Quid est libertas? Freiheit als Dienst?



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Quid est libertas? Freiheit als Dienst?
Nicht ungern zitiert der Stoiker Seneca den Philosophen Epikur. Mag Epikur auch zu einer anderen philosophischen Richtung gehören, so haben doch Stoiker und die Anhänger Epikurs ein gemeinsames Anliegen: Allen Menschen solle die Philosophie den Weg zu einem glücklichen und guten Leben weisen. Dazu Epikurs Wort in lateinischem Gewand:

Philosophiae servias oportet1, ut tibi contingat2 vera libertas. Non differtur3 in diem, qui se illi subiecit et tradidit, statim circumagitur4: hoc enim ipsum5 philosophiae servire libertas est. (ep. ad Lucilium 8, 7)


Einige Überlegungen dazu:
Die wenigen Zeilen sind voll von unerwarteten und überraschenden Aussagen:

Freiheit (libertas) und Dienen (servias) – wie passt das zusammen? Allerdings steht das Attribut vera bei libertas. Nicht irgendeine Freiheit ist gemeint – es gibt offen-sichtlich viele Vorstellungen und Definitionen von Freiheit – die Versprechungen, den Weg in die Freiheit zu kennen, sind ja zahlreich, und je verlockender sie klingen, desto eher führen sie in die falsche Richtung!

Wir fühlen uns von Zwängen, Ängsten und anderen Nöten eingeengt, wir sehnen uns nach äußerer und innerer Freiheit, haben jedoch den Eindruck, stets im Wartezimmer zu sitzen. Der Ratschlag der Philosophen ist radikal und klingt zunächst verrückt: Freiheit bestünde in Unterwerfung (subicere) und Auslieferung (tradere), sei also genau das Gegenteil von dem, was wir uns erträumen! Gehört unserer Meinung nach nicht wesentlich zur Freiheit, tun und lassen zu können, was man will?

Gibt es denn ein „süßes Joch“?


Ein anderes ebenso befremdendes und (vielleicht gerade deshalb bedenkenswertes) Wort Epikurs zur Freiheit lautet:

Der Selbstgenügsamkeit größte Frucht ist die Freiheit (τῆς αὐταρκείας μέγιστος καρπός ἐλευθερία)


Hat Freiheit denn etwas zu tun mit Selbstgenügsamkeit und Selbstbeschränkung? Nimmt dadurch etwa die Souveränität über das eigene ICH zu?

Hat Freiheit etwas mit ICH-Werdung zu tun?

Könnte das Erstarken des eigenen ICH etwas mit dem Frei-Werden von fremden Bestimmungen (Ängste, Zorn, Habsucht etc.) zu tun haben?

Sitze ich womöglich tatsächlich im Käfig der eigenen Nöte und Zwänge und bin deren Sklave, diene ihnen, ohne es eigentlich zu wollen?

Wer treibt bzw. lenkt wen im Spiel zwischen den inneren Kräften?

Und nochmals ein Schlüsselwort Epikurs: Reichtum, der keine Grenzen kennt, ist große Armut, Armut, die ihr Maß findet am Endziel der Natur, ist großer Reichtum.


Philosophie als Weg in die Freiheit?
Das Leben der Menschen wird von vielen Nöten und Zwängen festgehalten, schon mit der Geburt tragen wir das Todeslos in uns. Wohin wir auch laufen, wie schnell wir auch rennen, wir werden den Bedrängnissen nicht entkommen können. Du kannst und darfst deine Nöte nicht verdrängen, du musst dich ihnen stellen.

Ohne Begnadigung werden wir geboren. Wie also, sagst du, soll ich mich befreien? Entfliehen kannst du der missliche Lage (den Notwendigkeiten6) nicht, du kannst sie besiegen“.

Et hanc tibi viam dabit philosophia. Ad hanc te confer7, si vis salvus esse, si securus, si beatus, denique si vis esse, quod est maximum, liber. Hoc contingere aliter non potest.

Trieben und Affekten, die dich als fremde und belastende Herren8 herumtreiben, kannst du, sofern du den Weg der klugen Einsicht (sapientia) wählst, entkommen. Nur sie wird dir die Freiheit ermöglichen:

Una ad hanc9 fert via, et quidem recta: non aberrabis. Vade certo10 gradu: si vis omnia tibi subicere, te subice rationi. Multos reges, si ratio te rexerit. Ab illa disces, quid et quemadmodum adgredi debeas: non incides11 rebus.

Wir rennen in Schicksalsschläge hinein, Schicksalsschläge rennen gegen uns an, nicht die kluge Überlegung (consilium), sondern ein Getrieben- und Gestoßenwerden (impetus) bestimmt unser Handeln. Seneca kommt es immer wieder darauf an, den Leser zum eigenen Schritt aufzumuntern. Nur so können wir Orientierung suchen und vielleicht vermeiden, dorthin zu kommen, wohin wir gar nicht wollten.

Turpe est non ire, sed ferri12 et subito in turbine13 rerum stupentem14 quaerere: Huc ego quemdamodum veni? (Seneca, ad Lucilium, 37, 3 bis Ende in Auswahl)


Einige Fragen und Überlegungen dazu:

Z 4f.: Welche Hauptwörter lassen sich von den 4 Adjektiva (salvus, securus, beatus, liber) ableiten? Sind das für dich 4 erstrebenswerte Ziele?

