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Goodwins Forschung verdeutliche, so Wetherell, dass die vermeintlich „rätselhaften“, sich
angeblich dem Blick entziehenden intensiven Momente situierter Affektivität im
gegenwärtigen Augenblick in Wahrheit eine reiche Strukturierung aufweisen, deren Analyse
wertvolle Einsichten liefern kann. Voraussetzung für die Entschlüsselung dieser Muster sei
freilich die Bereitschaft, die Mühen detaillierter Mikroanalysen auf sich zu nehmen, sowie
natürlich die nötigen Fähigkeiten und technischen Voraussetzungen dafür. Qualitativ
hochwertige Aufzeichnungen müssen erstellt, en detail transkribiert und ausgewertet, mit
Befunden aus teilnehmender Beobachtung und Befragung der Beteiligten verglichen und
schließlich kompetent interpretiert werden. Sobald man all das bewerkstellige, so Wetherell,
zeigten sich aufschlussreiche Strukturen und Muster in jenem Geschehen, das Massumi und
Co. vorschnell für diffus und unstrukturiert erklären.
Insofern plädiert Wetherell für einen Methodenmix, der die gesamte Spannbreite
mikrosoziologischer, ethnologischer, konversationsanalytischer und auch sozial- und
entwicklungspsychologischer Analysewerkzeuge mobilisiert.
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Aus Sicht von Wetherells
angestammter Methodologie, der sozialpsychologischen Diskursanalyse, läuft dies auf eine
umfassende Situierung, Ausweitung und Flexibilisierung dessen hinaus, was es heißt,
diskursive Praktiken zu erforschen – ohne Angst vor Eklektizismus und einer deutlichen
Komplexitätssteigerung in der Forschungspraxis (vgl. Wetherell 2012, S. 56).
Der Begriff der affective practice öffnet also den Blick auf verkörperte und lokal situierte
Interaktionsszenen, die normativ orientiert sind, Subjekt- und Welt-konstituierende
Wirkungen entfalten, eine vielschichtig sedimentierte Historizität aufweisen und sich dennoch
primär gegenwärtig und ereignishaft vollziehen. Dass mit dem Konzept der Praktiken zudem
ein Handlungsmoment in den Vordergrund rückt – im Gegensatz etwa zur klischeehaften
„Passivität“ von Gefühlen – ist ebenfalls nicht zufällig.
Es ist nämlich eine wichtige Motivation für Wetherell, mit der Betonung des
Aktivitätsmomentes in den Szenen der Affizierung der Annahme eines Automatismus
affektiver Routinen entgegen zu treten. Affekt wirke nicht von sich aus. So sehr auch gewisse
Figurationen in den normativen Mustern affektiver Routinen partiell vorgeprägt sein mögen,
so sehr seien es doch am Ende die interagierenden Individuen selbst, die im Vollzug der
affektiven Interaktion wechselseitig aneinander Akte der subjektivierenden Zuschreibung
verüben und diese im wiederholenden Vollzug immer weiter verfestigen. Mit Blick auf ein
Beispiel aus Goodwins Interaktionsanalysen, in der es um eine diskursive Markierung einer
Schülerin (namens Angela) mit unterprivilegierter sozialer Herkunft geht, schreibt Wetherell:
The point I am trying to make is the one often ignored in post-structuralist discourse theory (and
in most cultural studies of affect) that affective–discursive practice is joint inter-subjective
activity. (…) Degradation is something actively done to Angela not by affect per se circulating
but by other participants as part of their joint practice, reflecting their relational history.
(Wetherell 2012, S. 83 f.)
Das Verhältnis von sedimentierter Struktur – der normativen Schablone einer etablierten
affektiven Praxis – und zwischen den die Praxis einerseits betreibenden und andererseits in
dieser Praxis affektiv positionierten und figurierten Individuen ist damit ein komplexes.
Folglich werden Mikroanalysen affektiver Interaktionen unerlässlich für die Bewertung der
darin potenziell vorliegenden Diskriminierungen oder sonstige Akte symbolischer Gewalt.
Hier wendet sich Wetherell nicht zuletzt gegen einen Zug in den frühen Arbeiten zu Affekt
und Emotion von Sara Ahmed, in denen diese eine diskursive Zirkulation von Emotionen wie
Hass, Fremdenfeindlichkeit oder Ressentiment angenommen hatte. Ahmed tat dies bisweilen
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Eine weitere Station auf dem Weg zu Wetherells Ansatz sind die Studien des
Entwicklungspsychologen Daniel Stern – zu
affect attunement,
vitality affects und Intensitätskonturen in der
Säugling-Eltern-Interaktion (vgl. Stern 2010; vgl. dazu Mühlhoff 2015).
