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der „Nomadenfürst“ vor dem Bund mit Gott sind wenig glamouröse, wenn
nicht unheilige Heilige – vergänglich wie die Menschen und höchstens als
solche mögliche Gegenstände von Hoffnung. Im Bann der Naturgeschichte
wären der Nomade und der Insasse der kapitalistischen Moderne ohnehin
mehr oder weniger Leidensgenossen. Als Möglichkeitsbedingung seiner
Interpretation von Goethes Abram setzt Adorno freilich den oben diskutier-
ten prozessualen Traditionsbegriff voraus: Das Geoffenbarte spiegelt seine
Wahrheit in äußerster, entfremdeter Ursprungsferne, indem der Kommentar
es in eine neue Konstellation, in ein neues Verhältnis mit anderen Elementen
bringt.
414
Goethes Schlussszene interpretiert biblische Topoi, die in Adornos
Kommentar weiter getrieben und dabei an fiktionale historische Figuren rück-
gebunden werden. So abenteuerlich also Adornos kabbalistische Kaperfahrt
durch die Werke der von ihm derart interpretierten Künstler auch sein mag, er
setzt
hier konsequent um, was er unter Kabbala versteht.
Das Zerreißen des Schleiers. Der esoterisch-ekstatische
Schluss des Faust
und die darin auftretende Heerschar von himmlischen und heiligen Figuren
beschäftigen Adorno auch an anderer Stelle. In seiner Monographie
Mahler.
Eine musikalische Physiognomik schreibt Adorno über Mahlers Faust-Musik in
der Achten Symphonie: „Die überaus inspirierte es moll-Einleitung bringt
den Mahlerschen Typus stufenlos von der Erde sich entfernender Harmonik
zu sich selbst. Ihre potentielle Energie aktualisiert sich in den wild ergriffe-
nen Gesängen des Pater ecstaticus und des Pater profundus. Rätselhaft genug
stellte Mahler der Text etwas von der Farbe kabbalistischer Gewura bei.“
(GS 13, 286) Das Gleiche schreibt er dem Goetheschen Original zu und nennt
dabei ebenfalls die fünfte Sefira des kabbalistischen Lebensbaums, Gebura.
Scholem beschreibt Gebura oder „Din“ als „‚Macht‘ Gottes, die sich vor allem
als strafende oder richtende Gewalt darstellt.“
415
Göttliche Gewalt, weniger
im Sinne Benjamins als mit der Bedeutung eines überwältigenden Ergriffen-
werdens, hat Adorno auch großen Kunstwerken zugeschrieben. Diese Gewalt
zeigt sich
im ekstatischen Ausdruck, das
Erhabene der Natur
416
erhebt die
ergriffene Kreatur:
414
Vgl. Kapitel 5.1.
415
Scholem.
Die jüdische Mystik. S. 232.
416
Im Hintergrund steht hier auch Adornos Rezeption des Naturschönen wie des Erhabenen in
Kants Ästhetik und Hegels Kritik daran. (vgl. dazu GS 7, 97–121).
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„Der jüdische Tonfall der Ekstase, rätselhaft in den Text verschlagen, motiviert
die Bewegung der Sphären jenes Himmels, der über Wald, Fels und Einöde sich
eröffnet. Er ahmt die göttliche Gewalt in der Schöpfung nach. Der Ausruf des
Pater ecstaticus: ‚Pfeile, durchdringet mich,/Lanzen, bezwinget mich,/Keulen,
zerschmettert mich,/Blitze, durchwettert mich!‘ (11858–61); vollends die Verse des
Pater profundus: ‚O Gott! Beschwichtige die Gedanken,/Erleuchte mein bedürftig
Herz!‘ (11888/9) sind die einer chassidischen Stimme, aus der kabbalistischen
Potenz der Gewura. Das ist der ‚Bronn, zu dem schon weiland/Abram ließ die
Herde führen‘ (12045/6), und daran hat Mahlers Komposition in der Achten
Symphonie sich entzündet.“ (GS 11, 132 f.)
Nicht nur die von Adorno kommentierte Goethe-Stelle, sondern auch seine
eigene Interpretation wirkt ekstatisch, ja verzückt. Einmal mehr geht es um
Sinnlichkeit: Hier scheint sich durch Phantasie ein Moment von „Eingeden-
ken der Natur im Subjekt“ zu vollziehen.
417
(vgl. GS 2, 144) „Im Eingedenken
an seine Naturhaftigkeit entragt es seiner Naturverfallenheit.“ (GS 11, 134)
Nichts anderes dürfte die Zuschreibung einer „chassidischen Stimme“ bedeu-
ten. Im Chassidismus wurde auf die gemeinschaftliche und persönliche reli-
giöse Erfahrung großen Wert gelegt, Scholem spricht sogar wenig freundlich
von „primitivem Enthusiasmus“.
418
Der – über die Feststellung, dass es hier
um mystische Verzückung geht, hinaus – vielleicht aufschlussreichste Hinweis
ist der auf Mahlers Achte Symphonie. Diese Komposition hält Adorno für
misslungen, aber eben darum für großartig: „Für ein paar Sekunden“, schreibt
er im Mahler-Buch, „wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was
ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel
erhoffte.“ Hier sei das utopische Telos der Kunst verwirklicht, die bildlose
Verheißung dessen „was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers“. (GS 13,
153) Der ästhetische Ausdruck reicht demnach über die mythische Immanenz
der Gesellschaft hinaus und nicht nur an das Naturhafte, sondern wahrhaft
benjaminisch ans Kosmische.
419
Der richtende, strafende Aspekt göttlicher
417
Vgl. zu diesem Motiv Kapitel 3.1 im Abschnitt „Natur“ sowie die Notizen zur Vergängnis in
Kapitel 6.2.
418
Scholem.
Die jüdische Mystik. S. 367.
419
In diesem Bild schwingt, wie der Bezug auf die Gebura ebenso nahelegt wie das ‚Ewig Weib-
liche‘ Goethes, eine geschlechtssymbolische Komponente mit. Diese dürfte auch Reinhard
Materns Versuch zugrundeliegen, in den Figurationen verführerisch-mythischer Weiblichkeit
der Dialektik der Aufklärung einen Bezug auf die Schechina zu finden. (vgl. Matern.
Über
Sprachgeschichte und Kabbala. S. 99 ff.).