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ETHMANN
, L
ANGEWIESCHE
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ITTELSTRA
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IMON
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TOCK
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ANIFEST
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EISTESWISSENSCHAFT
senschaftlicher Forschung Ausschau zu halten und gleichzeitig dafür Sorge zu
tragen, daß daraus positive Rückkopplungseffekte an die Universitäten ent-
stehen.
5. Vorschläge für eine aufgabenbezogene Reorganisation der Geisteswis-
senschaften
Aus den dargestellten wissenschaftstheoretischen Gründen, ihrem vorherr-
schenden Selbstverständnis und der unklaren Beziehung zwischen universitärer
und außeruniversitärer geisteswissenschaftlicher Forschung ergibt sich für die
Geisteswissenschaften das Erfordernis einer grundlegenden Reorganisation.
Wo die Gefahr droht, an den Rand der wissenschaftlichen Entwicklung zu
geraten, hilft nicht nur ein verändertes und gestärktes Selbstverständnis weiter;
es bedarf auch organisatorischer Maßnahmen, um dieser Gefahr zu wehren.
Dazu die folgenden Vorschläge.
5.1 Bestand und Erneuerung
• Forschung erschließt Neuland. Deshalb kann die Forschungsuniversität nicht
in einem festen Bestand etablierter Fächer verharren. Bislang kamen neue
Fächer oder Teilfächer in aller Regel zu schon bestehenden hinzu. Dies ent-
spricht einerseits in dieser Form nicht der zunehmenden transdisziplinären
Orientierung in den Wissenschaften, scheint andererseits aber auch politisch
nicht mehr gewollt zu sein. Unter den Bedingungen stagnierender oder schrum-
pfender Etats muß Neues bezahlt werden, indem Altes gekürzt oder aufgegeben
wird. In der politischen Debatte wird diese Zwangslage, in welche die staatliche
Haushaltspolitik die Universitäten bringt, mit der Aufforderung zur Profil-
bildung sprachlich verhüllt. Von dieser Entwicklung sind auch die Geistes-
wissenschaften betroffen.
• Aufbau von Neuem durch Aufgabe von Bestehendem bedrängt die Geistes-
wissenschaften weit stärker als die Naturwissenschaften, weil in den Geistes-
wissenschaften neue Einsichten häufig frühere nicht überholen. So gehört zum
Fortschritt in den Geisteswissenschaften der ständige Dialog mit Einsichten
der Vergangenheit. Alter entwertet nicht; Aristoteles bleibt in der Philosophie
als ein systematischer Zugang, Gegenwartsprobleme zu erörtern, stets gegen-
wärtig. Neues auf Kosten des Bestehenden an der Universität zu institutio-
nalisieren, kann deshalb in den Geisteswissenschaften mit der Zerstörung ihrer
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Grundlagen einhergehen. Dieses Problem läßt sich auch durch Profilbildung
nicht lösen, wenngleich diese durchaus sinnvoll sein kann. Die Entscheidung
darüber darf jedoch nicht nach Effizienzkriterien getroffen werden, die aus-
schließlich quantitativen Gesichtspunkten (Zahl der Studierenden, Höhe der
Drittmittel …) folgen. Die so genannten Kleinen Fächer an einigen wenigen
Orten zu konzentrieren, kann diesen Fächern schaden und hätte für die Uni-
versitäten, die leer ausgehen, einen schweren Verlust für Forschung und Lehre
zur Folge; im Dialog der geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre kann
auf sie nicht verzichtet werden. Das muß bei der Bildung von Zentren, mit
denen die Leistungskraft der so genannten Kleinen Fächer in der Lehre wie in
der Forschung – Fähigkeit zu größeren fächer- und disziplinenübergreifenden
Projekten trotz schmaler Personalausstattung – gestärkt werden kann, beachtet
werden.
• Forschung führt zur Spezialisierung, doch die Lehre sollte dies in den Studien-
und Prüfungsordnungen nicht unmittelbar abbilden.
Lehre aus Forschung und
forschendes Lernen verlangen nicht, jede Forschungsspezialität in der Lehre
institutionell zu verankern. Die gesetzlich verfügte Neuordnung des Univer-
sitätsstudiums in drei aufeinander aufbauende Phasen mit je eigenen Abschlüs-
sen – BA, MA und Promotion – sollte genutzt werden, die geisteswissen-
schaftlichen Studiengänge so zu reformieren, daß Grenzüberschreitungen des
jeweiligen Fachs ermöglicht werden. Ziel sollte sein, in der Forschung das
Gespräch und in der Studienorganisation die Kooperation mit denjenigen Fä-
chern zu suchen, die arbeitsteilig fachlich und methodisch erweiternde Kom-
petenzen beisteuern können. Welche Fächer das sein werden, wird in den Uni-
versitäten unterschiedlich sein, je nach institutionellem Ausbau am jeweiligen
Ort. Es wird zu Spezialisierungen kommen, die auf die spezifischen Möglich-
keiten der einzelnen Universität zugeschnitten sind. Unverzichtbar ist dabei,
neben dem Prinzip Lehre aus Forschung das Prinzip des forschenden Lernens
beizubehalten und zu stärken, denn es befähigt zum lebenslangen Lernen. Im
Studium zu lernen, sich mit ungelösten Problemen auseinanderzusetzen und
nach ungewohnten Lösungen zu suchen, ist die beste Berufsvorbereitung in
einer Zeit, die überliefertes Wissen schneller als je zuvor entwertet. Wer zu
forschendem Lernen nicht in der Lage ist, eignet sich nicht für ein Studium an
der Universität.
• Die Leitlinie aller Studienreformen muß sein, ein Höchstmaß an Flexibilität
für die konkrete Ausrichtung des Studiums zu eröffnen. Über die Vereinheit-
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