Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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historischen  Prozeß,  als  Gehalt  von  Musik  sonst  übrig  bleiben  mag.  In  dem 
mikrologischen Hang, dem Vertrauen darauf, daß die Konstruktion eines erfüllten 
Augenblicks alle bloß abstrakt anbefohlene Entfaltung aufwiegt, hat Webern etwas 
mit Walter Benjamin gemein.“ (GS 16, 113)
Hegel hatte – wohl im Gedanken an den revolutionären Schrecken der Jako-
biner – geschrieben, dass keine historisch-politische Tat allgemeine Freiheit 
erzeugen könne. „Es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des 
Verschwindens.“
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 In Adornos Interpretation steht die gesamte Geschichte – 
und  auch  das  musikalische  Material  verarbeitet  deren  Verlauf   –  unter  dem 
Zugriff   dieser  Furie.  Der  Ausblick  auf   Freiheit  wird  immer  blasser  und 
die Perspektive einer befreiten Menschheit immer unwahrscheinlicher – sie 
‚schrumpft‘. Wenn die Furie sich in einen Engel verwandeln soll, handelt es sich 
also wieder um einen Versuch, die Möglichkeit von Erlösung nicht gegen diese 
prekäre Ausgangslage, sondern von ihr her wenigstens zu denken. Weberns 
Musik gelinge das antizipierend. Der Engel steht für jenen asymptotischen 
Vorschein von Versöhnung, wie er sich dem Hörer großer Musik im „erfüllten 
Augenblick“ darstellen mag. Das Flüchtige dieser erfüllten Erfahrung ist das 
der in der Immanenz verwehenden Metaphysik. Stehen die Beethoven’schen 
Engel nur negativ, qua total gewordener Vergängnis, als Platzhalter für Ver-
söhnung,  umhüllt  der  Webern’sche  jedoch  ein  gegenläufiges  Motiv:  Wie  in 
der metaphysischen Erfahrung tritt auch im „Hang“ zum Mikrologischen, das 
Adorno Webern zuschreibt, zum Leidens- das Glücksmoment hinzu, das nur 
als  selbst  vergängliches,  weil  vorübergehendes,  zu  haben  ist.  Der  Vergleich 
mit  Benjamins  „Engel  der  Geschichte“  (BGS  I.1,  697 f.)  liegt  nahe.  Mitge-
rissen von der Furie des historischen Verlaufs ist dieser den Trümmern der 
Vergangenheit zugewandt, will helfen und heilen, aber der Augenblick ist ihm 
verwehrt – nicht nur in Weberns Musik will Adorno diesen Augenblick den-
noch erahnen.
Umgebundene Flügel. Im letzten Kapitel von Kafkas unvollendeter Erzäh-
lung 
Der Verschollene 
407
  treten  bei  einer  großen,  fröhlichen  Künstlerfeier  im 
„Naturtheater  von  Oklahoma“  zur  Begrüßung  der  Gäste  hunderte  Statis-
tinnen als Engel verkleidet auf; mit wallenden Gewändern, Trompeten und 
406 
Hegel. 
Phänomenologie. S. 435.
407 
Adorno und Benjamin behandeln sie unter dem von Max Brod gewählten Titel 
Amerika.


 
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umgebundenen  Flügeln.
408
  Benjamin  deutet  diese  Szene  in  seinem  Kafka- 
Aufsatz von 1934 als Verklärung eines Kinderwunsches, „ländliche Kirmes“, 
die dem Kind hätte seine Trauer nehmen können – aber doch nur im Kon-
junktiv: „Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel 
vielleicht echte.“ (BGS II.2, 423) In seiner ausführlichen Antwort auf  diesen 
Aufsatz kommentierte Adorno den zitierten Satz wie folgt: „Die umgebunde-
nen Flügel der Engel sind kein Manko sondern ihr ‚Zug‘ – sie, der obsolete 
Schein, sind die Hoffnung selber und keine andere gibt es als diese.“ (BW 1, 
94) Wie bei den zitierten Stellen zu Beethoven und Webern wird hier wieder 
Prekäres und Hoffnungsloses zum einzigen verbliebenen Träger von Hoff-
nung  und  das  illusionslose  Eingeständnis  dieses  status  quo  zur  Bedingung 
der Möglichkeit, Hoffnung überhaupt denken zu können. Als „Rettung des 
Scheins“ wurde vielfach Adornos ästhetische Programmatik beschrieben. (vgl. 
GS 7, 164) Schon in den 
Minima Moralia liest man: „Die Wahrheit ist nicht 
zu scheiden von dem Wahn, daß aus den Figuren des Scheins einmal doch, 
scheinlos, die Rettung hervortrete.“ (GS 4, 138) Aber im Prinzip findet sich 
die dialektische Grundfigur dieser Einsicht bereits in Benjamins 
Goethes Wahl-
verwandtschaften: „Der schöne Schein“ als „Hülle vor dem notwendig verhüll-
testen. Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, 
sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle.“ (BGS I.1, 195) Die Engel 
bewirken Erlösung nicht, sondern stehen als scheinhafte, nie ganz greifbare 
Figuren für das Licht, das von ihr aus in den Stand der Unerlöstheit ausstrahlt. 
Das  Prekäre,  Vergängliche  und  Obsolete  ist  der  Erlösung  als  ihre  Erschei-
nungsform angemessen, da sie selbst eine prekäre, wenn nicht obsolete Hoff-
nung ist. Anders als momenthaft, vorübergehend und prekär ist der Anblick 
nicht  zu  haben,  das  verleiht  der  Figur  des  Engels  als  schrumpfender,  im 
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„Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf  dem 
Hunderte von Frauen, als Engel gekleidet, in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rü-
cken, auf  langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar auf  
dem Podium, sondern jede stand auf  einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn 
die langen wehenden Tücher der Engelkleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Posta-
mente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft 
aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar 
hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit 
keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwen-
det; es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen 
sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr 
glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen.“ (Kafka. 
Amerika. S. 306).


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