Z 8: (si vis) omnia tibi subicere, te subice rationi: Die Akkusative stehen jeweils an der Spitze, die Dative stehen chiastisch zu den Verbalformen. (es lohnt sich vielleicht, diesen philosophischen Ratschlag auch grammatikalisch zu betrachten: Mache aus omnia zunächst ein te (subice), ersetze tibi durch rationi und du wirst das Ziel omnia (subicere) zum O4 haben und dich als Subjekt vorfinden. Den entscheidenden Schlüsselbegriff finden wir pointiert am Ende.

Ersetze weiters multos (O4) zunächst durch te, mache die ratio zum Subjekt und du wirst die multos als erstrebtes O4 haben und du wirst wiederum Subjekt sein! Die Philosophie „erzeugt“ also handelnde Subjekte! (Fremdbestimmung wird dadurch zurückgedrängt)

Z 9: Ich lerne vor ihr aber auch das Was (quid?) und Wie (quemadmodum?) meines Handelns. Einfach in Lebenssituationen hineinzuplumpsen (incidere) ist nicht Zeichen philosophischen Handelns.

Z 10ff.: Selbst gehen, sich nicht treiben lassen und sich in der Folge womöglich plötzlich in einer schlimmen Lage vorzufinden, in die man ohne Wissen und Wollen hineingeraten ist, ist ein wesentliches Ziel der Philosophie. Nicht fremde Kräfte treiben mich (als O4), sondern ich (als Subjekt) steuere mein Handeln.


Ein extremes und (sofern man Mensch bleiben will) kaum nach vollziehbares Beispiel emotionaler Souveränität durch die Philosophie
Stilbon15 capta patria, amissis liberis, amissa uxore cum ex incendio publico16 solus et tamen beatus exiret, interroganti Demetrio17, numquid perdidisset “omnia”, inquit, “bona mecum sunt”. Ecce vir fortis ac strenuus18! Ipsam19 hostis sui victoriam vicit. “nihil”, inquit, “perdidi”: dubitare illum coegit, an vicisset. “Omnia mea mecum sunt”: iustitia, virtus, prudentia, hoc ipsum20, nihil bonum putare, quod eripi possit. Vides, quanto facilius sit totam gentem quam unum virum vincere.

(Seneca, ad Lucilium, IX, 18)

Ein paar Zeilen zum Nachdenken:

Bereits Sokrates meinte, es dürfe nicht sein, dass einem guten und gerechten Menschen von einem Bösewicht Schaden zugefügt werden könne. Mag dieser auch all das, was mir teuer ist, rauben oder zerstören, mag er auch meine Liebsten töten, er wird meinen innersten Kern nicht zerstören. Dies könnte ich nur selbst tun, indem ich selbst schlecht handle. Diese ungeheure Trotzmacht des Geistes jagte im Laufe der Geschichte allen möglichen Tyrannen Angst ein und legte ihre Ohnmacht bloß: Die moralische Integrität eines Menschen kann von außen nicht zerstört werden. Sie ist aber ein ganz wesentliches Merkmal der humanitas.

(Wie dem Philosophen Stilbon tatsächlich in seinem Inneren zu Mute war, steht dabei nicht zur Diskussion. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass der gute Mensch, auch wenn er noch so gedemütigt und verletzt wird, eben durch seine Lebensform den Tyrannen, Mörder und Städtezerstörer besiegt).

Meine Würde und meinen Wert kann mir letztlich niemand rauben, es sei denn, ich selbst.



1 oportet + Konj. = es ist nötig dass, (besser: Umschreibung mit müssen)

2 contingit = es wird zuteil

3 differo = hinhalten, vertrösten (in diem = von einem Tag auf den nächsten) – so wie römische Sklaven, die auf die Freilassung hofften, immer wieder hingehalten bzw. vertröstet wurden

4 circumago = im Kreis herumführen (zur Bekräftigung der Freilassung wurde ein Sklave vom Herrn an der rechten Hand auf dem Forum im Kreis herumgeführt), weitere Bedeutung: umwandeln!

5 hoc ipsum = genau dies

6 Im L: necessitates

7 se conferre = sich begeben, sich zuwenden

8 Seneca spricht von den graves domini

9 hanc = sapientia ~ libertas

10 certus = sicher, fest entschlossen

11 incidere + 03 = in etwas hineingeraten, hineintappen

12 feror = sich treiben lassen

13 turbo-inis m Wirbel, Verwirrung

14 stupentem (prädikativ, von stupeo) = verwundert, verwirrt, verdutzt

15 Stilbon (Stilpon), ein hellenistischer Philosoph

16 ex incendio publico = aus dem allgemeinen Feuersturm (Üs. v. Rosenbach)

17 Demetrius hatte die totale Zerstörung der Stadt, in der Stilbo wohnte, befohlen.

18 strenuus 3 = wacker, entschlossen

19 ipsam = im D „sogar“

20 hoc ipsum = (und) eben diese Haltung (mit sich zu tragen), nämlich nichts für ein Gut zu erachten, was ...

Heribert Derndorfer, Was heißt Freiheit?



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