Adorno und die Kabbala (Pri ha-Pardes; 9)



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6. Kunst und Kabbala
Über den Erfahrungsbegriff  ist Adornos Metaphysik direkt mit seiner Philo-
sophie der Kunst verbunden. Als er 1965 Proust als Beispiel für die metaphy-
sische Erfahrung heranzieht, erklärt er – wie oben bereits zitiert –, dass „die 
Trennung zwischen Kunst und der sogenannten Wissenschaft in der Sphäre, 
in der wir uns bewegen, vollkommen gegenstandslos“ sei. (NL IV/14, 218) Er 
bestreitet diese Trennung ebenso wenig wie die relative Inkommensurabilität 
von theoretischer, praktischer und ästhetischer Vernunft, hält sie aber für Fol-
geprodukte gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Hinter sie führt kein Weg zurück, 
auch eine archaisch-magische Einheit von Religion, Philosophie und Kunst 
lässt sich nicht restaurieren. (vgl. GS 11, 650) Adornos Ansatz für die philo-
sophische Reflexion auf  diese Grenzen ist, wie Martin Seel treffend ausführt, 
dass die „Differenzen von ihren Konvergenzen her begriffen werden sollten: 
von der Rücksicht auf  das an der Wirklichkeit, was Widerpart unserer begriff-
lichen Verfügungen ist.“
381
 Also auf  das Intentionslose in der entstellten Welt, 
das Nichtidentische, das begrifflich nicht vollständig zu erfassen ist und sich 
sonst höchstens in dem verspricht, was Seel „Adornos Philosophie der Kon-
templation“ und Adorno metaphysische Erfahrung nennt – worin „sich […] 
etwas mitteilt als ein sehr Bestimmtes, aber als eines, das dem Begriff  sich 
entzieht“, wie Adorno in der Vorlesung 
Ontologie und Dialektik zur „Erfahrung 
von  Musik“  und  zum  Rauschen  von  Bäumen  im  Wind  ausführt.  Eine  sol-
che Erfahrung sei es wohl, die Heidegger konkretistisch als eine des „Seins“ 
missverstanden habe. (NL IV/7, 274) Es geht hier letztlich um eine Form 
begriffsloser Erkenntnis, die Adorno öfter an der musikalischen, aber auch an 
der literarischen Erfahrung festmacht.
382
 Diese Orientierung am Ästhetischen 
prägt den Gestus seiner gesamten Philosophie: Ihr aphoristisches Schreiben 
baut darauf, Lesern Inhaltliches nicht bloß zu vermitteln, sondern es bereits in 
der Sprachform erfahrbar zu machen. Von diesem Ausgangspunkt her scheint 
381 
Seel. 
Adornos Philosophie der Kontemplation. S. 59.
382 
Vgl.  Wussow. 
Adorno über literarische Erkenntnis,  wogegen  Claussen.  Fußnoten zur Literatur
 Adornos Auslegung von Literatur vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Massen-
mords zu lesen mahnt, der ja in der Tat erst zur ‚auslegenden Versenkung in überlieferte 
Schriften‘  zwingt.  Siehe  dazu  Kapitel  5.2  im  gleichnamigen  Abschnitt  sowie  Tiedemann. 
Abenteuer anschauender Vernunft. S. 9 ff.


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erklärbar, dass sich in Adornos kunsttheoretischen bzw. analytischen Schriften 
seine vielleicht pointiertesten Rekurse auf  religiöse Figuren finden.
383
 Diese 
werden aus dem Ursprungskontext gerissen und dienen so als „unbegriffliche 
Begriffe“ oder „bilderlose Bilder“, nicht selten sind es eben wieder solche aus 
dem Gebiet der Kabbala.
6.1  Vorausgehende Reflexionen zu Kunst und Mystik bei Adorno
In den vorigen Kapiteln war meist die Rede von relativ allgemein bleibenden 
Verweisen Adornos auf  „die jüdische Mystik“. Sehr viel konkretere Motive 
tauchen  dagegen  vor  allem  in  den  musikalischen  Schriften  auf.  Auch  dies 
belegt, dass Adorno eine materiale Konvergenz der Gehalte von ästhetischer 
und  mystischer  bzw.  metaphysischer  Erfahrung  annimmt.  Dabei  steht  die 
Literatur nicht unbedingt in der Sache, aber offensichtlich von seinem Inte-
resse her deutlich hinter der Musik zurück. Letztere erscheint für die Suche 
nach  einer  nichtbegrifflichen  Sprache  aber  in  der  Tat  naheliegender  als  die 
im Medium des Wortes verbleibende Literatur. Steven Wasserstrom spricht 
sogar  davon,  dass  Adorno  „a  kind  of   musicological  kabbalah“  entwickelt 
habe.
384
 Das ist missverständlich – man hat es hier wieder mit Marginalien 
und Aphoristischem zu tun, nicht mit einer Theorie, die so geschlossen oder 
auch nur so ausformuliert vorliegt, dass sie diesen Ausdruck verdiente. Frag-
los hätte Adorno aber viel dafür gegeben, „a kind of  musicological kabba-
lah“ zu besitzen, jedenfalls schilderte er, dass Benjamin seine kabbalistische 
Inspiration „wie in guten musikalischen Variationen“ verberge (vgl. GS 10.1, 
244) und belegte Scholem mit der „brummigen Keuschheit“ von Musikern, 
„wenn sie gezwungen werden, von dem zu sprechen, was sie bewegt und 
was dem Wort widerstrebt.“ (GS 20.2, 484) Als er Scholem im Mai 1959 sein 
Buch 
Klangfiguren schickte, hoffte Adorno, es möge für den Kabbalaforscher 
„auf  eine vielleicht überraschende Art von Interesse sein.“ Um gleich anzu-
fügen: „Vergessen Sie übrigens nicht, mir, wenn sich die Gelegenheit bietet, 
einmal zugänglich zu machen, was Sie an musikalischen Spekulationen der 
jüdischen Mystik zusammengestellt haben.“ (BW 8, 177)
385
 Es ist bedauerlich, 
383 
Vgl. etwa Sziborsky. 
Rettung des Hoffnungslosen, Klein. Solidarität mit Metaphysik? – beide Arbei-
ten wenden sich materialen Analysen der Adornoschen Ästhetik zu und tragen dabei zurecht 
Grundsätzliches aus Adornos Metaphysik im Titel.
384 
Wasserstrom. 
Adorno’s Kabbalah. S. 72.
385 
Vgl. dazu Kapitel 6.2 im Abschnitt „Das Formgesetz des Schrumpfens“.


