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2.2 Von der Verteidigung der Metaphysik
zur Rettung einer häretischen Theologie
Adorno und Scholem fanden, wie Steven Aschheim bemerkt hat, ihren „com-
mon ground“ in einem „‚metaphysical‘ universe of discourse.“
75
Scholem
schrieb 1973 an George Steiner: „Bloch ist der bessere Schellingianer (trotz
Marx) und Adorno der bessere Kantianer (trotz Hegel).“
76
Kantianer meint
hier
wohl den Umstand, dass Adornos Werke allesamt Kritiken darstellen, die
sich als Rettung des geprüften Gegenstands verstehen. Tatsächlich las Scho-
lem die hegelkritische
Negative Dialektik als das, was sie ist: eine „Verteidigung
der Metaphysik“, wie er sie in dieser Keuschheit und Bescheidenheit noch nie
gelesen habe – so jedenfalls seine Rückmeldung an Adorno 1967. (BW 8, 407)
Im selben Brief kritisierte er allerdings: „Es ist an keinem Punkte Ihres Buches
ernstlich einzusehen, warum es eigentlich der Marxistischen Geschichtstheo-
rie noch ferner verbunden ist oder sein müsste.“ (a. a. O., 408) Adorno betonte
dagegen,
gerade sein „vom Dogma total verschiedene[r] Weg zum Materialis-
mus“ sei es, „der mir jene Affinität zur Metaphysik, beinahe hätte ich gesagt,
zur Theologie zu verbürgen scheint, in der Sie mit Recht das zentrale Motiv
erkannt haben.“ (a. a. O., 414) Adorno lässt sich nicht ohne die These ver-
stehen, dass materialistische Gesellschaftskritik und Theologie, deren kritische
Rettung wiederum Anliegen seiner Metaphysik ist, substanziell auf dasselbe
hinauslaufen.
77
Dies meint einerseits, wie 1929 Siegfried Kracauer formulierte,
das
Primat der materialistischen Kritik: „Ökonomie statt explizite Theologie!
[…] Nun gut, so soll man die revolutionierende Negativität derart konstru-
ieren, daß für das ungesagte Positive die Räume (Hohlräume) übrigbleiben.
Erst die Empörung in den Regionen des Materiellen, dann die Kontempla-
tion, die um Himmels Willen nicht vom Materiellen ablenken darf.“ (KW 5.3,
181, vgl. GS 6, 306) Aber Adorno fasst die ‚Theologie‘ auch in durchaus
expliziten Überlegungen, wenn er etwa in der
Negativen Dialektik ausführt, sie
komme dort
mit dem Materialismus zusammen, „wo er am materialistischsten
ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches […].“ (a. a. O., 207)
Adornos Philosophie ist, wie schon in der Einleitung deutlich wurde, auf die
Rettung der leidenden, gefallenen Natur gerichtet. Da das den Toten zugefügte
75
Aschheim.
The Metaphysical Psychologist. S. 81.
76
Scholem.
Briefe. Bd. 3. S. 62. Vgl. Habermas.
Ernst Bloch. Ein marxistischer Schelling.
77
Vgl. dazu schon die obigen Ausführungen zu Benjamin, weitere Motive benenne ich in Ka-
pitel 4.1 – insbesondere im Abschnitt „Drei Ebenen der Profanisierung“.
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Unrecht ungesühnt bleibt, die bürgerliche Kälte und die Schrecken der Ver-
gangenheit fortleben, zergeht die Denkmöglichkeit immanenter Besserung –
weil „es keine Erlösung gibt, es sei denn die ganze.“
78
Hier wird ein Topos
der klassischen Metaphysik, das zugleich ein Kantisches Postulat der prakti-
schen Vernunft ist – die Frage nach der unsterblichen Seele – zur verzweifel-
ten Hoffnung für den gebrechlichen Leib transformiert. „Transzendenz“ gilt
Adorno als erfüllte Immanenz, in der die Wunden der Vergangenheit geheilt
seien. Jeder letztlich vernünftige Gedanke münde in der „Idee einer Verfas-
sung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch
das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.“ (a. a. O., 395) Solange in der
menschlichen Geschichte ideologische Verblendung und Herrschaft domi-
nieren, wäre Befreiung nur im Gedanken an Transzendenz zu greifen. Diese
„Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten“ – das die Utopie darstellt –
identifizierte Adorno verschiedentlich mit dem ontologischen Gottes beweis,
warnte jedoch davor, aus der Unausdenkbarkeit des Gegenteils tatsächlich die
reale Existenz des Absoluten zu folgern. (vgl. a. a. O., 379)
79
Meist formuliert
er diese Überlegungen im Konjunktiv.
80
Wenn er auch nicht den Glauben hat,
dass der schlechte Lauf der Geschichte tatsächlich durch die Resurrektion
der gefallenen Welt aufgehoben werde, so dient diese Idee des ‚anderen‘ ihm
doch wenigstens als Korrektiv und Movens von Kritik, als regulative Idee im
keineswegs funktionalistischen Sinne. „So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf
Rettung hoffen, dass Hoffnung vergeblich sei, und doch ist es sie, die ohn-
mächtige, allein, die überhaupt uns erlaubt, einen Atemzug zu tun.“ (GS 4,
138) Die Metaphorik des Atems verdankt sich Kierkegaards
Krankheit zum Tode
und ist dort gegen den „Deterministen“ gerichtet, der, wenn er recht hätte,
unter der Last der Notwendigkeit ersticken müsste. Adorno erkennt in der
theologischen Betonung des Atems den
Leib in der „Spiritualität“, also die ver-
gängliche, eigenwillige Natur, die selbst den selbstverblendeten Geist kapita-
listischer Vergesellschaftung gelegentlich dazu zwingt, innezuhalten und nach
Luft zu schnappen. Dessen alles erfassende Dialektik wird am Leib auf ihre
Grenze verwiesen. (vgl. GS 2, 144) Der von Gott eingehauchte Atem steht
demnach theologisch wie materialistisch für die Unverfügbarkeit der eigenen
Natur.
78
Tiedemann.
Historischer Materialismus oder politischer Messianismus. S. 114.
79
Vgl. Hindrichs.
Das Absolute und das Subjekt. S. 146–160, Liedke.
Zerbrechliche Wahrheit.
S. 115–140, Braunstein.
Adornos Kritik der politischen Ökonomie. S. 363 ff.
80
Vgl. Bartonek.
Philosophie im Konjunktiv.