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Nicht verwunderlich angesichts dessen, dass die drei Autor_innen sich auch deutlich
hinsichtlich ihrer Denk-, Arbeits- und Schreibstile unterscheiden.
3.1. Brian Massumi – Prozessmetaphysiker und Lifestyle-Aktivist
Wie kein anderer steht Brian Massumi für die kulturtheoretische Wende zum Affekt seit den
1990er Jahren. Sein programmatisch betitelter Aufsatz „The Autonomy of Affect“ (1995) ist
ein früher Meilenstein des Affekt-Trends. Affekt wird darin auf einer von Kognition,
Signifikation und bewusster Verarbeitung unabhängigen Ebene intensiver und resonativer
Relationalität verortet. Es geht um eine körperlich-materielle Prozessualität jenseits der
Einhegung durch Diskurse, kulturelle Codes oder biologische Funktionen. Die Betonung liegt
dabei zunächst auf der Intensität:
Intensity is beside that loop, a nonconscious, never-to-conscious autonomic remainder. It is
outside expectation and adaptation, as disconnected from meaningful sequencing, from
narration, as it is from vital function. It is narratively de-localized, spreading over the
generalized body surface, like a lateral backwash from the function-meaning interloops
traveling the vertical path between head and heart. (Massumi 1995, S. 85)
Erklärtes Ziel dieses frühen Textes von Massumi ist die Entwicklung eines
kulturtheoretischen Vokabulars für affektive Prozesse, das als Alternative zu vorherrschenden
kognitivistischen und signifikationszentrierten Strömungen in einer vom Poststrukturalismus
geprägten Theorielandschaft fungieren kann. Ausgehend von knapp referierten
Forschungsbefunden zu autonomen physiologischen Reaktionen auf Filmsequenzen einerseits
und zu den neuropsychologischen Libet-Experimenten andererseits bietet Massumi eine breite
Palette von Begriffen und Theoriefragmenten aus der kontinentalphilosophischen Tradition
auf, insbesondere im Anschluss an Spinoza, Bergson, Simondon und Deleuze.
Er dreht am großen Rad der Metaphysik – er zielt auf die Umwälzung eines linearen,
sequentiellen, funktionalistischen und klassisch-transzendentalphilosophischen Denkrahmens.
Bewegung statt Stasis, Prozess statt fixer Struktur, nicht-lineare Dynamiken statt
deterministische Verläufe, Virtualität als kreative Offenheit statt vorgefasste Möglichkeit,
Emergenz, Unvorhersehbarkeit und selbst Quanten-Indetermination sind einige der Topoi, die
in rascher Folge in einer Art von begriffs-poetischem Stil konstelliert werden. Affekt – als
relationale Intensität im Prozessgeschehen und Überschuss, Sprengung stabiler Strukturen
und signifikativer Register – bildet den Kulminationspunkt dieser Perspektive. Kategoriale,
repräsentationale und in individuellen Trägern verortete Emotionen tauchen bestenfalls als
abgeleitete, künstlich fixierte und ihrer Offenheit beraubte Erscheinungsformen von Affekt
auf – Resultate einer verengenden Einhegung („capture“), die niemals zur Gänze gelingen
kann. Affekt stehe statt dessen für die Unvorhersehbarkeit, Offenheit und Virtualität des
Ereignisses im Unterscheid zur Vorbestimmtheit und Immer-Gleichheit von prä-existenten
Strukturen:
For structure is the place where nothing ever happens, that explanatory heaven in which all
eventual permutations are prefigured in a self-consistent set of invariant generative rules.
Nothing is prefigured in the event. It is the collapse of structured distinction into intensity, of
rules into paradox. It is the suspension of the invariance that makes happy happy, sad sad,
function function, and meaning mean. Could it be that it is through the expectant suspension of
that suspense that the new emerges? As if an echo of irreducible excess, of gratuitous
amplification, piggy-backed on the reconnection to progression, bringing a tinge of the
unexpected, the lateral, the unmotivated, to lines of action and reaction. A change in the rules.
