Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Abraham schreibt und damit scheinbar auf  die Umbenennung dieser Figur 
durch Gott (Gen. 17,5) anzuspielen scheint:
„In der Strophe der johanneischen Mulier Samaritana heißt es – abermals dem Vers 
zuliebe,  abermals  äußerste  Tugend  aus  Not  –  anstatt  Abraham  Abram  (12046). 
Im  Lichtfeld  des  exotischen  Namens  wird  aus  der  vertrauten,  von  zahllosen 
Assoziationen  überdeckten  Figur  aus  dem  Alten  Testament  jäh  der  östlich-
nomadische Stammesfürst. Die treue Erinnerung an ihn wird mit mächtigem Griff  
der kanonisierten Tradition entrissen. Das allzu gelobte Land wird gegenwärtige 
Vorwelt.  Ausgeweitet  über  die  zur  Idylle  geschrumpften  Patriarchenerzählungen 
hinaus, gewinnt sie Farbe und Kontur. Das auserwählte Volk ist jüdisch wie das Bild 
der Schönheit im dritten Akt griechisch.“ (GS 11, 132)
Adorno schreibt also einer sprachlichen Konstruktion inhaltliche Relevanz 
zu, eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung. Ob Goethe wollte oder 
nicht wird ebenso wie die traditionelle Deutung Abrahams sekundär, beides 
kulminiert  nach  Adornos  Assoziation  und  Setzung  im  Motiv  des  „östlich-
nomadischen Stammesfürsten“, der mitsamt dem alten Israel aus der „Vor-
welt“ einzubrechen scheint. Seine archaische Gestalt lässt die „kanonisierte 
Tradition“,  das  „allzu  gelobte  Land“,  also  die  gewohnte  Einordnung  und 
verklärte  Erinnerung  verblassen.  Die  Figur,  die  sich  da  konkretisiert,  sagt 
nicht „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, sondern 
steht für das Heilsversprechen, das dem Volk Israel gegeben wurde. Wie in 
Benjamins  Figur  des  Eingedenkens  scheint  das  „Lichtfeld“  dieses  Namens 
Gegenwart und Vergangenes plötzlich kommensurabel zu machen. Adorno 
lehnt dabei einmal mehr – mit „Farbe und Kontur“ – himmlisch-luftige Tran-
szendenz wie eingeschliffene symbolische Bedeutung ab und schlägt sich auf  
die Seite einer irdischen Erlösung: Der nomadische „Stammesfürst“ wäre eine 
ernüchternd diesseitige Gestalt im Reigen der Goetheschen Engelschöre. Die 
Rettung findet brachial statt und meint leibliche Menschen. „Nur im Gleich-
nis des Leibes ist der Begriff  des reinen Geistes überhaupt zu fassen, und es 
hebt ihn zugleich auf.“ (GS 4, 278) Diese Deutung Abrahams erinnert aber 
auch an Adornos wohl prägnanteste Bemerkung zu Jesus, die er zu Ostern 
1960  notierte:  „Das  Wort,  das  am  nachdrücklichsten  gegen  die  Göttlich-
keit Christi zeugt, ist das gleiche, das am nachdrücklichsten für seine Exis-
tenz spricht. Eli, eli, lema sabachtani erfindet sich nicht.“ ([vgl. Mk 15, 34; 
Mt 27, 46], FAB 8, 14) Der halbtote Heiland in seiner Gottverlassenheit und 


 
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der „Nomadenfürst“ vor dem Bund mit Gott sind wenig glamouröse, wenn 
nicht  unheilige  Heilige  –  vergänglich  wie  die  Menschen  und  höchstens  als 
solche mögliche Gegenstände von Hoffnung. Im Bann der Naturgeschichte 
wären  der  Nomade  und  der  Insasse  der  kapitalistischen  Moderne  ohnehin 
mehr  oder  weniger  Leidensgenossen.  Als  Möglichkeitsbedingung  seiner 
Interpretation von Goethes Abram setzt Adorno freilich den oben diskutier-
ten prozessualen Traditionsbegriff  voraus: Das Geoffenbarte spiegelt seine 
Wahrheit in äußerster, entfremdeter Ursprungsferne, indem der Kommentar 
es in eine neue Konstellation, in ein neues Verhältnis mit anderen Elementen 
bringt.
414
 Goethes Schlussszene interpretiert biblische Topoi, die in Adornos 
Kommentar weiter getrieben und dabei an fiktionale historische Figuren rück-
gebunden werden. So abenteuerlich also Adornos kabbalistische Kaperfahrt 
durch die Werke der von ihm derart interpretierten Künstler auch sein mag, er 
setzt hier konsequent um, was er unter Kabbala versteht.
Das Zerreißen des Schleiers. Der esoterisch-ekstatische Schluss des Faust 
und die darin auftretende Heerschar von himmlischen und heiligen Figuren 
beschäftigen Adorno auch an anderer Stelle. In seiner Monographie 
Mahler. 
Eine musikalische Physiognomik schreibt Adorno über Mahlers Faust-Musik in 
der  Achten  Symphonie:  „Die  überaus  inspirierte  es  moll-Einleitung  bringt 
den Mahlerschen Typus stufenlos von der Erde sich entfernender Harmonik 
zu sich selbst. Ihre potentielle Energie aktualisiert sich in den wild ergriffe-
nen Gesängen des Pater ecstaticus und des Pater profundus. Rätselhaft genug 
stellte  Mahler  der  Text  etwas  von  der  Farbe  kabbalistischer  Gewura  bei.“ 
(GS 13, 286) Das Gleiche schreibt er dem Goetheschen Original zu und nennt 
dabei ebenfalls die fünfte Sefira des kabbalistischen Lebensbaums, Gebura. 
Scholem beschreibt Gebura oder „Din“ als „‚Macht‘ Gottes, die sich vor allem 
als strafende oder richtende Gewalt darstellt.“
415
 Göttliche Gewalt, weniger 
im Sinne Benjamins als mit der Bedeutung eines überwältigenden Ergriffen-
werdens, hat Adorno auch großen Kunstwerken zugeschrieben. Diese Gewalt 
zeigt sich im ekstatischen Ausdruck, das Erhabene der Natur
416
 erhebt die 
ergriffene Kreatur:
414 
Vgl. Kapitel 5.1.
415 
Scholem. 
Die jüdische Mystik. S. 232.
416 
Im Hintergrund steht hier auch Adornos Rezeption des Naturschönen wie des Erhabenen in 
Kants Ästhetik und Hegels Kritik daran. (vgl. dazu GS 7, 97–121).


