Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Evropy“  („Bote Europas“), schreibt Deutsch.
575
  Pribyleva berichtet allerdings aus der 
ersten Hälfte der achtziger Jahre (im Frauengefängnis an der Kara) davon, dass ihre Mit­
gefangene Natalija Armfel’d sich sogar englischsprachige Zeitungen zukommen ließ, 
um ihre Sprachkenntnisse zu festigen.
576
 
Die Anteilnahme am Geschehen in Russland und in der Welt nahm mitunter ein er­
staunliches Ausmaß an. Das traf besonders auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und 
während des Krieges zu. „Das Interesse an den Kriegsereignissen einte irgendwie alle“, 
schreibt Antonija Pirogova für die kleine weibliche Häftlingsgesellschaft in Akatuj.
577
 
Ebenso aber entzündete sich Streit an unterschiedlichen Einschätzungen, und die Frage, 
ob man für oder gegen den Krieg sei, wurde, wie V. Ul’janinskij aus dem Katorga-Zen­
tralgefängnis   von  Aleksandrovsk  bei   Irkutsk  berichtet,   ambivalent   beurteilt.  Das  In­
teresse am Krieg, bereits an seinem Vorspiel auf dem Balkan, lag, zum einen, sehr stark 
in der Erinnerung an die revolutionären Folgen des russisch-japanischen Kriegs be­
gründet und in der Hoffnung, ein neues kriegerisches Engagement des Imperiums könn­
te der Herrschaft des Zaren endgültig das Genick brechen.
578
 Zum andern schlossen sich 
die „Politischen“ ideologisch den Parolen ihrer Genossen an, die schon 1912 den Krieg 
aus Sicht des internationalen Proletariats abgelehnt hatten.
579
  Insofern balancierten sie 
zwischen ihrer ideologischen Überzeugung und ihrer Position als Gegner des herrschen­
den Regimes, als die sie den Sturm, der das verhasste System wegfegen könnte, nicht 
gänzlich ablehnen konnten.
580
  Die Auseinandersetzung mit dem Krieg veranlasste die 
Häftlinge – teilweise noch vor dessen Ausbruch – dazu, Strategie- und Taktikbücher zu 
studieren und zu diskutieren; ein auswärtiger Referent, der bereits vor Verbannten an 
der Lena gesprochen hatte, trat auf seiner Rückreise im Gefängnis mit einem Vortrag 
über die internationale Lage auf.
581
 Anfangs erreichten Zeitungen mittels Aufseher und 
im Außeneinsatz arbeitender Mitgefangener die Sträflinge, später war der Empfang ört­
licher Zeitungen erlaubt; täglich meldete sich ein Bekannter aus Irkutsk per Telephon 
beim  starosta  und informierte über die neueste Kriegslage. Schließlich gab es sogar 
Häftlinge, die unter Pseudonym Hintergrundartikel in der Irkutsker Zeitung  „Sibir’“  
veröffentlichten.
582
  In der Intensität der Anteilnahme am weltpolitischen Umbruch re­
flektierte sich die Bedeutung der Drähte zur Außenwelt. Vor allem aber verweist sie auf 
die Haftbedingungen in der Katorga. Den politischen Häftlingen standen zuverlässige 
Informationsquellen zur Verfügung; ihr Alltag erlaubte es ihnen, sich mit den Neuigkei­
ten ausgiebig zu beschäftigen – und sich sogar durch die Zeitungsartikel einzelner ihrer 
Exponenten in die öffentliche Meinungsbildung einzuschalten.
575 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 235.
576 P
RIBYLEVA
  Moi vospominanija,  S. 143. Das Frauengefängnis wurde überdies regelmäßig mit sibi­
rischen Zeitungen versorgt, ebd., S. 133.
577 P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 166.
578 U
L

JANINSKIJ
 Mirovaja vojna, S. 77. Es stellt sich natürlich einmal mehr die Frage, inwieweit der Autor 
hier seinen Erinnerungen an damalige Gedanken vertraut oder eine Beurteilung der Situation ex post
aus dem Wissen des Zusammenhangs von Erstem Weltkrieg und der Februarrevolution 1917, vor­
nimmt. 
579 U
L

JANINSKIJ
 Mirovaja vojna, S. 79.
580 Über das ideologische Gefüge im Gefängnis vgl. U
L

