Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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heiligen Feuer verglühender, in Adornos Augen ihre ästhetisch-theologische 
Dignität. Weiter lässt sich die Figur hier aus zwei Gründen nicht entziffern: 
Erstens, weil sie sich am von Adorno damit interpretierten Material zu bewäh-
ren hätte; zweitens, weil die „Sprache der Engel“ eben die der Kunst und der 
rein diskursiven Erkenntnis entzogen ist.
6.3 Kabbalistisches als ästhetische Interpretationsfigur
Mochte Goethe es wollen oder nicht. Zum Repertoire der kabbalistischen 
Motive, die Adorno Künstlern und Kunstwerken zuschreibt, gehören nicht 
nur paradoxe Engel. Aus dem deutsch-jüdischen Dichter Rudolf  Borchardt 
etwa klinge „die jüdisch-mystische Stimme: ‚Für Gott, den Ungebornen, stehe 
ich euch ein: Welt, und sei dir noch so wehe, es kehrt von Anfang, alles ist 
noch dein!‘ […] ‚Es schimmert unter schlechtem Zelt ganz klein der Trost 
der neuen Welt.‘“ (GS 11, 555)
409
 Borchardt, so Adorno, habe die Sprache bis 
an den Rand ihres Zerspringens beschworen, und sie ihm „das Echo nicht 
versagt.“ Die Ausdrucksweise Borchardts bleibe in äußerster Nähe zu ihrem 
Gegenstand,  und  umgekehrt  „kristallisiert“  die  Substanz  der  Gegenstände 
sich an der Sprache, „als wäre es die wahre Sprache der jüdisch-mystischen 
Lehre.“ Diese enthält für Adorno das „Paradoxon unsinnlicher Anschauung“, 
die also zugleich etwas aussagt und rätselhaft bleibt, etwas zeigt, ohne dass 
es sichtbar würde. (a. a. O., 537) Es geht hier um die Vorstellung einer Spra-
che, die „mit dem tiefsten geistigen Wesen der Welt“ zusammenhängt, was 
die Kabbalisten freilich für das Hebräische reklamierten.
410
 Mir scheint, die 
Zuschreibung  „jüdisch-mystisch“  an  Borchardt  ist  einfach  diejenige  meta-
physischer Relevanz: Kabbala ist hier eine interpretative Chiffre, die Adorno 
an  Stellen  anführt,  die  seinen  ästhetischen  Messianismus  unterfüttern.  Sie 
kann  zugleich  für  den  gewaltigen  Ausdruck  der  Kunstwerke  wie  für  deren 
Rätselhaftigkeit oder die Flüchtigkeit ästhetischer Erfahrung stehen.
411
 Vom 
409 
Vgl. die Gedichte 
Tagelied und Als das geschlagene Russland Frieden schloss, in: Borchardt. Gedichte
S. 113, 186.
410 
Vgl. Scholem. 
Die jüdische Mystik. S. 19. Auf  den reichen Fundus kabbalistischer Sprach-
theorien kann hier leider nicht weiter eingegangen werden. Am Ende dieses Kapitels wird 
noch Adornos Modell des mystischen Namens behandelt. Scholems einschlägiger Vortrag 
von 1970 war Adorno freilich nicht bekannt.
411 
Die Zuschreibung Mystik verwendet Adorno aber auch kritisch: Rachmaninovs Musik etwa 
wird als Bestätigung der Tautologie gedeutet, weil sie „überhaupt nur noch“ sage: „es ist so. 
Daß man nicht weiß was, macht ihre russische Mystik aus.“ (GS 16, 286).


 
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„jüdischen Tonfall der Extase“ schreibt Adorno in 
Zur Schlußszene des Faust
„Sagt die mit Bedacht gewählte Bezeichnung Chorus mysticus in der Schluß-
strophe mehr als das vage Cliché einer Sonntagsmetaphysik, dann zitieren die 
Sachgehalte, mochte Goethe es wollen oder nicht, jüdische Mystik herbei.“ 
(GS 11, 132) Die beinahe trotzige Wendung „mochte Goethe es wollen oder 
nicht“  verweist  wie  das  Verb  herbeizitieren  auf   das  moderne  Sinnvakuum, 
in dem der Gedanke „Schutz bei Texten“ sucht und in „auslegender Versen-
kung“  an  deren  kritischer  Exegese  neue  Aussagegehalte  gewinnt,  in  denen 
sich das „ausgesparte Eigene“ entdeckt. (a. a. O., 129)
412
 Es geht also explizit 
um  Adornos,  nicht  Goethes  Intentionen.  Man  mag  diese  Apostrophierung 
der  genannten  Künstler  als  Mystiker  für  eine  überspannte  Deutung  halten, 
diese Überspannung jedoch wäre für Adornos Kunstdeutungen – wie für sein 
Denken überhaupt – konstitutiv. Er verfolgt Spuren, die er in den Kunstwer-
ken objektiv angelegt sieht, zuweilen ganz gegen die unterstellten Absichten 
des so interpretierten Künstlers – wenn er etwa über Beckett schreibt: „Es ist 
merkwürdig, daß diese Dinge in der Kunst eine metaphysische Gewalt haben, 
die ihren philosophischen Äquivalenten – Wittgenstein etwa, von dem Beckett 
offenbar sehr beeindruckt ist – mir gänzlich abzugehen scheint […].“
413
 In 
einem Aufsatz zu Schönberg spricht Adorno die objektive Grundlage dieser 
Interpretationsmaxime so aus: „Große Werke sind kenntlich an der Differenz 
dessen, was aus ihnen hervortritt, von ihrer eigenen Intention.“ (a. a. O., 455) 
Die  großen  Werke  sind  damit  ein  exemplarischer  Schauplatz  Adornoscher 
Theologie – Beispiel für etwas, das mehr ist, als es bloß ist. Sie durchbrechen 
die Immanenz des Faktischen. Im ästhetischen Schein zeigt sich mehr als die 
Botschaft, die dem einzelnen Kunstwerk zugedacht war, und zwar sowohl an 
unbewusst  eingeflossenen  gesellschaftlichen  Zuständen  als  auch  an  verbor-
genen theologischen Fingerzeigen.
Anstatt  Abraham  Abram. Die eben zitierte Beobachtung Adornos zum 
Faust II,  dessen  Schlussszene  jüdische  Mystik  herbeizitiere,  entzündet  sich 
an  einem  Detail,  nämlich  dem  Umstand,  dass  Goethe  einmal  Abram  statt 
412 
Vgl. GS 11, 129 und dazu Kapitel 5.2 im Abschnitt „Auslegende Versenkung in überlieferte 
Schriften“.
413 
Adorno an Werner Kraft, 21. Mai 1962 (TWAA, Br 810/32). Wittgenstein wird diese Be-
hauptung wohl kaum gerecht, vgl. zu beider Verhältnis Wiggershaus. 
Wittgenstein und Adorno
Demmerling. 
Sprache und Verdinglichung.


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