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ETHMANN
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ANGEWIESCHE
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ITTELSTRA
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IMON
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TOCK
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ANIFEST
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EISTESWISSENSCHAFT
lichung von Studiengängen nach dem Bachelor- und Master-Modell darf keine
inhaltliche Vereinheitlichung erfolgen. Einheitliche EU-Normen für die Lehr-
inhalte wären ein Hemmnis für die Universitäten, spezifische Schwerpunkte
auszubilden, und für die Studierenden, ihr Studienprogramm variabel auf unter-
schiedliche Berufsfelder abzustimmen.
Im Zentrum eines Universitätsstudiums sollte schon in der BA-Phase die Schu-
lung in den methodischen Grundlagen stehen. Das ist die wichtigste Mitgift
der Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer, die nicht für bestimmte Be-
rufsfelder ausbilden: methodische Schulung als Voraussetzung für eine allge-
meine Problemlösungskompetenz auf der Grundlage wissenschaftlichen Den-
kens und der Kenntnis der dafür notwendigen fachspezifischen Verfahren. Da-
mit läßt sich zugleich das universitäre BA-Studium von dem stärker berufs-
feldbezogenen BA-Studium an der Fachhochschule abgrenzen. Eine klare Auf-
gabenteilung zwischen Universität und Fachhochschule, wie sie der Wissen-
schaftsrat empfohlen hatte, verbunden mit einer Verlagerung anwendungsbe-
zogener Fächer und Studiengänge an die Fachschule, würde beiden Seiten
nutzen.
• Für die Geisteswissenschaften (und nicht nur für sie) ist die heutige Per-
sonalstruktur der deutschen Universität ein historischer Ballast. Sie kennt nur
,Lehrlinge‘ und ,Direktoren‘ – Assistenten und Professoren. Dazwischen gibt
es (fast) nichts. Wer den Sprung über diesen Graben nicht schafft, gilt als
gescheitert und muß die Universität verlassen. Das ist unvernünftig, vernichtet
Lebensentwürfe und vergeudet Ressourcen. Daß dies nicht so sein muß, lehrt
die Vielfalt angesehener selbständiger Positionen unterhalb der Professur, über
die britische Universitäten verfügen. Sie sind auf Lehre und Forschung aus-
gerichtet, ohne daß der Schritt zur Professur notwendig wäre. Wer nicht Pro-
fessor wird, ist nicht und gilt nicht als gescheitert. Mit der Juniorprofessur war
ein Schritt in diese Richtung geplant, doch er ging nicht weit genug. Erfor-
derlich ist hier keine kleine Korrektur, sondern ein radikaler Bruch, um die
Universität auch in diesem Bereich endlich darauf einzustellen, daß sie seit
langem ein Großbetrieb geworden ist, der eine stärker differenzierte Perso-
nalstruktur benötigt.
5.2 Exzellenzzentren an Universitäten
In den USA (auch in einigen europäischen Ländern) gibt es an jeder Univer-
sität, die etwas auf sich hält, ein Institute for Advanced Study, vornehme kleine
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HAINOMENA
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Forschungseinheiten, in denen jenes nationen-, fach- und disziplinenübergrei-
fende Gespräch gepflegt wird, aus dem die gedankliche Innovation entstehen
kann. Der französische Romancier Michel Houellebecq hat diesem Gespräch
den Erfolg der berühmten Kopenagener Schule im Umkreis von Niels Bohr
und seiner Nobelpreisschmiede zugeschrieben. In seinem Landhaus Tilsvilde
empfing Niels Bohr “Wissenschaftler aus anderen Fachrichtungen, Politiker,
Künstler; die Gespräche verliefen in zwanglosen Bahnen, von der Physik zur
Philosophie, von der Geschichte zur Kunst, von der Religion zu Alltäglichem.
Seit den Anfängen der griechischen Philosophie hatte es nichts Vergleichbares
gegeben; in diesem außergewöhnlichen Kontext wurden in den Jahren 1925
bis 1927 die grundlegenden Begriffe der
,Kopenhagener Deutung‘ formuliert,
die die bestehenden Kategorien Raum, Kausalität und Zeit weitgehend auf-
hoben”.
Das ist eine ungefähre Beschreibung
des Grundprinzips jener Institutes for
Advanced Study, die hier vorgeschlagen werden. Dieses Prinzip beruht auf dem
Dialog und kommt damit der Arbeitsweise der Geisteswissenschaften ideal
entgegen. Wissenschaftler können sich – ganz oder teilweise freigestellt von
anderen Verpflichtungen – Forschungen widmen, die das interdisziplinäre Ge-
spräch, nicht jedoch aufwendige Projektstrukturen benötigen. Man tritt auf Zeit
aus dem Alltagsgeschäft, nicht jedoch aus der Universität heraus. In Verbindung
mit Promotionskollegs bleibt die Einheit von Forschung und Lehre erhalten;
Nachwuchswissenschaftlergruppen könnten hinzukommen.
Die Absicht, Zeiten konzentrierter Forschung zu ermöglichen, teilen diese
Zentren mit den Wissenschaftskollegs, die in Berlin und Delmenhorst bestehen,
mit dem Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und dem
Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Frankreich verfügt mit den Maisons des Sciences
des Hommes über solche Einrichtungen; in Stanford und Princeton haben die
Institutes for Advanced Studies im Bereich der Geisteswissenschaften Weltruf
erlangt; in Budapest und Bukarest suchen Institute wie das von Andrei Plesu
gegründete New Europe College neue Eliten in den Ländern der Transition zu
begründen. Die enge Einbindung in die Universität, gekoppelt mit der Ein-
richtung in Konkurrenz und auf Zeit, unterscheidet die vorgeschlagenen Zen-
tren jedoch von allen anderen.
Angesichts des erhebliche Defizits, das im Bereich geisteswissenschaftlicher
Gemeinschaftsforschung gegenüber den USA besteht, sollten mindestens zehn
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