JANINSKIJ
 Mirovaja vojna, S. 80.
581 U
L

JANINSKIJ
 Mirovaja vojna, S. 77 und 81.
582 U
L

JANINSKIJ
 Mirovaja vojna, S. 82.
112


4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
Neben der medialen Verbindung zur Außenwelt besaß die persönliche Korrespon­
denz einen großen Stellenwert. Der briefliche Austausch zwischen Kara und der Heimat 
erfolgte wegen der gewaltigen Distanz nicht nur sehr verzögert; die Briefe wurden auch 
zensuriert und auf eventuelle versteckte Botschaften hin chemisch behandelt. Unter den 
damaligen Bestimmungen durften die Häftlinge die Post nicht individuell beantworten, 
sondern   hatten   nur   das   Recht,   auf   einer   Postkarte   im   Namen   des   Gefängniskom­
mandanten eine gänzlich unpersönliche Empfangsbestätigung zurückzuschicken.
583
 Die­
se   Regelung   bedeutete   allerdings   bereits   einen   Fortschritt   gegenüber   den   Verschär­
fungen, die 1880 im Zuge der Separierung und Sonderbehandlung der „Politischen“ im 
Kara-Tal angeordnet worden waren; damals war die Möglichkeit des zwar zensurierten, 
aber vergleichsweise freien Briefwechsels mit der Heimat vollständig aufgehoben wor­
den.
584
 Später galten weniger restriktive Vorgaben. In Mal’cevskaja, wo ein vergleichs­
weise schwaches Regime herrschte, durften die „Politischen“ zweimal im Monat einen 
Brief schreiben, der jedoch der Zensur unterworfen war. Am Eintreffen neuer Briefe 
nahm das gesamte Gefängnis Anteil.
585
  So war es auch mit den Besuchen. Prinzipiell 
war es Familienmitgliedern von Sträflingen möglich, über den Generalgouverneur die 
Bewilligung für einen Besuch zu  erwirken. Die beschwerliche Reise in die „andere 
Welt“ der Katorga schreckte potentielle Besucher ab; immer wieder weilten aber Ange­
hörige in der Nähe von Mal’cevskaja, beispielsweise Irina Kachovskajas Mutter. Die 
Begegnungen fanden in Anwesenheit von Vertretern der Gefängnisadministration statt; 
als Gesprächsthema war nur Familiäres gestattet.
586
  Willkommene Botschafter aus der 
zurückgelassenen Welt waren schließlich auch die Neuankömmlinge.
587
Auch jenseits dieser legalen Verbindungen zur Außenwelt pflegten die politischen 
Häftlinge oft vielfältige Kontakte. Sie korrespondierten mit Insassen anderer Gefäng­
nisse oder mit einstigen Mitgefangenen, die nun im „Freien Kommando“ (vorzeitige 
Haftentlassung) oder in der Ansiedlung lebten.
588
  Dafür waren sie auf Mittelspersonen 
angewiesen. Im Falle des Austauschs zwischen Gornyj Zerentuj und Mal’cevskaja, der 
dank der Nähe der Gefängnisse zueinander relativ eng sein konnte, wirkten Kriminelle 
sowie der Arzt Dr. Rogalev, der ein vertrauliches Verhältnis zu den „Politischen“ pfleg­
te und in beiden Gefängnissen tätig war, als Transporteure der illegalen Korrespon­
denz.
589
 Ähnlich verhielt es sich in den neunziger Jahren zwischen Akatuj, Algači und 
dem an der Kara verbliebenen „Freien Kommando“.
590
  Auf diesem Weg verbreiteten 
583 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 235, ebenso K
ON
 Pod znamenem, S. 278f. 
584 B
OGDANOVIČ
 Posle pobega, S. 73f.
585 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 47. 
586 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 46f., und K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 86.
587 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 83. Vgl. auch die Bemerkungen im Kap. 4.1 (S. 65).
588 Wie bereits erwähnt (Fußnote 547), wirkten Ansiedler zuweilen als Korrespondenten für die gefäng­
nisinternen, handgeschriebenen Zeitungen, P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 169.
589 Für die eine Seite (Mal’cevskaja) R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 47, K
ACHOVSKAJA
 Iz vospomi­
nanij, S. 86, sowie für die andere Seite (Zerentuj) P
LESKOV
 V gody, S. 149, und P
LESKOV
 „Vol’nyj uni­
versitet“, S. 172. Nicht unwichtig war auch die gute Beziehung, die Frejfel’d dank seinen medizini­
schen Künsten zur Gattin des Gefängnisdirektors Archangel’skij in Akatuj (neunziger Jahre) unter­
hielt, vgl. F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 99.
590 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 98. 
113


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