranička, S. 105, im Zusammenhang mit dem Krankheitsfall 
einer Gefangenen, für die er sich einsetzte.
635 Eine eher angestrengt wirkende Passage betrifft etwa die Würdigung Egor Sazonovs, Č
EMODANOV
 Kat­
orga, S. 100. Vgl. die quellenkritischen Anmerkungen im Kap. 1.4 (S. 13f) mit Fußnoten 33, 34, 35, 
36 über die problematische, im Vorwort des Bandes erwähnte Einmischung der Herausgeber (Gesell­
schaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten).
636 Vgl. K
RAMAROV
 Kommuny, S. 141, und generell die Ausführungen im Kap. 4.2.2 (S. 79).
637 So deutet es – plausibel – K
ON
 Pod znamenem, S. 278.
121


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