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„Der  jüdische  Tonfall  der  Ekstase,  rätselhaft  in  den  Text  verschlagen,  motiviert 
die Bewegung der Sphären jenes Himmels, der über Wald, Fels und Einöde sich 
eröffnet. Er ahmt die göttliche Gewalt in der Schöpfung nach. Der Ausruf  des 
Pater  ecstaticus:  ‚Pfeile,  durchdringet  mich,/Lanzen,  bezwinget  mich,/Keulen, 
zerschmettert mich,/Blitze, durchwettert mich!‘ (11858–61); vollends die Verse des 
Pater profundus: ‚O Gott! Beschwichtige die Gedanken,/Erleuchte mein bedürftig 
Herz!‘  (11888/9)  sind  die  einer  chassidischen  Stimme,  aus  der  kabbalistischen 
Potenz der Gewura. Das ist der ‚Bronn, zu dem schon weiland/Abram ließ die 
Herde  führen‘  (12045/6),  und  daran  hat  Mahlers  Komposition  in  der  Achten 
Symphonie sich entzündet.“ (GS 11, 132 f.)
Nicht nur die von Adorno kommentierte Goethe-Stelle, sondern auch seine 
eigene Interpretation wirkt ekstatisch, ja verzückt. Einmal mehr geht es um 
Sinnlichkeit: Hier scheint sich durch Phantasie ein Moment von „Eingeden-
ken der Natur im Subjekt“ zu vollziehen.
417
 (vgl. GS 2, 144) „Im Eingedenken 
an seine Naturhaftigkeit entragt es seiner Naturverfallenheit.“ (GS 11, 134) 
Nichts anderes dürfte die Zuschreibung einer „chassidischen Stimme“ bedeu-
ten. Im Chassidismus wurde auf  die gemeinschaftliche und persönliche reli-
giöse Erfahrung großen Wert gelegt, Scholem spricht sogar wenig freundlich 
von „primitivem Enthusiasmus“.
418
 Der – über die Feststellung, dass es hier 
um mystische Verzückung geht, hinaus – vielleicht aufschlussreichste Hinweis 
ist der auf  Mahlers Achte Symphonie. Diese Komposition hält Adorno für 
misslungen, aber eben darum für großartig: „Für ein paar Sekunden“, schreibt 
er  im  Mahler-Buch,  „wähnt  die  Symphonie,  es  sei  wirklich  geworden,  was 
ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel 
erhoffte.“ Hier sei das utopische Telos der Kunst verwirklicht, die bildlose 
Verheißung dessen „was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers“. (GS 13, 
153) Der ästhetische Ausdruck reicht demnach über die mythische Immanenz 
der Gesellschaft hinaus und nicht nur an das Naturhafte, sondern wahrhaft 
benjaminisch  ans  Kosmische.
419
  Der  richtende,  strafende  Aspekt  göttlicher 
417 
Vgl. zu diesem Motiv Kapitel 3.1 im Abschnitt „Natur“ sowie die Notizen zur Vergängnis in 
Kapitel 6.2.
418 
Scholem. 
Die jüdische Mystik. S. 367.
419 
In diesem Bild schwingt, wie der Bezug auf  die Gebura ebenso nahelegt wie das ‚Ewig Weib-
liche‘ Goethes, eine geschlechtssymbolische Komponente mit. Diese dürfte auch Reinhard 
Materns Versuch zugrundeliegen, in den Figurationen verführerisch-mythischer Weiblichkeit 
der Dialektik der Aufklärung einen Bezug auf  die Schechina zu finden. (vgl. Matern. 
Über 
Sprachgeschichte und Kabbala. S. 99 ff.).


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