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Wetherells Kritik an Massumi ist exemplarisch für ihre Haltung gegenüber den
kulturwissenschaftlichen
affect studies insgesamt. Irreführend sei insbesondere die krude
Kontrastierung von Affektivität und Diskursivität: Was in der sozialen Wirklichkeit in
unentwirrbarer Verschränkung vorliege, werde von Massumi und anderen in der Theorie
künstlich auseinander gerissen – „bodily responses and discourse melded together in practice
are pulled apart in theory“ (Wetherell 2012, S. 53).
Deutlich wird vor allem ein gravierender Stil-Unterschied – das Naserümpfen auf Seiten der
Kritiker der Affekt-Enthusiasten findet sich spürbar auch bei Wetherell, etwa wenn Sie nach
einem langen Massumi-Zitat Folgendes konstatiert: „When quoting Massumi it is almost
impossible to stop. His words are so evocative and dizzying. What he is suggesting is so
vague, breathless and escaping.“ (Wetherell 2012, S. 56).
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Wetherell kann dem auf
rhetorische Wirkung, auf Begeisterung und Inspiration seiner Leser_innen gesinnten Stil
Massumis nicht viel abgewinnen.
Statt dessen ist Nüchternheit das Gebot der Stunde: mit empiristischer Attitüde und
ausgestattet mit dem Methodenarsenal der sozialwissenschaftlichen Interaktionsforschung
möchte sie das Dickicht affektiver Alltagsinteraktionen analytisch klein arbeiten. Das
Augenmerk liegt auf den Prozessen des situierten, verkörperten meaning-making – der
Sinnkonstitution im Rahmen affektiv-interaktiver Praktiken.
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Diese Betonung des prozessual-dynamischen Momentes einer fortwährenden Produktion von
Bedeutsamkeit in der konkreten Interaktionspraxis markiert den Punkt, an dem Wetherells
Ansatz nominell die größte Überlappung mit der Spinoza-Bergson-Deleuze-Tradition in den
affect studies und damit auch mit Massumis Arbeiten aufweist. Die Wahl dieses Leitbegriffs
affective practice steht exemplarisch für die Kompromisslinie, die Wetherell verfolgt.
Einerseits erlaubt es dieser Begriff, situierte Interaktionsszenen in ihrer Komplexität und
Dynamik anzusteuern, andererseits ist der Begriff der Praxis fest in der humanistischen
Theorie-Tradition verankert. Bedeutungsvolle menschliche Handlungen, Einstellungen,
Sinnzusammenhänge und Normativität bleiben zentral und werden nicht, wie tendenziell bei
Massumi und anderen, im Zuge einer posthumanistischen Dezentrierungsbewegung ad acta
gelegt (vgl. dazu Braidotti 2013).
Was aber sind nun affektive Praktiken? Wetherell meint damit lebensweltliche Interaktionen,
die mehrere Individuen in einem konkreten Setting verbinden und dabei vor allem die
körperlich-sinnlichen Aspekte des In-der-Welt-Seins ansprechen bzw. auf spezifische Weise
„rekrutieren“. In diesen dichten Interaktionsszenen ist die Relationalität des Affektiven
verortet, und ebenso die sedimentierte, unter den beteiligten Individuen und der räumlich-
materiellen Umgebung aufgeteilte Historizität der jeweils mobilisierten Bedeutsamkeit. Auch
der bereits bei Massumi zentrale Gedanke, dass affektive Interaktionen für die in ihnen
interagierenden Individuen konstitutiv sind, taucht in Wetherells Konzeption auf. Es gehe
nicht darum, dass bereits voll entwickelte Individuen lediglich äußerlich in Kontakt treten,
sondern die affektiven Interaktionen selbst wirkten individuierend und subjektiviernd:
I see affective practice as a moment of recruitment and often synchronous assembling of
multimodal resources, including, most crucially, body states. It is the participation of the
emoting body that makes an assemblage an example of affect rather than an example of some
other kind of social practice. I agree with Ahmed that this assembling and recruiting is onto-
formative, meaning that it constitutes subjects and objects. In Ahmed’s terms, affective practice
materialises social and psychic life, creating particular surfaces and kinds of subjects and
objects, individual and collective bodies. Affective practice in this way sets up relations
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Sara Ahmed bekommt eine ähnlichen „Einlauf“ von Wetherell, ebenfalls im Gestus einer leicht
genervten Lesehaltung, die auf mehr Präzision und Nüchternheit drängt (vgl. Wetherell 2012, S. 158).
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Wetherell definiert Affekt geradezu als „embodied meaning-making“ (vgl. 2012, S. 4).
