Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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Untersuchung,  weil  es  –  in  seinem  Gebrauch  durch  Adorno  –  im  engeren 
Sinne mystisch ist, also durchaus religiöse Erfahrung beinhaltet. Dabei schließt 
es  dezidiert  paradoxe  Konstruktionen  ein,  so  dass  es  sich  nur  andeutungs-
weise entschlüsseln lässt: „Wenn uns ein Engel einmal aus seiner Philosophie 
erzählte, es müßten wohl manche Sätze so klingen, als wie 2 mal 2 ist 13.“
397
Grasengel als Bild von Vergängnis und Versöhnung. An einer Stelle der 
Beethoven-Fragmente, die sich auf das Ende der geplanten Studie bezieht, ent-
faltet Adorno den ästhetischen Negativismus als Platzhalter der Hoffnung mit 
einem Bild aus dem 
Sohar:
„Den  Schluß  der  Arbeit  beziehen  auf   die  Lehre  der  jüdischen  Mystik  von  den 
Grasengeln, die für einen Augenblick geschaffen werden um im heiligen Feuer zu 
verlöschen. Musik – nach der Lobpreisung Gottes gebildet, auch und gerade wo sie 
gegen die Welt steht – gleicht diesen Engeln. Ihre Vergänglichkeit, das Ephemere, ist 
eben die Lobpreisung. Eben die immerwährende Vernichtung der Natur. Beethoven 
aber hat diese Figur zum musikalischen Selbstbewußtsein erhoben. Seine Wahrheit 
ist eben die Vernichtung alles Einzelnen. Er hat die absolute Vergänglichkeit der 
Musik auskomponiert.“ (NL I/1, 254)
Zunächst kurz zum Kontext. Das Motiv ist bekanntlich immer wieder auch 
bei  Benjamin  zu  finden,  der  seine  geplante  Zeitschrift 
Angelus Novus unter 
anderem  so  ankündigte:  „Werden  doch  sogar  nach  einer  talmudischen 
Legende die Engel – neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen – geschaf-
fen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen haben, aufzuhören 
und in Nichts zu vergehen.“ (BGS II.1, 241) Der 
Angelus Novus ist eine wich-
tige benjaminische Figur. Das gleichnamige, 1920 entstandene Gemälde Paul 
Klees erwarb er ein Jahr später bei Scholem in München und behandelte es 
als seinen „wichtigsten Besitz“: „Vom ersten Moment an faszinierte ihn Klees 
Bild aufs höchste und spielte in seinen Betrachtungen zwanzig Jahre lang eine 
bedeutungsvolle Rolle […].“
398
 Das zeigt sich an dem Titel der projektierten 
Zeitschrift  und  an  mehreren  durchaus  unterschiedlichen  Deutungen.  1921 
etwa wird der Angelus Novus als kabbalistischer Schutzengel interpretiert, 
im November 1927 als einer der Universität, 1933 inspiriert er die Aufzeich-
nungen zu 
Agesilaus Santander, schlussendlich findet Benjamin zum berühmten 
397 
So zitiert Adorno in seiner Husserl-Studie Georg Christoph Lichtenberg. (vgl. GS 5, 48).
398 
Scholem. 
Walter Benjamin und sein Engel. S. 45.


 
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„Engel  der  Geschichte.“
399
  Letzterem,  der  rückwärts  in  Richtung  Erlösung 
geweht wird, sich jedoch nicht zu ihr umdrehen kann, erscheint die Welt als 
wachsender „Trümmerhaufen“, dem er nicht beistehen kann – was präzise 
dem Blick inverser Theologie bei Adorno entspricht. Trotz all dieser Vorlagen 
verweist Adorno an der zitierten 
Beethoven-Stelle nicht auf Benjamin, sondern 
auf  jenen 
Sohar-Abschnitt, dessen deutsche Übersetzung durch Scholem er 
1939 gelesen hatte und sich nun eigenwillig aneignete.
400
 Im oben diskutierten 
Brief  dazu schrieb er an Scholem: „Noch möchte ich hinzufügen, daß mich 
die Vorstellung von den allzu vergänglichen Engeln aufs tiefste und merkwür-
digste  berührt  hat.“  Hieran  sei  ihm  der  Zusammenhang  von  Scholem  und 
Benjamin deutlich geworden. (BW 8, 11) Bei Adorno sind nun die im Feuer 
verlöschenden Engel als Bilder für die ihnen eigene absolute Vergänglichkeit 
zu verstehen, die Beethoven vollendet auskomponiert habe. Die „Frage aller 
Musik“ lautet nach einer weiteren Notiz zu Beethoven: „Wie kann ein Ganzes 
sein, ohne daß dem Einzelnen Gewalt angetan wird.“ (NL I/1, 62) Musik fragt 
also nach der Möglichkeit einer sozialen Organisation, die nicht unter dem 
Identitätszwang stünde. Freilich kann sie davon ebenfalls kein positives Bild 
malen. Beethovens Werk etwa weist nur in der völligen Negation auf  eine ver-
söhnte Beziehung von Ganzem und Einzelnem hin. Beethoven komponiert 
eben nicht den ewigen Frieden, sondern Vernichtung alles Einzelnen, vollen-
dete Vergänglichkeit – „Feuer, das Feuer verzehrt.“
401 
Aber dieses Scheitern ist 
zugleich Gelingen: Adorno hat das Motiv der „Vernichtung“ als „Nichtigkeit“ 
der musikalischen Einzelmomente in verschiedenen Bemerkungen zu Beetho-
ven wiederholt und zur Bestimmung von Ästhetik überhaupt erklärt.
402
 „Wäh-
rend Kunst dazu versucht ist, eine nicht existente Gesellschaft zu antizipieren 
[…], haftet ihr zugleich der Makel von dessen Nichtexistenz an […]. Paradox 
399 
Vgl. a. a. O. S. 38–43, 46–49.
400 
„Die Erde bringe Gras hervor, Kraut, das Samen sät. […] und ihrem Schoß entsprangen 
himmlische Kräfte und heilige Scharen, die die ‚Kinder des Glaubens‘ [die Frommen] zur 
geheimen Gestaltung bringen, wenn sie ihrem Herren dienen. Auf  dies Geheimnis deutet 
der Vers ‚der Gras für die Behema sprossen läßt‘ [Behema, eigentlich ‚das Tier‘ ist die vorher 
Erde genannte Schechina], die auch ‚das Tier, das auf  tausend Bergen lagert‘ [nach einem 
Schriftwort] heißt. Und diese ‚Berge‘ [die die Frommen sind] bringen täglich ihr Gras hervor. 
Und dies ‚Gras‘ – das sind die Engel, die nur für eine Weile Macht ausüben und am zweiten 
Tag erschaffen sind, um von jener Behema verzehrt zu werden [der Schechina], die ein Feuer 
ist, das Feuer verzehrt.“ (ders. 
Die Geheimnisse der Schöpfung. S. 70; die Anmerkungen in eckigen 
Klammern stammen von Scholem).
401 
Ebd.
402 
Vgl. Hinrichsen. 
Modellfall der Philosophie der Musik. S. 87.


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