 
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dass Adorno die begehrten ästhetischen Implikationen und Ansätze kabbalis-
tischer Provenienz kaum gekannt haben dürfte.
386
 Vermutlich existierte eine 
solche Zusammenstellung Scholems jedenfalls nicht, er ist auf  die briefliche 
Bitte in seiner Antwort zumindest nicht eingegangen und betonte gelegentlich 
seine musikalische Inkompetenz, auch weil Adorno das Thema immer wieder 
anschnitt. Bereits 1957 hatte er Scholem etwa auf  den Berliner Theologen und 
Bach-Forscher Friedrich Smend (1893–1980) hingewiesen, der entdeckt habe, 
dass  Bachs  „h-moll-Messe  kein  Werk,  sondern  ein  ‚Sammelbuch‘  ist“.  Das 
habe „Gretel und mich so sehr an einen bestimmten Zug ihrer Arbeit erin-
nert […].“ Er glaube, dass Smend, „dessen philologisches Detektivgenie sich 
an der Vorstellung heiliger Texte gebildet hat, um dann diesen selber in die 
Parade zu fahren, Sie sehr ansprechen dürfte.“ (a. a. O., 166) Adorno erinnert 
hier zweifellos an den Fragment- und Kommentarcharakter der mystischen 
Tradition Scholems, an heilige Texte, die deutend negiert, denen „in die Parade 
gefahren“ werden muss. Man mag die Musikaffinität und den Versuch, mate-
riale Übereinstimmungen zwischen Mystik und ästhetischen Gehalten zu fin-
den, biographisch erklären. Gute Adorno-Biographien sind allerdings längst 
geschrieben worden und in der vorliegenden Studie wird auch kein musikwis-
senschaftlicher Nachvollzug der in Adornos Musikkritiken unterstellten mys-
tischen Züge Beethovens, Mahlers usw. angestrebt. Hier soll vielmehr versucht 
werden, die mystischen Metaphern als ebensolche zu zu betrachten.
Die  metaphysisch-messianischen  Fragen,  die  Adorno  bewegten,  finden 
sich also genauso auf  dem Gebiet der Kunst.
387
 Schelling folgend denkt er 
Kunst und Philosophie als komplementär.
388
 Seine Ästhetik zielt, indem sie 
Erkenntnis  im  Medium  der  Kunst  als  ohnmächtige  Opposition  gegen  das 
den Zwängen der kapitalistischen Vergesellschaftung entsprungene Denken 
in schematisierenden Begriffen stark macht, auf  transzendierende Potenziale. 
Insofern ist es ganz irrig, wenn behauptet wird, dass Adornos Beschäftigung 
mit religiösen Themen letztlich auf  eine Ästhetisierung der Theologie hinaus-
laufe.
389
 Eher ist das Gebiet der Ästhetik hier ein Rückzugsort der religiösen 
386 
Vgl. dazu u. a. Kilcher. 
Die Sprachtheorie der Kabbala, Busi. Beyond the Burden of  Idealism.
387 
Vgl. Wellmer. 
Wahrheit, Schein, Versöhnung.
388 
Vgl. Baum. 
Die Transzendierung des Mythos.
389 
Hans-Ernst Schiller ästhetisiert beispielsweise das Bilderverbot der kritischen Theorie zum 
„Begriff  der negativen Chiffre“, der er letztlich nur eine – eben ästhetische – Korrektiv-
funktion zuschreibt, ebenso habe die „Rettung“, von der Adorno spricht, „immer nur me-
taphorischen,  uneigentlichen  Charakter.“  (Schiller. 
Zergehende Transzendenz.  S. 82)  Rudolf 


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