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between subjects and objects through their intertwined formations and constitutions. (Wetherell
2012, S. 159)
Hier schlägt Wetherell sogar eine Brücke zwischen allen drei hier behandelten Autor_innen.
Die Rede von der onto-formativen Dimension der Affektivität hat deutliche Resonanzen zu
Massumi, der im Zusammenhang von Affekt von Individuation, Subjekt-Genese und auch
von Onto-Macht spricht. Die Passage verweist aber ebenso auf Sara Ahmeds Arbeiten zur
Zirkulation und subjektivierenden Wirkung von Affekten und Emotionen (vgl. Ahmed 2004).
Was die zitierte Stelle damit auch deutlich macht, ist, dass die Abgrenzung von Wetherell zu
den von ihr zum Teil kritisierten Affekt-Enthusiasten so scharf dann auch wieder nicht
ausfällt.
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Auf der anderen Seite bleiben freilich bedeutsame Differenzen. Wetherell nimmt im Rahmen
ihres Praxis-Ansatzes keine vergleichbar scharfe Trennung zwischen Affekt und Emotion vor,
wie es die affect studies ansonsten tendenziell tun. Statt dessen betont sie, dass es im Rahmen
der zumeist auch diskursiven affektiven Praktiken oft gerade die benennbare und kulturell
geregelten Emotionstypen sind, die der jeweiligen Praxis Kontur verleihen – und sei es nur
dadurch, dass die beteiligten Individuen durch geteilte Verständnisse, Emotions-Skripte,
kulturelle Gefühlsregeln oder sogenannte emotives (Reddy 2001) ein Stück weit orientiert
werden.
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Beispiele wie die vom Soziologen Jack Katz analysierten Wutausbrüche und
zornerfüllten Interaktionen von Autofahrern (Katz 1999) oder die routinierte, medial
inszenierte und amplifizierte Empörung nach politischen Skandalen verdeutlichen dies.
Erkennbar wird die Abgrenzung gegenüber den kulturwissenschaftlichen affect studies aber
vor allem, wenn es um die methodologische Orientierung der Forschungsarbeit geht. Das für
Wetherell wichtigste und am ausführlichsten behandelte Beispiel aus der empirischen
Forschung sind die Interaktionsstudien der linguistischen Anthropologin Majorie Goodwin.
Diese untersucht mittels teilnehmender Beobachtung, Videographie, minutiösen Transkripten
und Frame-Analysen das alltägliche Interaktionsgeschehen zwischen Kindern und
Jugendlichen auf Schulhöfen und Spielplätzen (vgl. z.B. Goodwin 2006). Goodwins
Orientierung liegt auf der empirischen Entschlüsselung des multimodalen leiblichen
Interaktionsgeschehens, in dessen sequentiellem Verlauf sich affektive bzw. emotionale
patterns sowie die sozialen Rollen bzw. Subjektpositionen der beteiligten Individuen
sukzessive herausbilden. Wetherell sieht hier ein Muster für jene empirische Affekt- und
Emotionsforschung, die ihr vorschwebt.
Im Kern von Goodwins Analysen stehen Sequenzen von Alltagsinteraktionen, die jeweils im
Ganzen ein bestimmtes normatives Muster implementierten – etwa die Sanktionierung eines
Regelverstoßes im Rahmen eines Kinderspiels. Goodwin zeigt, dass es sich um ein
strukturiertes Zusammenspiel von Sprechakten und deren expressiver Variationen,
Körperhaltungen, Mimik, Gestik sowie den materiellen Gegebenheiten in der Situation
handelt, im Zuge dessen sich individuelle emotionale Haltungen ebenso wie eine gemeinsam
situative konstituierte Bedeutsamkeit nach und nach auskristallisieren. „[A]ffect is lodged
within embodied sequences of action. Moreover, the phenomena that provide organization for
both affect and action are distributed through multiple media within a larger field of action”
(Goodwin 2006, S. 40 zitiert nach Wetherell 2012, S. 80).
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Das verdeutlicht auch der positive Bezug Wetherells auf Überlegungen von Deleuze zu Rhythmen und
melodischen Verläufen in Interaktionsszenen (vgl. z.B. 2012, S. 78).
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Emotives sind expressive Ausrufe wie „Ich bin wütend!“ oder „Das macht mich traurig“, die im
alltäglichen Interaktionsverhalten wichtige Rollen erfüllen und sich in ihrem koordinierten Zusammenspiel zu
informellen Regelsystemen verbinden, welche der Emotionshistoriker William Reddy als „emotional regimes“
bezeichnet. Zwar kritisiert Wetherell diesen Ansatz als zu eng, übernimmt die Idee der emotives aber in die
eigene Konzeption (vgl. Wetherell 2012, S. 67 ff.).