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mit Formulierungen, die den Eindruck einer Art „Selbsttätigkeit“ von emotionalen
Ökonomien und deren Transmissionsprozessen nahe legen konnten (vgl. Ahmed 2004). Hier
stellt sich allerdings die Frage, ob Wetherell mit ihrer Betonung der Komplexität und
Wechselseitigkeit von affektiven Markierungen nicht am Ende unfreiwillig zu einer
Relativierung bzw. Verharmlosung affektiv-symbolischer Macht- und Gewaltverhältnisse
beiträgt, insofern sie die Betroffenen derart deutlich in die Akteursrolle rückt. Es wäre nicht
das erste Mal, dass ein wissenschaftlich-„redliches“ Bemühen um analytische Trennschärfe
aufgrund konzeptueller Vorentscheidungen Gefahr läuft, problematische Verhältnisse eher zu
verdecken als sichtbar zu machen.
Um diesbezüglich Klarheit zu erlangen ist eine nähere Betrachtung einer dritten zentralen
Haltung in der Erforschung von Affektivität von Nöten: jener Haltung, die ich verdichtend als
die Haltung der Aktivistin bezeichne und die dezidiert politisch engagierte und kritische
Positionierungen umfasst.
3.3. Sara Ahmed: Theorie im aktivistischen Modus
Sara Ahmed ist Professorin für Race and Cultural Studies an der Goldsmiths University of
London. In einer Serie von Monographien seit den 1990er Jahren hat sie
poststrukturalistische, phänomenologische, genealogische und ethnologische Arbeitsweisen
kombiniert, um Interventionen in die Diskurse des Feminismus, der Critical Race Theory, des
Postmarxismus und der Cultural Studies insgesamt vorzunehmen. Affekte und Emotionen
spielen implizit durchgängig eine Rolle; explizit vor allem in den Bücher Cultural Politics of
Emotion (2004), Queer Phenomenology (2006), The Promise of Happiness (2010) sowie
zuletzt Willful Subjects (2014). Ahmed geht es darin nicht um reine Theorie oder um penible
Abgrenzungen von Kategorien, sondern vor allem um Einblicke in realweltliche
Konstellationen. Ihr Ziel ist es, problematische Zusammenhänge sichtbar und dringlich zu
machen und Leser_innen aufzuklären. Insofern findet sich bei Ahmed nicht das übliche Spiel
kritischer Stellungnahmen, Selbstzurechnungen und versuchter Neukonturierungen eines
vermeintlichen „Feldes“ der affect studies. Was zählt sind konkrete Problemlagen, so geht es
in ihren Texten zügig in medias res.
„Those whose being is in question are those who can question being“
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– lautet das Motto von
Ahmeds Arbeiten; zentral ist dabei das Bemühen um
sweaty concepts (Audre Lorde); um
Begriffe, denen die Betroffenheit von Unterdrückung und die Anstrengungen des Widerstands
gegen ungerechte Verhältnisse unmittelbar anhaften. Sweaty concepts sind Kampfbegriffe
ebenso wie sprechende Wundmale sozialen Leids. Es liegt auf der Hand, dass sich eine solche
Begriffsarbeit nicht einzig im Modus praxis-entlasteter akademischer Tätigkeit
bewerkstelligen lässt. So überrascht es nicht, dass Ahmed ihre Gedanken inzwischen zumeist
in Form von aufrüttelnden Blog-Posts, oftmals zu Alltagsszenen von Diskriminierung und
Diffamierung, auf ihrer persönlichen Website veröffentlicht.
Die Website trägt den programmatischen Titel feminist killjoy. Das ist mehr als ein gut
gewählter Kampfname einer Aktivistin. Die Figur des killjoy – das Klischee der
lustfeindlichen feministischen „Spaßbremse“ – spielt bei Ahmed die Rolle einer umfänglich
konturierten Begriffsperson, fungiert also als aktives, die Autorin positionierendes Bindeglied
zwischen Theorie und sozio-politischer Wirklichkeit. Nach Deleuze und Guattari ist eine
Begriffsperson eine virtuelle Präsenz im philosophischen Text, welche als aktive, quasi-vitale
Kraft die philosophischen Begriffe durch Insistenz zum Leben erweckt und die
Begriffsentwicklung auf diese Weise dynamisch voran treibt (vgl. Deleuze & Guattari 1996,
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Geäußert von Ahmed in ihrem Vortrag Brick Walls, den sie im Oktober 2014 in Edmonton, Kanada
gehalten hat. Siehe
https://vimeo.com/110952481
(abgerufen am 10. April 2016).