(Massumi 1995, S. 87)
Ich zitiere diese Passage auch deshalb ausführlich, um einen Eindruck von Massumis Schreib-
und Denkstil zu vermitteln – eine auf rhetorische und dynamische Wirksamkeit abzielende
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Begriffs- und Theoriepoetik, die eine performative und ästhetische Entsprechung zum
inhaltlich Mitgeteilten anstrebt. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass Leserinnen, die
in anderen Theorieuniversen zuhause sind, auf die Massumi-Lektüre nicht selten mit einem
gewissen Befremden reagieren. Wer auf erläuternde Überlegungen zur
prozessmetaphysischen Begrifflichkeit hofft, wird von Massumi meist enttäuscht.
Eine aktuelle Publikation Massumis – der 2015 erschienene Interview-Band Politics of Affect
– exponiert in verschiedenen Anläufen so etwas wie die Essenz dieses affektmetaphysischen
Denkstils. Zentral ist durchgängig die Betonung einer nicht festgestellten und auch nicht
fixierbaren Dynamik, die ins Offene weist – Affekt wird konsequent als kristalline
Prozessualität in prä-individuellen relationalen Feldern bestimmt. Dementsprechend sollen
kategoriale Bestimmungen abgewiesen oder als bestenfalls provisorische, stets wieder
transzendierte Behelfe ausgewiesen werden. Das Insistieren auf einer Art Metaphysik der
reinen Erfahrung – Bezüge zu Whitehead und James sind in Massumis neueren Texten keine
Seltenheit – hält sich in wechselnder Gestalt durch und äußerst sich auch auf der textlichen
Ebene, in Form von Wortschöpfungen, in rhetorischen Figuren und in negierenden
Wendungen, mit welchen Massumi potenziell verdinglichende, die Prozessualität des
Affektgeschehens arretierende Formulierungen fernzuhalten sucht. Typisch ist eine Passage
wie die Folgende, die sich in einem klärenden Glossar am Ende des Buches findet:
Affect, as the openness to being affected, is directly relational. It is pure sociality, in the sense
of the social in the openness of its incipiency, ready to become all manners of social forms and
contents. The readiness is not simply a passive availability. It is an active pressure towards
taking-form. It has an appetite for its own eventuation and final characterization. It is an as-yet
indeterminate determination to be determined. (…) Far from being asocial, affect is the ongoing
force of the social taking evolving form. (Massumi 2015, S. 205)
Eine andere wiederkehrende Figur ist die des Überschusses oder Exzesses. Massumi räumt
zwar ein, dass sich zeitweilig stabilisierte Formen, umgrenzte Individuen oder soziale
Strukturen im Feld des Affektiven ausmachen lassen, jedoch liege im Affekt diesbezüglich
stets ein Moment des Ausbrechens bzw. des Nicht-Fassbaren – weder Formwerdung noch
Individuation seien je vollständig und je völlig stillgestellt:
[A]ffect is not psychological. As transindividual, directly relational and immediately eventful, it
overspills on all sides the interiority of the psychological subject. (S. 206)
The autonomy of affect refers to the process by which the excess of potential that presses for
expression is remaindered after every determinate taking-form, returning to in-form a next
expression. The autonomy is of this process. (S. 207)
[The expression of affect] is always also an expression of the necessity of invention: an ongoing
validation of the rule of variation: that the world is restless at heart and never sits still. (S. 208)
Aller Beschwichtigungen und Klarstellungen zum Trotz – das abschließende Glossar in
Politics of Affect dient primär diesem Zweck – erweckt der sound dieser Passagen bisweilen
den Eindruck einer Art Hippie-Philosophie: ein Zelebrieren wilder Erfahrung, kreativer
Werdensprozesse, intensiver Begegnungen, singulärer Ereignisse und dergleichen – „Affect
feels out the world. It is by nature open to adventure...“ (2015, S. 209). Affekt wird zu einem
stets aufs Neue überraschenden, verbindenden, ekstatischen Erfahrungscocktail verdichtet, nie
endender Trip des Werdens und Erlebens. Die vorherrschende intellektuelle Haltung
Massumis ist also die Haltung eines Lifestyle-Aktivisten mit Zug zum Guru; Fürsprecher des
vom offiziellen intellektuellen und praktischen Leben Verdrängten, Exponent eines
alternativen Stils jenseits akademischer Üblichkeiten – gelegentliche Einsprengsel von
Yogakurs- und Eso-Zirkel-Gehabe inklusive. Ex negativo ist diese Haltung durch einen
weitreichenden Abwehrgestus gekennzeichnet – gegen feste Theoretisierungen, disziplinäre
Einteilungen, dualistische Denkmuster und erst recht gegen einen durchorganisierten, der